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In Paris fand sie ihre eigene Bildsprache

Eine Biografie über Paula Modersohn-Becker, die ihr Menschsein verwirklichen wollte

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 25.04.08

 

Als sie 1907 mit 31 Jahren starb, da wusste kaum ein Zeitgenosse, dass sie einst zu den Avantgardisten der modernen Kunst zählen würde. In der Stille und fast verborgen vor den Blicken ihrer Mitmenschen hatte sie innerhalb von 7 Jahren ein Werk geschaffen, das sie neben die großen „Väter“ der Moderne stellen sollte, gleichrangig neben Cézanne, van Gogh und Gauguin. Es umfasst über 600 Studien und Gemälde und mehr als 1000 Zeichnungen. Zu ihren Lebzeiten wurden Bilder von ihr nur in zwei Ausstellungen gezeigt. Ein einziges Bild hat sie an eine außen stehende Person verkauft, nur wenige an eng verbundene Freunde. Auf Grund ihres frühen Todes hat man lange ihr Werk für bruchstückhaft, für unvollendet gehalten. Heute weiß man, dass es wirklich „vollendet“ war.

Erst nach ihrem Tode ist ihr Werk einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Es entstand eine Art Mythos, der sich eng mit der Romantik der Worpsweder Künstlerkolonie verband. Für viele wurde sie zur Heimat verbundenen Malerin der Worpsweder Landschaft, der erdverbundenen Armen und Alten dieser Gegend, der Darstellung von Kind und Mutterschaft schlechthin. Aber es war nicht mehr das Erlebnis Worpswede, das sie letztlich formte, es waren die Eindrücke, die sie während ihrer mehrmaligen Aufenthalte in Paris empfing und die ihre Suche nach der großen Form und nach Einfachheit prägten.

Zum 100. Todestag (20. November 2007) dieser außergewöhnlichen Frau und Künstlerin hat die Publizistin und Autorin Kerstin Decker, von Hause aus promovierte Philosophin, eine Biografie geschrieben, die in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist. Sie nimmt Paula Modersohn-Beckers Sehnsuchtwort von der „Schwesterseele“ ernst, bekennt sich zu ihr, deren Werk herb und spröde ist, alles andere als lieblich, schön oder entgegenkommend. Sie spürt den Lebenslinien dieser Frau nach, die sich unnachgiebig um Einheit jenseits der eigenen Subjektivität bemüht hat und diese auf einer höheren, überpersönlichen Ebene fand, auf einer Seinsebene, die jenseits der Oberfläche der Dinge liegt. Paula Modersohn-Becker wollte ihr Menschsein verwirklichen, als Frau, als Mutter, als Künstlerin.

Kerstin Decker setzt ein mit Paula Modersohn-Beckers abermaligem – nunmehr viertem – Aufenthalt 1906 in Paris. Die Künstlerin steht am 25. Mai vor dem Spiegel ihres kleinen Ateliers in der Avenue du Maine und malt sich selbst, als Halbakt. Den Kopf leicht zur Seite geneigt. Eine Bernsteinkette hängt bis zu den Brüsten herab. Ihr Unterleib ist gewölbt wie bei einer Schwangerschaft. Schützend hat sie ihre Hände über und unter den Leib gelegt. Rechts unten stehen die Worte: „Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstag. P.B.“ Stellt das Porträt eine Selbstprüfung dar, die auf eine zu diesem Zeitpunkt noch nicht getroffene Entscheidung zwischen Künstlerleben und Ehedasein voraus weist? Ist die angedeutete Schwangerschaft als Zeichen für Zukunft und Hoffnung, aber auch für Verletzbarkeit anzusehen? Kerstin Deckers Urteil: „Sie trägt ihr Kind aus – ihre Kunst...Ja, sie hat sich ein Kind gewünscht. Und hat sich für das Kunst-Kind entschieden“. Der Hautton und der Tapetenton in diesem Selbstporträt gehen ineinander über. Das hat Modersohn-Becker von den neuen Franzosen gelernt, von Cézanne ´vor allem, „die Dinge so aussehen zu lassen, als wären sie alle aus demselben Stoff gemacht“, so Decker. Aber Modersohn-Becker ist in dieser Welthauptstadt der Maler eine Malerin, die noch niemand kennt. An Rainer Maria Rilke hatte sie vor Antritt ihrer Reise nach Paris geschrieben: „Ich bin Ich, und hoffe es immer zu werden. Das ist wohl das Endziel von allem unsern Ringen“. Der Dreißigjährigen bleiben jetzt gerade noch 18 Monate zu leben. Und Rilke wird, dieses Selbstporträt vor seinen Augen, der verstorbenen Freundin in einem Gedicht nachsinnen: „Und sahst dich selbst zuletzt wie eine Frucht, / nahmst dich heraus aus deinen Kleidern, trugst / dich vor den Spiegel, ließest dich hinein / bis auf dein Schauen; das blieb groß davor / und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist“.

