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Letzte Aktualisierung: 18.07.2012 |
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Interview im Fühjahr 2001 Herr Wietek - oder sollte ich besser 'Herr Büchervielfraß' sagen? Eines ist mir so recht wie das andere. Also bleiben wir bei 'Herr Wietek', das ist kürzer. Man kann Sie ja durchaus als ''Newcomer' in der Literaturszene bezeichnen, das ist doch etwas ungewöhnlich für einen 57jährigen; was haben Sie früher gemacht, welcher Mensch steckt hinter dem Büchervielfraß? Oh Gott, wo soll ich da anfangen! Am besten bei der Geburt, würde ich sagen. So weit zurück? Ist das nicht ein bißchen weit ausgeholt? Ich weiß, daß Ihr Leben sehr abwechslungsreich war und ist, und als Büchervielfraß äußern Sie ja eine sehr persönliche Meinung, daher interessiert uns auch der Mensch Büchervielfraß. Naja, dann auf Ihre Verantwortung. Die nehme ich gern auf mich. Also gut! Ich bin Breslauer, wann ich geboren wurde haben Sie ja schon verraten. Noch während des Krieges sind wir nach Franken gezogen, nach Weißenohe, ein - damals - kleines idyllisches Dorf am südlichen Eingang zur Fränkischen Schweiz. Das Dorf wird beherrscht von einem ehemaligen Benediktinerkloster - heute ist nur noch die Klosterbrauerei übriggeblieben und die ist berühmt, wie ehemals das Kloster bis zu Napoleons Zeiten. Mein Vater war dort nach dem Krieg für ein paar Jahre Lehrer an der zweiklassigen Dorfschule, 1. bis 4. Klasse und 5. bis 8. Klasse wurde je zusammen in einem Raum unterrichtet. Aber ich denke Ihr Vater ist Arzt! Schon richtig, aber nach dem Krieg suchten die Amerikaner Lehrer, die politisch nicht vorbelastet waren, und da alle Lehrer zu Adolfs Zeiten in der Partei sein mußten, wurden sie gefeuert und unbelastete Leute in einem Schnellkurs zu Lehrern ausgebildet und eingestellt. Aber zurück zu meiner idyllischen, ich möchte heute sagen romantischen Kindheit: Das Dorf war klein, jeder kannte jeden, den Bubn vom Lehrer sowieso, Autos gab es nicht, Traktoren auch nicht, die Bauern spannten ihre Kühe vor den Wagen, verloren gehen konnte der Bub nicht, also zigeunerte ich wie Goethes Pudel - nur in umgekehrter Richtung - durch Dorf und Flur; mal am Bach, mal auf einer Wiese zum Blumen Pflücken, mal kroch ich in eine alte verlassene Mühle, mal erschauerte ich von weitem vor einer alten Scheune, wo sich jemand aufgehängt hatte, mal half ich beim Nachbarbauern. - Da fällt mir eine lustige Geschichte ein, Überschrift "mein erster eigener Verdienst" - soll ich erzählen? Bitte, gern! Tun Sie sich keinen Zwang an! Sie können's ja streichen, wenn's zuviel wird. Also, bei eben besagtem Bauer war das Odelfaß, oder Jauchefaß, mit dem die Jauche aufs Feld gefahren wurde leck. Zum Reparieren mußte einer ein Blech von innen dagegen halten, in die Öffnung vom Odelfaß paßte aber nur so ein Mickerling wie ich; also kroch ich in die allerdings leere und ausgespülte Blechtonne und der Bauer reparierte von außen. Alles klappte hervorragend. Zur Belohnung bekam ich ein paar Eier geschenkt. Mit stolz geschwellter Brust zog ich nach Hause und wollte gerade von meiner Heldentat berichten, als meine Mutter aufschrie 'mein Gott, du stinkst ja wie eine ganze Jauchegrube, was hast du jetzt wieder ausgefressen!' Vor Schreck zerplatzte ein Ei am Fußboden, was den nächsten Aufschrei auslöste. Außer 'Mutti, aber Mutti' konnte ich nichts erzählen, die Kleider wurden mir vom Leib gerissen und ich wanderte schnurstracks in den Waschbottich. Da leistet man mal was Großes und keiner will's wissen, im Gegenteil, man muß sich auch noch malträtieren lassen. Was ist das doch für eine böse Welt! - Daran, daß ich so viel erzähle, können Sie sehen, wie glücklich die Zeit war. Und es hört sich absolut blödsinnig an, aber damals gab es tatsächlich noch richtige Winter. Ich höre jetzt im Geiste meine Kinder aufstöhnen 'nein, Papa, wirklich? Erzähl doch mal die Geschichte, wie du immer mit dem Schlitten die Dorfstraße - das Dorf liegt am Hang und die Straße ist bald zwei Kilometer lang, müssen Sie wissen - heruntergesaust bist, und unten an der Kurve meistens im Misthaufen gelandet bist!' Ich erzähle die Geschichte jetzt extra nicht! Oder hab ich sie jetzt etwa schon erzählt? Es war wirklich eine wunderbare Zeit, unbeschwert und glücklich, abgesehen von den großen kindlichen Kümmernissen, wenn die Eltern wieder einmal ärgerlich waren und man beim besten Willen nicht verstehen konnte warum. Und die Schule war die dämlichste Erfindung, die es gab, nur dazu