Die schottische Autorin A.L. (Alison Louise) Kennedy ist mittlerweile dafür bekannt, dass keines ihrer Bücher ist wie das andere. Mit ihren frühen Romanen erarbeitete sie sich einen Ruf als Spezialistin für qualvoll misslingende Beziehungen zwischen den Geschlechtern, dann folgte ein Buch über den Stierkampf, ein Entwicklungsroman („Alles was du brauchst“) und ein Roman über Alkoholismus („Paradies“).
Dass Kräutertee das stärkste Getränk ist, das die Autorin zu sich nimmt, deutet auf einen Sachverhalt hin, der ebenso typisch ist für Kennedy: Sie schreibt häufig über Themen, die ihr selbst als Person fern liegen und die sie umso sorgfältiger recherchiert. Schreiben ist für sie eine existenzielle Grenzüberschreitung, eine Möglichkeit, fremde Erfahrungen für sich selbst und für die Leser nachvollziehbar zu machen. Sie verwandelt sich fremde, oft exemplarische Schicksale an, ohne ihre Distanz vollständig aufzugeben. Das Ergebnis sind Romane, die ihre Themen stets auffällig differenziert, gleichzeitig aber auch hochpoetisch behandeln.
Es überrascht daher kaum, dass A. L. Kennedys neuer Roman „Day“ alle diese Vorgaben erfüllt. Er handelt von einem Soldaten der Royal Air Force, von seinen Erfahrungen als Bordschütze im Einsatz über deutschen Städten im Zweiten Weltkrieg, und von den Ängsten und Traumata, die er dabei davonträgt, und die erst nach Kriegsende in vollem Umfang zum Vorschein kommen. Eine Männerdomäne also, in die sich Kennedy hier furchtlos begibt – ein Tabubruch sicherlich, obwohl es eine Binsenweisheit ist, dass man nicht dabei gewesen sein muss, um gut über etwas schreiben zu können.
Wenn man noch dazu weiß, dass die Autorin unter heftiger Flugangst leidet, sich aber während der Recherche trotzdem nicht scheute, in historische Bomber zu klettern, um herauszufinden, wie sich ihr Protagonist beim Fliegen gefühlt haben mag, dann hat man eine ungefähre Vorstellung von der psychischen und physischen Kompromisslosigkeit, mit der Kennedy ihre literarischen Ziele verfolgt.
Erzählt wird die Geschichte des Bordschützen Alfred Day aus der mittelenglischen Provinz, der sich bei Kriegseintritt freiwillig meldet, um seinem tyrannischen Vater zu entfliehen. Zusammen mit seiner Crew, einer Art Ersatzfamilie, besteht seine Aufgabe darin, deutsche Städte zu bombardieren. Dass das keine Arbeit ist wie jede andere und auch nichts mit Rache gegenüber den Deutschen zu tun hat, wird beim Einsatz über Hamburg deutlich: „Einsatz siebenundzwanzig war der schlimmste. Der war unser Untergang. Als sie uns zwei Tage später wieder hinbefahlen, und wir gehorchten. ‚Herrgott, man kann es schon von hier aus sehen.’ ‚Sei still.’ ‚Glüht immer noch.’ ‚Sei still.’ ‚Brennt immer noch.’ ‚Die armen Schweine.’ Wir sind wieder hingeflogen und haben sie noch einmal bombardiert.“ Am Ende ist Alfreds Flugzeug abgeschossen, seine Crew tot und er selbst Kriegsgefangener in einem deutschen Lager.
Dazwischen geschnitten ist eine zweite Zeitebene, ein paar Jahre nach Kriegsende. Alfred spielt jetzt, zusammen mit weiteren ehemaligen Kriegsgefangenen, als Statist in einem englischen Spielfilm mit, einem so genannten „tunnel movie“, der vom Leben und von den Fluchtversuchen britischer Kriegsgefangener in einem deutschen Lager handelt. Eine Verdopplung der Situation also, die den Protagonisten unmittelbar mit seiner Vergangenheit konfrontiert und ihn dazu zwingt, sich mit den moralischen Implikationen seiner Situation als ehemaliger Soldat auseinander zu setzen.