Mit diesem Wende- und Umschlagspunkt im Leben der Malerin hat sich Kerstin Decker eine Ausgangssituation geschaffen, die Biografie nicht chronologisch, sondern nach rückwärts und nach vorn zu erzählen. Begegnungen mit Personen komplexhaft zusammenzufassen, Erlebnisse und Erfahrungen der Malerin nachwirken zu lassen, auf Zäsuren und Einschnitte in ihrem Leben zu verweisen. Es ist ja nicht einfach, die Daten der Biografie –Kindheit, Jugend, die Leidenschaft zum Zeichnen und Malen, Studium, Lebensstationen, Liebe und Freundschaft, Ehe und Tod – zusammenzubinden, die sich verflüchtigen, auflösen, weil es ja darum gar nicht geht. Nur für Augenblicke – in wesentlichen Szenen – vermag sich das Bild zu verdichten. Lücken bleiben, als Lücken auch von Kerstin Decker gekennzeichnet. Die Geschichte des Suchens nach Paula M.-B. ist auch die von Mutmaßungen, Möglichkeiten, Denk-Entwürfen wie von Bewusstseins-Spiegelungen, die die Autorin immer wieder vornimmt.

Unmittelbar nach dem 41. Geburtstag ihres Mannes Otto Modersohn war Paula 1906 aus Worpswede nach Paris geflohen und hatte einen einsamen, traurigen Mann zurückgelassen. „Es ist der schönste Mai ihres Lebens“, beschreibt Decker die Aufbruchsstimmung der Malerin. Das schon genannte Selbstporträt - ein Manifest der Befreiung zu sich selbst: „Ich bin Ich“. Der erste Besuch bei dem Bildhauer Bernhard Hoetger und dessen Gegenbesuch in Paulas Atelier. Hoetger erkannte die Qualität ihrer Bilder und stärkte ihr Selbstvertrauen. Was sich da in den vergangenen Jahren angestaut hatte, brach nun in einem gewaltigen Schaffensrausch aus ihr heraus.

Dann Rückblende zum ersten Paris-Aufenthalt 1900, nachdem ihre erste Ausstellung mit Studien der Worpsweder Armenhäusler in der Bremer Kunsthalle höchstes Missfallen erregt hatte. Auch ihr Vater mochte die Worpsweder „Hängebäuche“ nicht. Wieder ein Schritt weiter zurück: Paulas Vater, ein pensionierter Eisenbahninspektor, hat die 16jährige Tochter Paula zu einer Halbschwester nach London geschickt, „um alles zu lernen, was ein Mädchen in ihrem Alter und für den Rest des Lebens wissen musste“. Aber hier hatte sie Zeichenunterricht genommen, den sie später bei dem strengen Urworpsweder Fritz Mackensen fortsetzen sollte. Und nun ist ihr 1900 von der Pariser Akademie Cola Rossi – nach noch nicht einmal zwei Monaten – eine Medaille zugesprochen worden.