da, uns Kindern wichtige Zeit zu stehlen. Und dann zogen wir - als ich elf war - in die Großstadt, nach Mannheim. Warum das? Nun, mein Vater war jetzt wieder in seinem eigentlichen Beruf und bei einer pharmazeutischen Firma angestellt. Aus war's mit der freien Wildbahn! Überall Häuser und stinkende Autos. Für mich war's wie ein Gefängnis. Der naive Bauernbub kam den ausgefuchsten Großstadtkindern natürlich gerade recht. Eigentlich begann damals meine Laufbahn als Büchervielfraß. Ich las, was mir in die Finger kam, ganz besonders den ganzen Karl May, vorwärts und rückwärts, die freie Wildbahn fand jetzt in meinem Kopf statt; und die Schule war nach wie vor eine erhebliche Beeinträchtigung meiner persönlichen Freiheit. Ich löste das Problem der Freiheitsbeschneidung wenigstens zu Hause, wenn es um Hausaufgaben ging dadurch, daß in meiner Schreibtischschublade immer mein Buch lag, auf dem Tisch das Latein- oder Wasauchimmerbuch, und wenn ich hörte, daß Muttern kam, schob ich einfach die Schublade zu und machte ein sehr konzentriertes Gesicht. Allein der Musikunterricht machte Spaß. Ich kann mich noch gut an meinen ersten öffentlichen Applaus erinnern. Noch ein Geschichtchen! Möglich? Immer zu, immer zu! Je mehr Sie erzählen, um so weniger muß ich fragen. Ich spielte bei einer Schulaufführung auf drei Holzxylophonen, es war eine Komposition meines Musiklehrers - ich weiß trotz meines katastrophalen Namensgedächtnisses sogar noch wie er hieß, Dr. Striehl - ich hatte mehrere Glissandi, hintereinander über alle Xylophone zu spielen und danach ganz jazzartig Synkopen zu schlagen; ums Verrecken wollten mir anfangs die Synkopen nicht gelingen, bis ich es machte wie jeder Jazzmusiker, ich nahm mit meinem Körper den Takt auf und schlug die Synkopen dazwischen. Mitten im braven Schulorchester ganz oben für jeden gut sichtbar jazzte da plötzlich einer; das gab einen riesigen Heiterkeitserfolg und spontanen kräftigen Applaus. Und ich stand wieder einmal dumm da und wußte zuerst überhaupt nicht warum. So wurde ich in der Schule zum Jazzexperten. Es folgte Elvis Presley, Rock'n Roll, die Freiheit in der Musik. - Sie können sich nicht vorstellen, was ich damals, da wo heute eine kahle Hochebene ist, für eine tolle Welle hatte; jeden Morgen habe ich mit Pomade zehn Minuten daran gearbeitet! - Von da war es nicht weit zum Protest der Halbstarken, alle Lehrer waren Idioten, von den Eltern ganz zu schweigen; war ich vorher nur faul, so wurde ich jetzt auch noch frech; und nachdem ich mit einigen ganz üblen Streichen, die in einem beinahe lebensgefährlichen Akt gipfelten, mir meine Freiheit bewiesen und den anderen meine Verachtung vor die Füße geknallt hatte, flog ich unwiderruflich von der Schule mit der zusätzlichen Bemerkung, daß der Besuch einer anderen Höheren Schule nicht erlaubt ist. Das hört sich doch eigentlich an, als ob damit alles zu Ende wäre. Stimmt, war es eigentlich auch. Aber dank der segensreichen Einrichtung in der Bundesrepublik, daß Kultur - und damit auch Schule - Ländersache ist, des weiteren dank einer göttlichen Eingebung und der Bereitschaft meiner Eltern, mir ein vorgezogenes Studentenleben zu finanzieren, konnte ich mich auf eine Bude in Weinheim zurückziehen und jetzt gnadenlos pauken, bis ich in Hessen eine Aufnahmeprüfung in die Unterprima - heute 12. Klasse - bestand. Befreundet war ich in dieser Zeit mit einem Schauspieler, der wie ich den oberkrummen Bildungsweg nahm, um dann zu studieren. Von ihm stammt meine Liebe zum Faust; wir gingen stundenlang im Wald spazieren und deklamierten, er den Faust, ich den Mephisto, die Gründgens-Inszenierung war damals in aller Munde; am Schluß konnte ich der Tragödie erster Teil auswendig. Auch die großen Russen in der Literatur bewegten unsere Gemüter - ich weiß noch wie heute, wie mich der erste russische Roman mitgenommen hat, es war ‚Meine Kindheit' von Maxim Gorki. Nietzsche sprach meine Gefühle des morbiden Verlassenseins aus; 'die Krähen schrei'n' habe ich mit Inbrunst in den Wald geschrien. Stundenlang hörten wir zum Ärger der Nachbarn mit entsprechender Lautstärke klassische Musik, natürlich Beethoven alle Symphonien, Mozarts Requiem; in solchen Stunden glaubten wir uns der Göttlichkeit ganzganz nahe. Irgendein Geist muß uns dann aber immer wieder einmal zugerufen haben 'du gleichst dem Geist, den du begreifst! Nicht mir.' und wir bekamen wieder Boden unter den Füßen. An der Schule wurde auch der Keim für mein Sängerleben gelegt: Wie die Musiklehrerin darauf kam, weiß ich