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Wettbewerb Literatur.digital 2001
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Kurzauftritte in einem längeren Ausflug

Chile-Projekt

Text und Fotos:

Katharina Pallas

Grafische Gestaltung:

Stefanie Huber

HTML/Programmierung:

Bernd Gersdorfer

Projektleitung:

Melanie Schön



Der Fotoromane und -Reisetagebücher gibt es viele im Netz, denn dieses Medium macht beides leicht, den Zugang zur Öffentlichkeit und die Bindung von Text an Bild. Aber kaum stößt man auf so ansprechendes Design und so clevere Navigationsmittel. Dabei legen Genre und Medium beides nahe: Hier Foto, dort Text, hier nach Zeit geordnet, dort nach Raum. Nur, das Projektteam Chile weiß auch, wie man sowas bildschirmgerecht umsetzt. Die Zusammenarbeit hat ein vom Publikum honoriertes Werk erbracht, fast ganz im guten alten HTML.

Das beginnt mit den vier Browserfenstern, die sich in der Mitte des Bildschirms auftun. Im oberen linken die Fotos, im rechten die Karte, unten links der Kalender, rechts der Text. Den Fotos, die sich mitunter auch - wie die Panoramaaufnahme des San Rafael Gletschers - über beide obere Fenster erstrecken, sind Alt-Texte angehängt, die bei Mauskontakt erscheinen. So weiß man immer, wo man gerade ist, ganz ohne störende Titel im oder unter dem Bild. Die Markierung in der Karte aktualisiert sich, je nach Ort, den der Text erreicht hat (schade, dass gleiches nicht auch mit dem Kalender geschieht). Der Text selbst ist dann ohne Querverbindungen. Man kann, wie gesagt, über den Kalender navigieren oder über die Karte oder auch über das "weiter" im Textfenster. Dies ist gewiss am sinnvollsten, denn letztlich handelt es sich hier um eine linear zu lesende Reisebeschreibung und nicht um ein Nachschlagewerk zu chilenischen Sehenswürdigkeiten.

Was beschreibt diese Reisbeschreibung? Alles, was eine Frau, die allein nach Chile reist, so erlebt. Das ist schon deswegen eine Menge, weil diese Frau viel im Land unterwegs war und vielem begegnete: dem aus Vietnam stammenden Australier, der auf einer "ganz Südamerika in 4 Wochen"-Tour war, dem Pärchen aus Alaska - "jenseits der 40 und verliebt wie die Teenager. Nach ca. 10 Jahren hatte John seine langjährige Friseurin Linda erstmals gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde" - oder Tom und Sarah aus London, die, beide um die 30, den Job gekündigt, das Haus vermietet und alle Möbel eingelagert haben, um sich ein Jahr Auszeit zu nehmen. Alle tauchen sie kurz auf und verschwinden rasch (es ist nicht einmal Zeit für ein Foto), machen Platz den nächsten Leuten, Eindrücken, Informationen. Nie ist das Leben von Begegnen und Weitergehn so voll wie wenn man reist - oder Kind ist.

Der Stil ist erwartungsgemäß dokumentarisch, untersetzt mit gelegentlichen Kurzreflexionen. Die Autorin bleibt sehr bei der Sache und bei sich, unterlässt Ausflüge ins literarische Abseits. So wird im Eintrag am 20.1. unter dem Titel Besuch in Twin Peaks der Vergleich zwischen dem verlassenen Kaff Puerto Chacabuco und David Lynchs "gruseliger TV-Serie" eher gezogen als ausgemalt. "Breite, schnurgerade Straßen, die recht bald im Nirgendwo endeten. Gelegentlich fuhr ein Pick-up Truck vorbei, selbst die streunenden Hunde wirkten deprimiert", heißt es kurz und knapp; einen extra Absatz, in dem das Deprimierende an einer beobachteten (oder erfundenen) Begegnung zwischen einem Pick-up-Fahrer und einem Hund am Eingang des runtergekommenen Orts-'Supermarkts' vermittelt würde, erhält Twin Peaks nicht.

Auch die zweistündige Busfahrt (am 17.1.) von Puerto Varas zum Parque Nacional Puyehue, in der "vier fröhliche Damen so zwischen 60 und 70" die Reisende ausquetschten, wie sie als Frau allein in einen fremden Kontinent reisen könne, muss auf spätere Ausmalung warten, denn hier geht es jetzt erst einmal ja in den Nationalpark, den der Reiseführer als Feenwald anpries. Nein, die Reisedokumentation unterwirft sich nicht der Literatur. Dies wäre ein anderes Projekt, das dann vielleicht wieder im Medium Buch erfolgt.

Interview mit dem Projektteam

 

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