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Wettbewerb Literatur.digital 2001
zur ÜbersichtAnmerkungen zu einigen Beiträgen

Linearer Text und mediales Setting

Die Callas-Box

Andreas Louis Seyerlein



Von einem möglichen Tieftauchrekord von 300 Metern ist die Rede, denn der 21 jährige Sagan verfügt über ein Lungenvolumen von 14 Litern, wobei die gentechnische Veränderung der Architektur seines Blutplasmas von Sagan weiterhin energisch bestritten wird. Ob die Teilnehmer des Design-Marathon 2032 Veränderungen des Lungenvolumens oder des Muskelgewebes vorgenommen haben, wird man indess an ihrem Quellcode feststellen.

Auch die anderen Nachrichten dieses Tages im Jahres 2028 malen ein düstere Bild der Zukunft: In Lybien sind ölfressende Bakterien in ein Ölfeld eingedrungen, in Amerika werden Schauspieler entführt, um ihnen Eizellen zu entnehmen, die dann auf dem Schwarzmarkt für gewaltige Summen gehandelt werden. Und schon der Titel zeugt davon: Ein Kloonexperiment der Maria Callas. Die Callias-Schwestern wachsen auf der Seatown auf, wo, wie eine Nachricht vermeldet, an bakteriologischen Waffen gearbeitet wird. Die Seatown ist jetzt endlich geortet worden, auf Position 50°53'N 17°54' W, in 1640 Fuß Tiefe. Was auf ihr geschah ist Thema der Hauptgeschichte, die der Reiseschriftsteller Joe Ellis erzählt.

Diese Geschichte beginnt wie folgt: "ATLANTIK 08.25 am. Seit es hell geworden ist halte ich Ausschau nach Überlebenden. Leichter Wind von Nordwest. Kein Kopf. Keine Bewegung. Kein Schiff. Kein Flugzeug. Nachts geschlafen. Kurz. Wie ausgeschaltet. Dann gerufen, eine Stunde, oder zwei. Keine Antwort. Habe eine Signalfackel gezündet. Kein Ton. Kein Zeichen. Kein Gegenfeuer. Aber die Wale sind zurückgekehrt." Der Text ist lang und hält bis ans Ende an seiner poetischen Qualität fest.

Aber er ist linear und könnte, so der mögliche Einwand, ebensogut auf Papier existieren. Nicht ganz. Denn die spezifische Erzählsituation funktioniert nur im Internet. Die Erzählung ist eingebettet in eine Website, die wie das Medienangebot einer Nachrichtenagentur aussieht und sich auch so verhält. Da werden Bilder, Graphiken, Karten angeboten, die überhaupt nichts erhellen, da gibt es Links zu vertiefenden Informationen und Formulare für Rückmeldungen, für die einem der Einwahlcode fehlt. In diesem Setting liegt der medienkritische Akzent des Beitrages. Nicht die angebotenen Informationen allein malen ein düsteres Zukunftsbild, die Umstände des Angebots vervollständigen dieses - als Text zwischen den Zeilen. Die spezifischen Eigenschaften des digitalen Mediums werden in ästhetischer Hinsicht genutzt.

Aus dem Interview mit dem Autor:

dd: Wie kamst du zum Schreiben digitaler Literatur?

ALS: Der Beginn meiner Auseinandersetzung mit digitaler Literatur fällt präzise auf die Entdeckung der Ausschreibung des Wettbewerbs literatur.digital 2001 von dtv und T-online Ende Mai 2001. Ich hatte mich während einer Reise von Site zu Site durch das Internet zufällig auf dem Portal des dtv-Verlages eingefunden und in mir sofort ein für mich typisches Hitzegefühl verzeichnet, ein Signal, das mir anzeigt, das ist etwas Spannendes, das möchtest Du versuchen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinerlei Erfahrung in der Gestaltung von Hypertexten, weder verfügte ich über Kenntnisse in Programmierung, noch hatte ich eine eigene Homepage gestaltet, auch hatte ich bis dahin Hypertexte nur in sehr bescheidenem Umfang wahrgenommen.

dd: Welche Erfahrungen hast du bei der Produktion digitaler Literatur gemacht?

ALS: Während dieses Prozesses des Gestaltens und des Lernens, war mir zu jeder Zeit bewusst, dass ich nicht eigentlich programmiere, sondern programmieren lasse. Von Zeit zu Zeit habe ich die Codeansicht <Dreamweavers> verwendet, um die erzeugte Sprache, den digitalen Code der eben bearbeiteten Seite zu betrachten. Da war nun Maschinensprache zu sehen, eine von mir nicht lesbare Sprache, aber auch mein mit dem Kopf unmittelbar erzeugter Text, gewohnte, erlernte, lesbare Zeichenfolge, in unbekannte, nicht lesbare Sprache eingebettet. Das war spannend. Auch zu sehen, dass eingesetzte Bilder dort nicht als Bilder erscheinen, sondern durch einen codierten Befehl herantransportiert werden, dass also die sichtbare, auf dem Bildschirm erscheinende Seite, eine Haut darstellt und darunter ist Leben, darunter vollziehen sich Prozesse, im Falle eingesetzter Animationen, unaufhörlich.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in der Produktion digitaler Literatur elegante Optionen dafür bestehen, mit Zeit und Raum zu spielen, mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, mit Bestimmung und Zufall. Ich könnte, so stelle ich mir vor, einen Text programmieren, der sich zur Stunde Null jeden Tages neu strukturiert. Ein Lebewesen also könnte entstehen, ein Text dessen weitere Ebenen sich zu einer bestimmten Zeit nur öffnen lassen, oder innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erkundet sein müssen, um ein Zurücksetzen an den Anfangspunkt zu vermeiden.

dd: Der Haupttext der Callas Box ist einem Romanprojekt entnommen. Inwiefern bedarf er dann des digitalen Mediums?

ALS: Während in dem Roman-Projekt der <International Metamorphosis Observer>, die <Seatown> und ihre Besatzung sehr eng miteinander in Verbindung stehen, habe ich in dem Projekt Callas Box den IMO zu einem entfernten, übergeordneten Organ erhoben, in dessen aktuellen Meldungen und Dokumentationen nun diese Tragikkomödie auf dem Atlantik unter anderen merkwürdigen Entwicklungen aufleuchtet. Der Roman, die Geschichte der <Seatown>, war plötzlich zur Miniatur geworden, eine Meldung in einem online-Medium, Dokumentation, und Joe Ellis` Geschichte selbst digitalisierte Spur eines Verschwindenden, eines von manipulierten, wohlmeinenden Walen, bis zur Lebensgefährlichkeit hin geschützten Lebewesens.

Indem sich der Leser durch den Räume des Projektes bewegt, sollte es ihm möglich sein, die Story weiterzudenken, aber auch einen Eindruck zu erhalten von der Welt, wie sie sich dort abzeichnet in Meldungen über diese Welt, einem Schatten. Es ist eine tragikkomische Welt, in der fürchterliche Geschichten sich ereignen und amüsante, in der nichts sicher ist, nicht die Zeit, nicht das Alter der Menschen, ihre Erscheinung, nicht die Funktionstüchtigkeit des World Wide Web.

 

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