bis heute nicht, aber ich wurde aufgefordert bei einer Schulaufführung einen Professor zu spielen. Ich kann mich zwar an keine Proben und kein Pauken erinnern, aber meine große Arie kann ich noch heute, wie das Stück hieß, weiß ich nicht mehr. Es war eine Rolle für einen zweiten Baß, und meine Stimme dröhnte schon immer in den tieferen Regionen, und wenn ich am Abend vorher ordentlich gesoffen hatte - Jazzkeller und Weinlokale waren hierfür sehr beliebt - landete meine Stimme gar im Kontrabaß; das war allerdings dann auch bei der zweiten Aufführung mein Verhängnis: um Stimme und Volumen hätte mich jeder Russe beneidet, mein Gehirn arbeitete aber leider mit einer nachtbedingten Verzögerung, so daß alle auf meinen Einsatz immer zwar nur ein klein wenig, aber eben warten mußten. Das verdarb den Spielfluß dann doch ungemein. Aber lassen wir das. Ich machte mein Abitur und sah erneut die ganz große Freiheit vor mir. Und die hieß Afrika. Wie bitte? Sagten Sie Afrika? Den Erdteil Afrika? Oder eine Kneipe namens Afrika, bei Ihnen muß man ja auf alles gefaßt sein. Danke für die Blumen. Nein, nein, richtig Afrika, genauer Addis Abbeba, Heile Selassi, Negus Negesti. Den Kaiser von Äthiopien? Genau den. Was wollten Sie denn dort? Nun meine Eltern hatten dort Bekannte, er war ein Leibarzt vom Negus Negesti, und in der Deutschen Schule von Addis Abbeba suchte man Hilfslehrer mit dem besonderen Qualifikationsmerkmal ‚hat Deutsch als Muttersprache' ansonsten reichte Abitur. Mir schien das gerade die richtige Entfernung von Deutschland zu sein, um meinen Horizont zu erweitern. Die Planung war: Wir - ein ebenso verrückter Freund und ich - fahren mit einer ‚Ente' - sie werden dieses wunderbare Gefährt, den 2CV von Citroën, nicht mehr kennen, eine Mischung zwischen Schaukelstuhl und Kamel - über Griechenland, Türkei, Israel, Ägypten, den Nil entlang bis nach Äthiopien; geschätzte Dauer zwei Monate. Wir begannen, uns bei den Botschaften zu erkundigen, Visa zu besorgen, und, und und, was man halt so für eine solche Reise alles besorgen muß. Hatten Sie keine Angst? Angst? Wir doch nicht! Wir hatten doch gerade das Abitur bestanden! Aber auch hier griff wieder eine göttliche Hand ein, diesmal bediente sie sich ganz vulgär der Masche mit dem ‚Dienst fürs Vaterland'. Aus der Traum von der großen Freiheit. Statt dessen wurden mir jetzt die Hammelbeine lang gezogen; der 'Staatsbürger in Uniform' war damals noch nicht in aller Munde, dafür aber so tolle Sprüche wie 'ich werd' euch schleifen, bis euch das Wasser im Arsche kocht und gleichzeitig der Arsch auf Grundeis geht' in dem von unserem Spieß, ich meine den Mund. Aber es hatte auch sein Gutes, nie wieder in meinem Leben war ich so durchtrainiert wie damals, und ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, abendfüllend. Das muß jetzt wirklich nicht sein, vielleicht ein ander Mal. Hatte ich auch nicht vor. Aber zwei Dinge sind aus dieser Zeit wichtig, ich war in der Nähe von München stationiert und lernte München lieben und nie wieder in meinem Leben war ich so viel in Oper, Operette, Theater und Kabarett wie damals. Es war eine tolle Zeit. Und das Zweite war, daß meine Liebe zur russischen Literatur ganz unverhoffte Früchte trug: In der Stadt war eine Werbung für die Zeitschrift ‚Sowjetliteratur heute'; nichts Böses ahnend gab ich meine Adresse an, damit mir die Zeitschrift zugeschickt wird. Die Zeitschrift erreichte mich nie, dafür aber einige Herren vom MAD, die mich sorgsam auseinandernahmen und wieder zusammensetzten, um das gleiche Spiel noch einmal zu spielen. Was war geschehen? Ganz einfach, ich hatte Post aus Moskau erhalten! Aus Moskau? Ja aus Moskau. In den Jahren 64 bis 66 schlimm genug, aber die Krönung war, daß diese Post an meine volle militärische Adresse kam, Herr Offiziersanwärter, Fliegerhorst, Staffel usw., usw. Wie Sie sich denken könne, erhielt meine militärisch Laufbahn einen nicht wieder gut zu machenden Knick, was mich allerdings nicht sonderlich berührte, denn dieses Gehorchen-ohne-zu-denken war nie mein Fall. Ich habe sozusagen für die russische Literatur gelitten. Und Moskau trat mit einem Paukenschlag in mein Leben. Und da ist es immer noch. Richtig, aber Gottseidank auf angenehmere Weise. Und dann? Ja dann wurde es etwas ruhiger in meinem Leben. Langweiliger? Vielleicht kann man es auch so ausdrücken. Ich tat, was alle tun, wenn die weltumwälzenden Pläne der sogenannten Realität gewichen sind, ich erlernte einen anständigen Beruf. In meinem Fall sollte es plötzlich