BERLIN/HANNOVER (BLK) – Novalis war Spezialist für Bergbautechnik, Goethe brachte eine Farbenlehre heraus. Wie verhalten sich Natur- und Geisteswissenschaften zueinander, geht das eine ohne das andere und muss man sich eigentlich entscheiden? Im Januar diesen Jahres verstarb die dänische Lyrikerin Inger Christensen, die durch ihr Studium der Mathematik, Chemie und Medizin starke Impulse für ihre Dichtung erfuhr – so bezog sie sich in dem Gedicht „alphabet“ auf die Fibonacci-Reihe. Ein solch naturwissenschaftlicher Einfluss ist auch in den Gedichten der Lyrikerin Sylvia Geist zu finden. Ein Gespräch der „Berliner Literaturkritik“ mit der Autorin über den Weg von der Chemie zur Lyrik, den Austausch zwischen den Disziplinen und die Bedeutung der Aprikosenbäume.
BLK: Sie studierten neben Germanistik und Kunstgeschichte Chemie – wohnen da zwei Seelen in Ihrer Brust? Wie bringen Sie das zusammen? Geht das eine ohne das andere?
Sylvia Geist: Nein, ich glaube nicht, dass da zwei Seelen sind. Für Chemie begann ich mich aus ähnlichen Gründen zu interessieren wie für Gedichte, aus Neugier auf die Dinge und ihre Beschaffenheit. Zum Glück kann man Freude an Gedichten haben, ohne Formeln zu mögen und umgekehrt, aber es mag wohl eine ferne Verwandtschaft zwischen den Sprachen geben. Formel wie Gedicht versuchen, ihren Gegenstand adäquat zum Ausdruck zu bringen oder sich ihm anzunähern, beide sind in gewisser Weise hermetisch, nicht um der Hermetik willen, sondern als „Verdichtung“, als Genauigkeit und Konzentration, und beide können eine erhellende Kraft entfalten.
BLK: Der ehemalige Direktor der Technologiestiftung Schleswig-Holstein Klaus Friebe behauptete einmal: „Es verstehen entschieden mehr Naturwissenschaftler etwas von den Geisteswissenschaften als anders herum.“ Haben Sie auch diese Erfahrung gemacht?
Geist: Vielleicht lesen mehr Naturwissenschaftler Gedichte als umgekehrt Germanisten sich in die „Medical Tribune“ vertiefen (obwohl ich mir dessen gar nicht so sicher bin). Aber wieviel versteht man deshalb von der jeweils anderen Disziplin? Es kommt sicher auch auf die einzelne Fachrichtung an. Die mathematische Version von Exaktheit nützt in der Philosophie, heißt es, in der Logik, aber weniger beim Umgang mit literarischen Texten. Hier kommen andere Methoden ins Spiel, eine andere Form von Genauigkeit, die die Gegenstände und deren Bewertungen eher einkreisen und ausbalancieren muss, ein Für und Wider, dem man mit der Berufung auf exakte Größen, etwa auf historische Daten oder sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, allein nicht beikommt. Es bedarf einer Diskursivität auch und gerade mit sich selbst, immer wieder auch die Kategorien betreffend, mit denen man arbeitet. Natürlich gilt das auch in der Naturwissenschaft, jedoch nicht auf Grundstudiumsniveau. In der Geisteswissenschaft ist das Erste, womit man konfrontiert wird, ein Zweifel, der weit übers Methodische hinausreicht.
BLK: Wie hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen in letzter Zeit entwickelt und was ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Geist: Für eine Prognose reicht mein Kenntnisstand nicht aus, aber ich könnte mir vorstellen, dass interdisziplinäre Begegnungen, wie sie an Universitäten und auch außerhalb des rein akademischen Rahmens stattfinden, weiter an Bedeutung gewinnen werden. Vor einigen Jahren führten der Hirnforscher Wolf Singer und der Philosoph Lutz Wingert ein Gespräch über den freien Willen und das „moderne Menschenbild.“ Das Menschenbild, wie es von Singer auf Grundlage seiner These vom freien Willen als moralisch intendierter Fiktion entworfen wird, ist ein durchaus humanes – doch ist das eine Selbstverständlichkeit? Es will mir scheinen, dass wir dazu neigen, eher aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Konsequenzen für unser Menschenbild zu ziehen, als umgekehrt die Vorstellungen vom Menschen, wie sie nicht zuletzt in der Dichtung verhandelt werden, zum Maßstab naturwissenschaftlicher Anwendungen zu machen. Der Mensch in seiner Hinfälligkeit mag in der Medizin im Mittelpunkt stehen, aber inwieweit trifft das auf die Physik oder die Neurobiologie zu? Was macht mich aus, eine Ansammlung von Zellen, wie komplex und vernetzt auch immer, deren Potenzial und Funktionstüchtigkeit? Wären wir gut beraten, wenn wir unser Menschenbild immer mehr als etwas sähen, das vornehmlich durch die Naturwissenschaften zu bestimmen und durch Entwicklungen zum Beispiel in der Neurobiologie veränderbar ist? Der Wunsch, unsere Möglichkeiten zu erweitern, gehört zu dem, was uns ausmacht, ich meine nicht, dass wir hinter die Errungenschaften der letzten fünfzig oder auch nur zehn Jahre zurückkönnen oder sollen, nur sollten wir der Naturwissenschaft auch nicht zuviel zumuten. Auch darum ist der Austausch zwischen den Disziplinen so wichtig.