Diese Erzählkonstruktion verrät, dass der Roman neben dem Hauptthema Krieg noch ein weiteres zentrales Thema besitzt: die Erinnerung. Die erzählerischen Mittel, derer sich A. L. Kennedy bedient – eine Mischung aus Ich-Erzählung und Selbstgespräch, zwischen Präsens und Präteritum wechselnd – thematisieren Fragen wie: Welche Anteile meiner Person gehören wirklich zu mir, welche sind mir von außen auferlegt worden? Ist es der psychischen Gesundheit nicht manchmal zuträglicher zu vergessen, anstatt sich zu erinnern? Oder konkreter: Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Persönlichkeit eines Menschen? Kann man sich von derartig traumatischen Erfahrungen jemals erholen?
In gewisser Weise ist Kennedys Roman typisch britisch: Die Populärkultur Großbritanniens nämlich ist von einer beinahe obsessiven Faszination vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Die „tunnel movies“, in denen sich Kriegsgefangene mit Hilfe von Löffeln aus deutschen Lagern graben, gibt es in großer Zahl, obwohl in Wirklichkeit nur sehr wenigen die Flucht auch tatsächlich gelang. Auch dass ehemalige Soldaten als Statisten in Filmen mitwirkten und sich auf diese Weise dem Lagerdasein erneut aussetzten, war in den fünfziger Jahren keine Seltenheit. Wie in „Day“ gab es tatsächlich Fälle, in denen diese Statisten in nachgebauten Filmkulissen-Lagern wieder zwanghaft begannen, Tunnel zu graben.
Typisch britisch ist der Roman auch insofern als ein deutscher Autor ihn nicht hätte schreiben können, ohne in den Verdacht der Kriegsverherrlichung zu geraten – immerhin geht es auch um Kameradschaft, Männerfreundschaft und Familienersatz beim Militär. Im Nachkriegsdeutschland halfen der Zwang zur Sicherung des täglichen Überlebens und später der rasante Wiederaufbau dabei, die seelischen Erschütterungen, die Schuldgefühle und Skrupel zu verdrängen. Alfred Day dagegen ist jemand, der aus dem Krieg nach Hause kommt und feststellen muss, dass ihm die Fähigkeit, sich im zivilen Leben zurechtzufinden, abhanden gekommen ist. Wie A.L. Kennedy zeigt, gab es traumatische Kriegserlebnisse und bleibende Verstörungen auch bei den anderen beteiligten Nationen.
Aus diesem Grund ist „Day“ ein Buch, das auch ganz allgemein vom Krieg handelt. Es zeigt, dass man, ganz egal, wer gegen wen kämpft und warum, mit dem Täter-Opfer-Schema nicht besonders weit kommt. Sondern dass im Krieg – egal ob auf Gewinner- oder Verliererseite – immer einer am meisten leidet: der Mensch. In diesem Sinn lässt sich der Roman auch als Kommentar zu aktuellen Kriegen lesen.
Ein bemerkenswert differenzierter Beitrag also zu einem komplexen Thema, das gleichermaßen historisch und gegenwärtig ist. In einer bewundernswert kunstvollen Sprache, wie immer gekonnt von Ingo Herzke ins Deutsche übertragen, wird die Düsternis dieses Themas kontrastiert durch eine für A.L. Kennedy ganz und gar untypische, sehr zarte und anrührende Liebesgeschichte. Untypisch deshalb, weil sie nicht in einem Desaster endet – ein kleiner Hoffnungsschimmer am Ende, ein Hinweis darauf, was der Mensch dem Krieg entgegen zu setzen hat.
Literaturangaben:
KENNEDY, A.L.: Day. Roman. Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 350 S., 22,90 €.
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