der des Apothekers sein, und nicht - wie seit meiner Kindheit scheinbar vorbestimmt - der des Arztes. Zwei Jahre Praktikum in Düsseldorf, zu meiner Zeit mußte man vor dem Studium noch ‚stiften', wie wir sagten, dann Studium in Münster, Literatur und Musik waren auf ein Minimum herabgesetzt. Nach dem Staatsexamen besann ich mich dann doch wieder auf die Medizin, wurde Assistent in der Pharmakologie und studierte Medizin, theoretische Semester, und genoß das unbeschwerte wissenschaftliche Arbeiten an meinem medizinischen Institut, zumal ich mich mit meinem Professor väterlich verstand. Haben Sie da nicht eine Kleinigkeit vergessen? Naja, das mit der Kleinigkeit haben Sie gesagt, aber richtig und wichtig ist, daß ich in dieser Zeit auch geheiratet habe. Meine Frau hatte auch Pharmazie studiert. Und wichtig ist es, weil die Ankunft unserer ersten Tochter ganz offensichtlich eine Denkblokade in meinem Gehirn auslöste: ich war plötzlich zu dem einsamen Entschluß gekommen, daß die wirtschaftliche Grundlage für die zukünftige Familie nur eine Apotheke sein könne. Mein Chef und ich hatten zwar Tränen in den Augen, als wir uns verabschiedeten, und er wiederholte eins ums andere Mal ‚Hänneschen, Hänneschen, du bis'ene Idiot.' Aber heldenmütig - und ich tat mir selbst leid - opferte ich meine Interessen den Anforderungen einer Familie, wie ich meinte, daß es meine Pflicht sei. Schön war, daß wir im Land meiner Kindheit, in Nürnberg, landeten. Von wirtschaftlichem und kaufmännischem Denken hatte ich keine Ahnung - als Apotheker lernte man damals in der Hauptsache was passiert, wenn man Reagenz A mit Reagenz B mischt und ähnlichen chemischen Unsinn. Die Werbung im Fernsehen ersetzte den Rat des Apothekers, die Pampers und ähnlicher Drogeriekram hatten Einzug in die Apotheke gehalten. Ich stellte sehr schnell, aber dennoch zu spät fest, daß ich falsch lag. Aber ich mußte mit den Wölfen heulen. Da die Banken jede Apotheke für eine Goldgrube hielten, drängelten sie sich, um für eine weitere Apotheke Geld zu geben. Irgendwann stellte ich fest, daß ich meine drei Töchter fast nur noch von kurzen Gutenachtküßchen kannte und die Jahreszeit an der Farbe des Grünstreifens in der Mitte der Autobahn ablesen mußte. Da war Schluß. Wie, Schluß. Schluß, aus. Alles verkauft, oder besser gesagt abgewickelt, denn übrig blieb kein Pfennig. Und wovon lebten Sie? Wir hatten einen Restbauernhof in einem Nachbardorf meiner Kindheit gepachtet, mit einigen Hektar Wiese, Wald und Obstbäumen, einen alten Traktor gekauft, eine kleine Schafherde - ein Teil davon waren Heidschnucken aus der Lüneburger Heide -, wir fütterten - natürlich ganz biologisch-dynamisch-ökologisch - immer ein, zwei Schweine, und ich hatte 150 Bienenvölker. Eine 'Kommune' aus dem Nachbarort buk Brot und ich fuhr mit einer alten, klapprigen VW-Pritsche, die ich vor einer Verschrottungsaktion der Deutschen Bundesbahn gerettet hatte - später kam ein alter Lada Niva mit Allrad hinzu -, mit all unseren Erzeugnissen auf den Markt. Es war ein wunderbares Leben, wir brauchten kaum Geld, und für Sonderausgaben hatte meine Frau eine Halbtagsstelle in einer Krankenhausapotheke angenommen. Das Haus renovierten wir peu à peu selbst. In einer alten kleinen Schmiede hatte ich meine Werkstatt, eine richtige kleine Schreinerei. Es war eine wunderbare Arbeit in der Natur, und unsere Kinder wuchsen in eben der Freiheit auf, die auch ich genossen hatte. Mein Hausname war 'der Sollbauer' mit dem Zusatz 'der gschbinnerde Abodeecher'. Endlich hatte ich den Kopf wieder frei, konnte ich wieder lesen und schreiben, hielt Vorträge und Seminare über alternative Heilmethoden und Radiästhesie. Was ist das? Radiästhesie? Radiästhesie ist die Lehre von der Strahlung zwischen Erde und Kosmos, Stichwort Wünschelrute, eine von den heren Wissenschaftlern belächtelte Grenzwissenschaft - oft auch schlichtweg Unfug genannt - obwohl sich gerade große Wissenschaftler in Ost und West auch eingehend damit beschäftigt haben. In der Sowjetunion hieß das 'die bio-physikalische Methode' und es gab sogar einen Lehrstuhl dafür. Und selbst bei uns in Deutschland hat das Bundesforschungsministerium einen Forschungsauftrag dafür an die TU München vergeben. Aber das nur nebenbei. In den Jahren 82 und 83, als in Polen das Kriegsrecht herrschte, habe ich Hilfstransporte mit Medikamenten und Kindernährmitteln organisiert und selbst auch einen Lastwagen gefahren. Selbst zu sehen, was Kriegsrecht und Not bedeuten, war für mich eine schlimme