BLK: Der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera provozierte einen Streit unter Gelehrten mit seinem Credo: „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie.“ Was kann man gegen eine gegenseitige Arroganz tun?
Geist: Man kann versuchen, das eigene Gedächtnis und die Phantasie lebendig zu halten. Die Evolutionsbiologie kann Aufschluss darüber geben, worin bestimmte Verhaltensreflexe wurzeln oder wieso Pferde keine Flügel haben. Zu der Frage, wie wir solche Reflexe überwinden, die für unsere Vorfahren noch nützlich waren, uns heute aber schaden, oder wie Pegasus in der menschlichen Vorstellung Gestalt annahm, haben die Geisteswissenschaften etwas beizutragen.
„Es geht nicht um das Experiment, glaube ich, sondern darum, ob und was es uns erhellt.“
BLK: Die dänische Lyrikerin Inger Christensen absolvierte ein Studium der Chemie, Mathematik und Medizin – Beide kommen Sie aus den Naturwissenschaften und landeten in der Lyrik, ein ungewöhnlicher Weg!
Wie kommt man von der Chemie zur Lyrik? Auf welche Widerstände stößt man da?
Geist: Gedichte habe ich erst gehört, dann gelesen und irgendwann eben angefangen, welche zu schreiben. Aber es ist gut möglich, dass ich damit aufgehört hätte, hätte ich nicht einmal in der handlichen Papptafel mit dem Periodensystem der Elemente statt „Schalen“ Verslinien gesehen. Auch Titel standen dabei: Gold, Sauerstoff, Uran. Ich dachte, das Rutherford’sche Atommodell könnte ein Maß für Umfang und Form von Strophe und Zeile sein, und fing an, mit dieser Setzung zu arbeiten. Rhythmisch und syntaktisch habe ich das als befreiend empfunden, Widerstände gab es in anderer Hinsicht. Ich habe mich den Elementen unter einem Vorzeichen zugewandt, das sich mit einem Satz von Flaubert übers Schreiben umreißen lässt: „... eine köstliche Angelegenheit! nicht mehr man selber sein.“ Allmählich merkte ich aber, dass die schreibende Beschäftigung mit einem Stoff mich als Individuum keineswegs neutralisierte, dass es so auch nicht gehen konnte. Was ihn für mich zu einem poetischen Gegenstand macht, hat mit meinen Eindrücken, meinem Verhältnis zur Wirklichkeit zu tun. Eigentlich eine typische Reiseerfahrung: man nimmt sich überallhin mit, doch mit der Zeit kann man lernen, sich nicht zu sehr zur Last zu fallen.
BLK: Inwiefern wurden Sie in Ihrer Arbeit von Christensen beeinflusst? Wie wurden Sie auf die Lyrikerin aufmerksam?
Geist: Ich erfuhr von Inger Christensens „alphabet“, als ich 1993 oder 1994 der Lyrikerin Lioba Happel die ersten Gedichte aus meinem Zyklus zeigte. Hätte ich vorher darum gewusst, hätte ich mich auf meinen Versuch vermutlich gar nicht eingelassen. Ein paar Jahre später hörte ich eine Lesung Christensens und wagte nun endlich auch, ihre Gedichte zu lesen. Welchen Gewinn ich daraus zog, kann ich mit poetologischen Begriffen schwerlich erfassen. Lesend teilte sich mir etwas mit, dem man sich vielleicht vor allem und zuerst im Leben annähern muss, ein Blick auf die Welt, der von Kenntnis und Liebe gleich tief geprägt ist, ein Wissen um den Wert der Dinge, das man nicht erlernen, sondern nur erfahren kann.
BLK: Was sind die Unterschiede/Gemeinsamkeiten in der Art der Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Disziplinen zwischen Ihrem Werk und dem von Inger Christensen?