Nach ihrer Rückkehr aus Paris hatte sie auf einem Bauernhof bei Worpswede ein Atelier gefunden, „ihren liebsten Platz auf Erden“. Den Freunden Otto Modersohn und Heinrich Vogeler, des Herren des Barkenhoffs, der „Schwesternseele“ Clara Westhoff gesellte sich Rilke hinzu, der gerade von seiner Russland-Reise zurückgekehrt war. Das war die Barkenhoff-Gemeinde, die sich selbst „die Familie“ nannte. Doch dann sollte die Familie heiraten: Vogeler heiratete Martha, Modersohn Paula und Rilke Clara Westhoff.

Dem zunächst heimlich Verlobten Otto Modersohn hatte Paula noch verwehrt, die „tiefrote Rose (zu) pflücken“. Er, der Maler des „immer-noch-Kleineren“, sollte dann befremdet vor Paulas „Riesenleibern“ stehen. Modersohn hatte – so Decker - seinen Kreis schon fast vollendet, Paula sollte seinen Kreis bald darauf wieder verlassen. Aber trafen sich beide nicht auch in der Vorstellung von einer neuen „Stimmungsmalerei“, in der „nicht äußere, sondern innere Größe“ vorherrschend sein sollte? Haben sie nicht beide vor den gleichen Motiven in der Worpsweder Landschaft gearbeitet, so dass man Mühe hat, ihre Werke aus dieser Zeit des gemeinsamen Schaffens auseinander zu halten? Denn auch Otto Modersohn ließ sich durchaus von der leidenschaftlichen Malerei seiner Frau packen: „Einheit, Zusammenhang, Klang…Alles aus Liebe zum Ganzen, nicht aus Liebe zum Einzelnen…Lieber das Kleinste groß malen als das Größte klein“. Erst als sie ihre lebensgroßen Akte und Köpfe in radikaler Vereinfachung malte, Körper und Glieder zu Farbträgern umwandelte, verweigerte er ihr sein Verständnis.

„Sprechend werden am anderen. Wenige konnten so gut wie Rilke einem Du Spiegel sein“, schreibt Kerstin Decker – der Dichter wurde der Malerin zur „Spiegelseele“. Als Rilke plötzlich aus Worpswede abgereist war – Lou Andreas-Salomé hatte ihn nach Berlin gerufen –, schien auch die Seelenfreundschaft mit Paula unterbrochen. War Lou Rilkes „mütterliche Geliebte“, wie Biografen immer wieder sagen? Decker hat eine einfache Erklärung: Lous Verlust war ihm, dem Unbeheimateten, ja Unbeheimatbaren, der Verlust von Heimat. „Die Schoßnatur ist Heimat, ist Schutz“. Zwar konnte ihm dann Clara Westhoff Lou nicht ersetzen. Aber sie war in dem, was Paula ihre „braune Riesenhaftigkeit“ nannte, ein „Naturereignis von einer Frau“, die „Verkörperung von Schoßnatur“, sie war Obdach für Rilke. Sechs Jahre später – Clara und er werden dann nur noch eine Briefehe führen – wird sie ihm ein wenig Worpsweder Heidekraut nach Paris schicken. Rilke hatte das Alleinsein gewählt, er war ein Unbehauster, ein „Unbehausbarer“ geworden.