Erfahrung. Es würde zu weit führen, Einzelheiten zu erzählen, außerdem ist das ein Abend füllendes Programm. Nur so viel sei erwähnt, einerseits liefen die Kinder, wenn wir notgedrungen langsam durch die Dörfer fuhren, bettelnd neben unseren Lastwagen her und wir warfen ihnen Schokolade und Süßigkeiten zu - stehenbleiben durften wir nicht; so müssen sich die Amis gefühlt haben, als sie nach dem Krieg in Deutschland eingerückt sind -, die Ärzte in den Krankenhäuser klagten ihre Not, weil sie die einfachsten Operationen nicht mehr ausführen konnten, andererseits errichtete die Miliz Straßensperren und zockte jeden Hilfstransport mit der fadenscheinigen Begründung ab, er sei zu schnell gefahren, und stopfte sich die Taschen mit Kaffee, Zigaretten und Cola voll. Überall standen Panzer und Militär. In den Kirchen wurden für uns Messen gelesen und uns vorsichtig umschreibend öffentlich gedankt, denn aussprechen durfte es niemand, die Menschen versuchten uns dankbar die Hände zu küssen und, und, und, es war schlimm. Aber lassen wir das, ich werde trübsinnig. Ich kann nicht sagen, daß ich es Ihnen nachfühlen kann, denn ich habe es nie erlebt, aber ich kann mir denken, daß so etwas tief berührt. Ja ich hatte damals gedacht, daß ich die schlimmste Not gesehen hätte, aber das stimmte nicht, es sollte später in Moskau noch viel, viel schlimmer kommen; dann stand ich wirklich da und habe vor Leid, Wut und Scham Rotz und Wasser geheult. Aber kehren wir zu den schöneren Dingen des Lebens zurück: In dieser Zeit meines Landlebens machte ich auch meine Ausbildung als Chorleiter und leitete bis zu fünf Chöre gleichzeitig, eine wunderbare Aufgabe; selbst sang ich in einem großen, bekannten Chor im zweiten Baß. Ich glaube, wir sollten hier einen Schnitt machen und eine Tasse Kaffee trinken, damit wir aus dem Gefühlsbad der Erinnerungen herauskommen. Einverstanden. Aber eine Erfahrung möchte ich mir noch von der Seele reden; sie hängt mit dem Wechsel des Apotheker zum Alternativbauern, oder wie Sie meine neue Obsession auch immer bezeichnen wollen, zusammen. Ich bemerkte es, als ich zum ersten Mal danach wieder einmal meine Bank betrat. War ich früher eine hoch geachtete, zumindest so behandelte Person, plötzlich war ich ein Nichts, nicht der Beachtung wert. Alle, auch sonstige Geschäftsleute, die den Herrn Apotheker hofiert hatten, weil er so gut nach Geld gestunken hatte - ob es stimmte oder nicht, bleibt dahingestellt -, waren plötzlich mehr als reserviert, selbst alte Freundschaften zerbrachen. Ich machte mir dann einen richtigen Sport daraus, indem ich fast nur noch in meiner Arbeitslatzhose herumlief und mich köstlich über die konsternierten Gesichter amüsierte. Die Dummheit der Menschen treibt wirklich köstliche Blüten. So, das war's. Auf zum Kaffee. So, wie ging es dann weiter; wir müßten doch jetzt, wenn ich in meinen Unterlagen richtig sehen, wieder einmal an einen neuen Lebensabschnitt kommen? Stimmt. Und das war die Wende mit ihren großen politischen Veränderungen in Europa. Meinen Auftakt bildete meine Reise durch Polen, über Krakau, Südostpolen, dann den ganzen Bug entlang nach Norden bis Brest, über Warschau und Breslau zurück. Ich habe damals alle Eindrücke immer sofort auf einen Kassettenrecorder gesprochen, um dann ein Buch darüber zu schreiben; es war phantastisch und abenteuerlich. Alles zu erzählen, wäre jetzt ein Buch, die Zeit haben wir nicht, nur drei Punkte will ich herausgreifen: Ich hatte mir extra für die Reise einen kleinen gebrauchten Fiat 500 - den Traumwagen meiner Schulzeit - gekauft, weil ich wußte, daß dieser als Polski Fiat das ganz normale Auto in Polen war und ich damit nicht auffallen würde. Weit gefehlt! Die Kinder liefen in den Städten neben meinem Wagen her und zeigten mit Jubel auf mein Auto, ein 'maluch', wie er in Polen hieß, mit deutschen Kennzeichen!, das war die Sensation; zu einem deutschen Kennzeichen gehörte eben ein Mercedes. Dann die wunderbare, unberührte Natur, einer Art von Urwald gleich, in der Flußlandschaft des Bug, und ich teilweise auf Sandstraßen, weit und breit keine Menschenseele; ich war so allein, so auf mich selbst zurückgeführt, daß ich meinen Herzschlag hörte und Angst bekam, schreien wollte - und es auch getan habe - nur um einen menschlichen Laut zu hören. Und in Brest mein Versuch ohne Visum nach Rußland zu kommen, um auf der anderen Seite des Bug wieder nach Süden zu fahren. Die Polen ließen mich durch, die ersten russischen Kontrollen auch, ich jubelte schon, denn ich war endlich