Geist: Vielleicht gibt es eine Ähnlichkeit hinsichtlich einer Affinität zur ästhetischen Qualität der Zahl. Bei mir beschränkt sich das allerdings auf ein Gefühl der Hingezogenheit, ich verstehe nichts von Mathematik. Dem „alphabet“ und dem Zyklus, an dem ich arbeite, dem „Periodischen Gesang“, liegen Ordnungsprinzipien zugrunde, die aus der Dynamik von Reihen schöpfen. Doch die Fibonacci-Reihe ist komplexer, während das Periodensystems ein Modell ist, das die Elemente zunächst (auf der Ebene der „Perioden“) in schlichten Einerschritten ansteigend anordnet und dazu einen bestimmten Ausschnitt der physikalischen Realität ins Auge fasst.
Mathematiker haben „ausgezeichnete Voraussetzungen“ experimentelle Lyrik zu verstehen
BLK: Welchen Beitrag hat Inger Christensen Ihrer Meinung nach für die experimentelle Lyrik geleistet?
Geist: Es geht nicht um das Experiment, glaube ich, sondern darum, ob und was es uns erhellt. Inger Christensens Werk ist nicht deshalb immens, weil es zeigt, wie fruchtbar eine bestimmte Form für den sprachlichen Ausdruck sein kann, wie dynamisch überhaupt formale Setzungen wirken können, oder weil sie an das Geheimnis zwischen Zahl und Wort erinnern, die beide nicht nur Vorstellungen konstituieren und Verhältnisse zum Ausdruck bringen, sondern sie weiterdenken, weiterträumen können. Diese Aspekte sind von Bedeutung. Aber das Wunderbare an dieser Dichtung ist doch, dass ihre Form ja gerade deshalb zu uns spricht, weil sie hinter das zurücktritt, wovon in ihr gesprochen wird, dass sie wirkt wie ein Teleskop, das, wenn wir hineinblicken, selbst gleichsam unsichtbar wird.
BLK: Man versteht das „alphabet“ also auch dann, wenn man keine Ahnung von Mathe hat?
Geist: Es gibt sicher Schönheiten, die sich einem nur dann ganz erschließen, wenn man eine Ahnung von Verhältnismäßigkeiten, Balancen, Verschiebungen hat, wie sie in der Mathematik beschrieben werden, und in dieser Hinsicht bin ich selbst wohl nahezu blind. Aber Zahlenverhältnisse haben immer auch eine musikalische Seite – an einem ihrer Wirkungsenden sozusagen – und das äußert sich in Inger Christensens Sprache in überwältigender Weise. Ich glaube auch nicht, dass die Durchdringung der Fibonacci-Reihe einem das „alphabet“ näher brächte, wenn einem das Gefühl für Klang und Rhythmus abginge. Was das Verstehen von Gedichten betrifft, könnte man aber von der Mathematik lernen, etwa indem man sie sich als unlösbare Probleme denkt, oder als Vorschlag zu einer möglichen Geometrie: das Gedicht als Raum, den man auf mehr als eine Art betrachten und deuten kann.
BLK: Umgekehrt: Versteht ein Mathematiker zeitgenössische/experimentelle Lyrik?
Geist: Er hat auf jeden Fall ausgezeichnete Voraussetzungen.
BLK: Zum Schluss: Haben Sie einen Lieblingsvers und wenn ja, welchen?
Geist: Ich möchte keinen Vers favorisieren. Aber ich habe mich manchmal gefragt, wieso die Wiederholung des Satzes „die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es“ so kraftvoll ist. So notwendig, wie auf das Ein- das Ausatmen folgt: der Vers holt mich zu sich, zu den Wörtern – und schickt mich mit den gleichen Wörtern wieder zurück, zu den Aprikosenbäumen, die ich kenne. Auf meine, auf Ihre Erinnerung an sie beruft sich der Vers, deshalb kann auf jede Beschreibung verzichtet werden. Ebenso nachdrücklich beruft er sich darauf, dass die Bäume immer noch dort draußen sind, an konkreten Orten, jetzt, in diesem Moment. Es gibt sie in der Dichtung, weil es sie außerhalb dieses Radius gibt. Das hört sich selbstverständlicher an, als es ist, auch davon spricht der Vers. Als läge zwischen den ersten und den zweiten Aprikosenbäumen die Strecke einer Odyssee, in deren Verlauf erfahren wurde, wie wenig selbstverständlich irgendetwas ist, dass diese Welt fragil ist, gefährdet, aber trotz allem da. Was könnte wichtiger oder schöner sein, als daran erinnert zu werden?
BLK: Ich danke vielmals für das Gespräch!
Das Interview führte „BLK“-Autorin Mona Leitner.
Sylvia Geist wurde 1962 in Berlin geboren und lebt als freie Schriftstellerin in der Nähe von Hannover. Im März 2009 erschien ihr neuer Gedichtband „Vor dem Wetter“ im Luftschacht Verlag.
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