Rilke und Paula Modersohn-Becker - „zwei Wiedergeborene in Paris“. Paula malt im Juni 1906 sein Porträt in erschütternder Kargheit. Mit diesem maskenhaften Bildnis fordert sie den Dichter gleichsam auf, zum Gefäß des Dichterischen, zum Künder von Urworten zu werden. Da steht unerwartet ihr Mann Otto Modersohn vor der Tür. Er will sie nicht nach Hause holen, er will mit ihr – auch hier in Paris - „wieder einen gemeinsamen Raum bilden“. Würde ihnen das noch einmal gelingen wie vor 6 Jahren in Paris? Bereits nach einer Woche verlässt er die Stadt, die Trennung scheint endgültig, auch wenn Paula ein Wiedersehen im September nicht ausgeschlossen hat. Und die Heimkehr Paulas sollte dann auch wirklich erfolgen, sie begann Stillleben zu malen, wie ja auch ihre Porträts schon immer Still-Leben gewesen waren. „Rücksichtslos und geradeaus malend“, wird es Rilke nennen, „Dinge, die sehr worpswedisch sind und die doch nie einer sehen und malen konnte“.

Aber noch befindet sich Paula in Paris. Sie malte in diesem Frühjahr 1906 noch immer die großen Akte, die Otto schon in Worpswede nicht mochte. Räume malte sie, das Intime als geteilter, zwischen Menschen und Dingen erzeugter Raum. Da ist eine tiefe Verwandtschaft, stellt Kerstin Decker fest, zwischen dem Dichten Rilkes und Paulas Malerei, beide haben ihren „Weltinnenraum“ gebildet, einen beseelten Raum also, seit jenem September von 1900 in Worpswede. Anfang September 1906 ist sie bereit, in die Ehe und nach Worpswede zurückzukehren. Otto Modersohn kommt für den Winter nach Paris. Im März 1907 sieht sie noch die Cézannes der Sammlung Pellerin, dann erfolgt ihre Rückkehr nach Worpswede. Anfang November wird ihre Tochter Mathilde geboren, und 18 Tage später stirbt sie durch Embolie. Im Dezember findet die erste große Ausstellung Paula Modersohn-Beckers in Bremen statt – mit Bildern aus ihrem Worpsweder Atelier, die für Heinrich Vogeler und Otto Modersohn „die Entdeckung einer Welt“ waren. Mit Rilkes „Requiem für eine Freundin“, ein Jahr nach ihrem Tode geschrieben, endet das Buch.

Kerstin Decker hat gründlich Paulas Briefe und Tagebücher ausgewertet, sie bezieht die Aufzeichnungen der Paula nahe stehenden Personen ein, vor allem auch Rilkes Briefe und Gedichte an sie. Sie erzählt aus der Sicht ihrer Hauptgestalt und zugleich bricht sich das Geschehen in den Reflexionen des Autoren-Ich über ihre Ich-Figur. Die Gegenwartshandlung tritt immer wieder zurück, alles ist darauf gerichtet, die Lebensgeschichte der Modersohn-Becker in ihren Längs- und Querverbindungen zutage zu fördern. Dabei handhabt Kerstin Becker souverän die modernen Erzählmittel: die springende, gleitende Erzählperspektive, den Wechsel der Zeitebenen, die Nachbildung von Filmeffekten, den Traum und Wachtraum, die Einblendung von Dokumentarischem und die Fiktion des Berichtes. Nicht so sehr die kunsthistorische Analyse und Wertung von Modersohn-Beckers Werk steht im Mittelpunkt, sondern die Beziehungen, die sich aus dem Nachdenken über ein Lebensschicksal ergeben, die Spannungen und deren Auflösung oder eher Nichtauflösung. Gewissheit und Festlegungen gehen bei einer solchen Erzählstruktur natürlich verloren. Der Leser wird in Unruhe versetzt, da er sich bei einer solchen Leseaufgabe selbst mit einbeziehen, sich finden oder zu sich selbst kommen muss. Die Suche nach dem Ich bei der Suche nach dem Du ist das Zentrum dieser faszinierenden Künstlerbiografie.

Literaturangaben:
DECKER, KERSTIN: Paula Modersohn-Becker. Eine Biografie. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 288 S., mit 8 S. Farbabbildung, 19,90 €.

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Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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