in Rußland angekommen, da kam aber eine letzte Kontrolle und es half kein noch so großes Reden von Völkerverständigung und neuer russissch-deutscher Freundschaft - der Offizier war ein echter Freund, wir hätten beinahe zusammen Wodka gesoffen - aber es ging nicht, alle meine Schwindeleien, von wegen die Botschaft habe gesagt, ich könne hier an der Grenze ein Visum bekommen, fruchteten nichts. "Maluch gutt maschin, du Litauen, Grenzvisa und dann Wladiwostok!" das waren seine letzten Worte. Betrübt zog ich von dannen. Aber irgendwie haben Sie es dann doch noch geschafft, ist es nicht so? So ist es. Und dann überquerte ich die russische Grenze nicht nur einmal, sondern gleich fünf Mal innerhalb von drei Wochen ohne Visum, und das nicht auf Schleichwegen, sondern an der ganz normalen Grenze. Soll ich? Ich bitte darum. Also; In Nürnberg in der Nähe der Lorenzkirche hörte ich eines Tages, es war glaube ich in 91, einen wunderbaren Baß singen. Ich muß vorausschicken, daß ich mir selbst vorgenommen hatte, einmal auf der Straße zu singen, weil ich bedauerte, daß immer nur mit Instrumenten Straßenmusik gemacht wird, und die Stimme ist doch eigentlich das älteste Instrument der Welt. Also, ich ging dem Klang nach und merkte sehr bald, daß das ein hervorragender russischer Baß sein mußte. Und wirklich, an einer Ecke stand ein großer Mann mit einem Frack, der ganz offensichtlich aus dem Theaterfundus stammte, einem wilden Bart und einer halb zerbrochenen Brille auf der Nase, hielt sich einen Finger ins Ohr - wie es Profis tun, um sich auch in einer größeren Geräuschkulisse selbst zu hören - und sang phantastische russische Volksweisen. Ich will es kurz machen - bitte keine anzüglichen Bemerkungen! - Hatte ich nicht vor! nach langem Radebrechen, denn er sprach kein Deutsch und ich kein Russisch, stellte sich heraus, daß er Opernsänger in Moskau war, dort aber kein Geld mehr an der Oper bezahlt wurde. Also trampte er von Moskau nach Deutschland - man stelle sich das vor! - um hier für seine Familie den Lebensunterhalt auf der Straße zu verdienen. Ich war sprachlos! Und bei allem machte er noch einen fröhlichen Eindruck. Als er in mir auch noch einen Kollegen entdeckte, lud er mich nach Moskau ein. - Er hat übrigens in den zwei Wochen, in denen er sich durch Deutschland sang, soviel Geld verdient, wie er in Moskau nicht in einem Jahr bekam. - ...........Ich muß mich kürzer fassen, denn auch das ist ein ganzes Buch. Geschrieben? Ja. Erschienen? Wo? Nein. Warum? Ich hatte den falschen Namen, ich hätte Gerd Ruge heißen oder sonst einen prominenten Namen haben müssen. Schade! Wollen Sie es nicht noch einmal versuchen? Hab' ich mir noch keine Gedanken gemacht, obwohl, jetzt ist alles schon Geschichte geworden. Also, meine Ehe war damals leider schon zerbrochen, ich hatte eine russische Freundin aus Rostok, und wollte mir den Traum erfüllen, einmal nach Rußland, speziell Moskau, zu fahren, denn sie hatte dort studiert. Kurz bevor wir am zweiten Weihnachtsfeiertag mit dem Zug nach Moskau fahren wollten zerbrach die Freundschaft - übrigens wegen Geld -, ich fuhr allein, weil ich hoffte, dort den Sänger Nikolai zu treffen. Es war abenteuerlich, denn ich sprach kein Wort Russisch und kannte kein einziges kyrillische Schriftzeichen. Und ich traf erst einmal Nikolai nicht, denn er war eben mal für ein paar Tage in den Ural - das sind 2000 km - gefahren. Später traf ich ihn dann und wohnte bei ihm und seiner Frau und den drei Kindern in einer 'Komunalka', ich hatte allerdings ein Einzelzimmer, denn sein Freund stellte sein Zimmer mir zur Verfügung. Bei diesem ersten Besuch in Rußland bin ich dann auch mehrere Male über verschiedene russische Grenzen gefahren und behauptete ganz einfach, ich hätte kein Visum, weil ich hoffte, mit dem Visum, das ich tatsächlich hatte, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal über Polen einreisen zu können, was dann auch geklappt hat. Aber auf diese Reise und meine weiteren Reisen nach und in Rußland kann ich hier nun wirklich nicht eingehen, sonst sitzen wir übermorgen noch hier. Nur eines ist natürlich noch ganz wichtig. Auf dieser Reise habe ich meine heutige Frau kennengelernt, und das war auch wieder so eine Ironie des Schicksals: Meine besagte russische Freundin hatte mir zum Abschied, sozusagen als Liebesbeweis, noch die Adresse einer Freundin mitgegeben, an die ich mich wenden sollte, wenn ich hoffnungslos stranden sollte, was sie richtig vorausgesehen hatte. Diese machte für mich mit einer Dozentin für