Von Roland H. Wiegenstein
Der Kriminalkommissar Salvo Montalbano, der in Vigàta ermittelt, einer fiktiven Kleinstadt auf Sizilien, erschaffen nach dem Modell von Porto Empedocle bei Agrigent, ist auch deutschen Krimilesern inzwischen vertraut. (In Italien gerät jeder Camilleri-Roman unweigerlich sofort nach seinem Erscheinen auf die Beststellerliste und hält sich dort monatelang.)
Camilleri, 1925 in jenem Porto Empedocle geboren, ein Theaterregisseur und Fernsehproduzent, der erst im reifen Alter von über vierzig Jahren zu schreiben begann (für sein erstes Buch brauchte er noch über ein Jahr und mehrere Fassungen), hat seitdem rund fünfundzwanzig Bücher geschrieben: nicht nur Kriminalgeschichten, sondern auch historische Romane, die meisten seiner Hervorbringungen sind inzwischen bei nicht weniger als drei Verlagen auch deutsch erschienen.
Unpolitische Geschichte
Im "Kavalier der späten Stunde", so schreibt er beruhigend selbst, "spielt die Mafia überhaupt keine Rolle". In der Tat, nachdem er sich in der "Stunde des Patriarchen" ziemlich nah an das organisierte Verbrechen und vor allem an seine politischen Implikationen herangewagt hatte, ist das, was der Bastei-Lübbe Verlag "Montalbanos sechsten Fall" nennt, eine ganz und gar unpolitische Geschichte.
Es geht um einen Betrüger, der den kleinen Leuten in Vigàta und Umgebung, begünstigt durch den Aktienhype der späten neunziger Jahre, ihre Ersparnisse gegen die Zusicherung märchenhafter Zinsen entlockt und der, nachdem er anderthalb Jahre lang treulich seine zwanzig Prozent aufs eingezahlte Kapital ausgezahlt hat, plötzlich verschwindet, zusammen mit seinem besten Mitarbeiter. Eigentlich ein Fall fürs Betrugsdezernat, dessen Chef Guarnotta, den "Commisssario Montalbano" zu Recht für einen Dummkopf hält. Also mischt er sich ein, ermittelt auf eigene Faust und löst das Rätsel mit der ihm eigenen Mischung von Intuition, Schläue und riskanten Manövern, die in keinem Handbuch über ordnungsgemäße Polizeiarbeit verzeichnet sind.
Das ganze Personal des Kommissariats ist wieder vertreten, vom Stellvertreter Augello, der es nicht lassen kann, jungen Damen nachzustellen, über den Inspektor Fazio mit seinem "Meldeamtskomplex" bis hin zum beschränkten Catarella, der als Telefonist zwar eine Katastrophe ist, aber erstaunlicherweise mit Computern umgehen kann. Und dazu natürlich eine neue Galerie absonderlicher Typen, auf deren Beschreibung Camilleri viel Sorgfalt verwendet.
Wie ein starker Espresso
Freilich wirkt manches in diesem "sechsten Fall" ein wenig klischiert. Der Autor beherrscht sein Handwerk inzwischen so perfekt, dass er sich derlei einfach gestattet, zumal er, als er diesen Roman im Jahr 2001 veröffentlichte, schon mit anderen Dingen dringlicher beschäftigt war: mit seinem großen historischen Roman "König Zosimo" (inzwischen deutsch beim Wagenbach Verlag erschienen und gewiss sein bedeutendstes Buch). Und mit den politischen Verhältnissen in Italien, die ihn so tief beunruhigen, dass er sich dazu mehrfach zu Wort gemeldet hat: mit kurzen Satiren, einem weiteren "Montalbano"-Krimi, der düster ist wie keiner zuvor, mit Aufsätzen in Zeitschriften, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
"Der Kavalier der späten Stunde" ist eine Art Divertimento, in dem ein besorgter Zeitgenosse 250 Seiten lang wegdrängt, was ihn eigentlich bewegt. Und wenn intelligente Leute etwas zum Zeitvertreib schreiben (und weil seine Leser Neues von diesem Commissario wissen wollen, dessen Abenteuer, auf TV-Format eingedampft, im italienischen Fernsehen "Quote machen"), so achten sie darauf, dass es möglichst komisch wird. Komisch ist dieser Roman sehr.
Passend übersetzt
Das hat die Übersetzerin Christiane von Bechtolsheim dazu verführt, sich weiter als je zuvor vom italienischen Original zu entfernen. Sie weiß natürlich, dass die literarische Qualität von Camilleris Büchern in ihrem Stil aufgehoben ist, diesem merkwürdigen Gemisch aus Hochitalienisch und sizilianischem Dialekt (manche sagen, das sei gar kein "Dialekt", sondern eine eigene Sprache), das der Autor immer ausschweifender benutzt ("König Zosimo" und ein weiterer, 2003 erschienener historischer Roman sind nur noch in diesem Sizilianisch geschrieben, was ihre Lektüre für alle, die nicht auf der Insel wohnen, zwar schwerer macht, aber die linguistischen Fähigkeiten des Autors ins schönste Licht setzt.) Das ist ins Deutsche nicht zu retten, also hat Bechtolsheim es mit einem alltagssprachlichen Gemisch probiert, das seine Vokabeln und Wendungen ungescheut von Pausenhöfen und TV-Vorabend-Serien bezieht. Diesen Jargon setzt sie frech und fröhlich ein und diesmal passt es, sorgt für zusätzliche Komik und den "modernen" Ton, den der Achtundsiebzigjährige so natürlich nicht verwendet. Er hat subtilere Mittel.
So ist ein witziger Krimi entstanden, den man konsumiert wie einen starken Espresso und dessen überraschender Schluss auch erfahrene Kenner des Genres verblüfft.
Hinweis: Im Heft 60 von "Lettre International" (Sommer 2003) ist ein ausführlicher Essay von Roland H. Wiegenstein zu Camilleri und seinem Gesamtwerk erschienen: "Insel und Festland – Andrea Camilleri und seine sizilianische Comédie humaine".
Literaturangaben:
CAMILLERI, ANDREA: Der Kavalier der späten Stunde. Commissario Montalbanos sechster Fall. Bastei-Lübbe Taschenbuch, Bergisch Gladbach 2003. 252 S., €8,90.