Kunstgeschichte, die Deutsch sprach, einen Termin aus, um mir Moskau zu zeigen. Dreimal ging der Termin schief, weil ihr immer im letzten Moment etwas dazwischen kam - vielleicht hat sie auch gedacht, was soll ich mit so einem alten Touristenknacker, soll der doch schaun wie er zurechtkommt - beim vierten Mal kurz vor meiner Rückreise hat es dann geklappt. Treffpunkt war die große Leninstatue am Oktiabraskaja. Es schneite wie wild, Lenin hatte den Blick weit in die Ferne gerichtet, was zu seinen Füßen vorging konnte und wollte er wahrscheinlich auch gar nicht sehen. Ich erwartete eine gesetzte Dame mittleren Alters, als eine junge Dame mit Kapuzenjacke - ich hielt sie höchstens für eine Studentin - auf mich zukam und sich zu meiner Führerin erklärte. Schön war sie außerdem, und ich mußte mich sehr schnell zur Ordnung rufen, denn sie war zwar keine Studentin, aber ihr Vater hätte ich doch schon sein können. Aber wie Sie sehen, hat alles zur Ordnung Rufen nichts genützt. Eines müssen Sie mir aber noch erzählen bevor Sie das Thema Rußland verlassen; Sie sprachen vorhin von einer Situation in Moskau in der Sie, ich zitiere 'Rotz und Wasser geheult haben', was war da? Ja, das war schlimm, und ich muß immer daran denken, wenn sich bei uns Menschen beschweren, wie schlecht es ihnen geht. Vor meiner Reise wurde ich vom Pfarrer einer Gemeinde im Coburger Land - wie er von meinem Plan erfuhr weiß ich nicht - gebeten, Erkundigungen über eine Adresse einzuziehen, an die sie eine Spende schicken wollten. Ich bekam Kontakt zu einem älteren, gut Deutsch sprechenden Herrn - von dem ich später erfuhr, daß er ein ehemaliger KGB-Offizier war -, der mir abriet, an diese Adresse irgendetwas zu spenden, denn es sei ein quasimilitärischer Betrieb. Statt dessen ging er mit mir zu der einzigen katholischen Kirche von Moskau, wo eine Gruppe vollkommen unterernährter, junger Frauen eine kleine Gruppe taubstummer Kinder, Waisen und sozial vergessene Kinder -sie nannten sich auch 'die vergessenen Kinder'- betreute. Was ich da sah überstieg meine Vorstellungskraft, das begann bei den rund um die Kirche vom KGB installierten Kameras und endete in einem Heizungskeller, in dem die Kinder saßen, weil es der einzige warme Ort war, an dem die Kinder unterrichtet werden konnten. Das Leid und die Verfolgungen, die diese Menschen zu erleiden hatten, war unfaßbar, und bei allem waren sie auch noch fröhlich und guter Dinge, weil sie so einen schönen warmen Ort gefunden hatten! Meine nächste Fahrt nach Moskau machte ich dann mit einem Kleinbus, den ich bis oben hin mit den teilweise einfachsten Dingen des täglichen Lebens vollgeladen hatten. Als ich die strahlenden, mich schier vergötternden Augen der Kinder sah, konnte ich mich nicht mehr halten, mir lief das Wasser aus den Augen und der Nase und ich mußte schnell zur Seite, damit die Kinder das nicht sahen, denn in ihrem Glück hätten sie das nie verstanden. Aber Sie sehen, selbst jetzt, wo ich nur daran denke, fange ich wieder an zu heulen. Jetzt, wo ich Sie erlebe, möchte ich mich fast dafür entschuldigen, daß ich auf diesen Punkt noch einmal zurückgekommen bin. Nun gut, es mußte wohl sein. Aber lassen Sie uns jetzt weitergehen, wie kamen Sie nach all dem wieder zu einer Apotheke, und das in Thüringen? Nun, das sollte eigentlich ein letzter Freundschaftsdienst für meine Exfrau sein. - Mit ihr und ihrem Mann verstehe ich mich heute übrigens hervorragend. - Aber Sie sehen ja, wie es ausgegangen ist. Und jetzt sind wir dann wohl beim Büchervielfraß angekommen, wenn ich das richtig sehe. Sie sehen das richtig; aber den langen Weg bis hierhin - ich meine in diesem Interview - wollten Sie verantworten! Das ist richtig, und ich habe es auch nicht bereut. Also, wie kam es dazu, denn es war doch - wenn ich es richtig sehe - Ihre Idee. Ja und nein. Ich bin mit dem Buchhändler Peterknecht in Erfurt befreundet. Da ich alle meine Bücher nur bei ihm kaufte, blieb ihm natürlich nicht verborgen, welche Unmengen ich lese. Und er wußte auch, daß ich mir über gelesene Bücher Notizen machte, da ich beurteilen wollte, warum mir ein Buch gut und ein anderes nicht gefallen hatte, einfach weil ich für mein eigenes Schreiben etwas hinzulernen wollte. Das Lehrfach 'Kreatives Schreiben' gibt es in Deutschland nicht - im Gegensatz zum Angloamerikanischen Bereich -, wenn ja müßte es ganz neu sein; in Deutschland wird man offensichtlich wie zu Goethes Zeiten als Dichter geboren. Daraus entstand die Idee, daß ich meine Rezensionen seinen Kunden zugänglich machen sollte. Sie werden jetzt in einem Ordner gesammelt und auf einem Lesepult dargeboten. Ein anderer Freund, Leiter des Theatermalsaales und künstlerischer Leiter am Theater Erfurt, malte ein Konterfei von mir, unter dem die Kunden meine Empfehlungen finden sollten, die Zeitung berichtete darüber und ich erhielt eine eigene Kolumne für meine Empfehlungen, der lokale TV-Sender Erfurt wollte auch etwas für die Kultur tun und bat mich um eine Sendereihe, die wiederum der Buchhändler sponserte, ein anderer Freund, Computerfachmann, fand die ganze Idee so toll, daß er vorschlug, auch ins Internet zu gehen. Als das ganze Projekt so gewachsen war, stellten wir fest und wurden aus Fachkreisen auch darin bestätigt, daß dies das ideale Konzept für den Buchhändler ist, seinen Kunden einen buchhändlerspezifischen Rezensionsdienst anzubieten, über den seine Kunden entweder im Geschäft oder über das Internet bei ihm Bücher kaufen können. Aber eine Frage drückt mich jetzt doch noch, und sie wird Ihnen sicher nicht zum ersten Mal gestellt. Von Ihnen erscheinen in manchen Monaten fünfzehn Buchempfehlungen! Wie kann man so viel lesen, und wie schnell muß man lesen, um so ein gewaltiges Pensum zu schreiben; wird das schnelle Lesen nicht oberflächlich, nach welchen Kriterien suchen Sie Bücher aus? Puh, das sind aber ein Haufen Fragen. Aber Sie haben recht, es sind die, die mir immer wieder gestellt werden. Es ist richtig, man muß sehr schnell lesen können; das bedeutet aber nicht, daß das Lesen oberflächlich wird. Ein ABC-Schütze setzt beim Lesen Buchstaben aneinander, später erfaßt das Auge ganze Wörter, dann Wortgruppen, Satzteile und bei entsprechender Übung ganze Zeilen, was natürlich auch von der Schwierigkeit des Textes abhängig ist. In den Genuß der Sprache, das was ein gutes Buch eigentlich ausmacht, kommt man bei gekonntem Schnellesen genauso, wie bei langsamen, manchmal sogar noch mehr, weil der Fluß der Sprache noch deutlicher wird. Nach welchen Kriterien suche ich Bücher aus. Für mich ist die Sprache sehr wichtig; sie ist eine Kunst wie die Malerei oder die Musik - und beinhaltet übrigens von beiden etwas. Ein gelungener Roman stellt ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen kunstvoller Sprache und packender Handlung dar; wobei der Schwerpunkt nicht in der Mitte liegen muß. Und unter kunstvoller Sprache darf man sich nicht viele Schnörkel und Verzierungen vorstellen, sie können sein, wenn es zum Thema paßt, die Sprache muß der Handlung angepaßt sein. Grundsätzlich mag ich alle verschiedenen Genres. Alles zu seiner Zeit; manchmal ist mir einer der von mir sehr gern gelesenen Russen zu schwer, dann lese ich lieber vielleicht einen Krimi, dann ist mir das wieder einmal zu platt und ich lese ein gut geschriebenes interessantes Sachbuch - Kochbücher lese ich zum Beispiel auch manchmal gern -, das Buch muß einfach zu meiner Stimmung passen. Aber wie wählen Sie die Bücher aus? Alle Verlage versenden jährlich mindestens zweimal Listen mit ihren geplanten Neuerscheinungen. Dort suche ich mir aus, was mir vielleicht gefallen könnte. Die Leseexemplare werden mir zugeschickt. Wenn ich nicht schon beim ersten Blick oder besser gesagt auf den ersten zehn Seiten feststellen muß, daß ich ganz fürchterlich daneben gelegen habe, lese ich sie mindestens bis Seite 100, denn manche Romane sind Spätzünder, werden aber dann doch noch gut; wenn bis dahin alles gut gegangen ist, lese ich zu Ende und stelle fest, ob das Ende so gut ist wie der Anfang; und dann gibt es auch noch Bücher, von denen ich am Ende sagen muß, daß ich es gut finde, weil es einer ganz bestimmten Spinnerei von mir entgegenkommt, allgemein aber nicht so interessant ist. Und dann schreibe ich meine Rezension, das sind dann von zehn angefangenen Büchern im Schnitt vielleicht zwei oder drei. Ja , ich glaube, wir haben den großen Durchzug durch den Büchervielfraß geschafft, dank Ihrer Geduld. Und bevor Sie mich jetzt nach meinen Lieblingsbüchern fragen, will ich lieber gleich antworten: Natürlich liebe ich bestimmte Schriftsteller besonders, aber mein Lieblingsbuch ist immer das, das mir zur Zeit besonders gefällt. Und im Bett kann ich nicht lesen, da schlafe ich immer sofort ein, egal wie spannend das Buch ist. Vielen Dank Herr Büchervielfraß, ich hätte diese Fragen tatsächlich gestellt. Ich danke Ihnen noch einmal für das teilweise aufregende Gespräch und ich würde ungern etwas an diesem Interview kürzen.
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