Lesarten

Temporäres Archiv | Gedicht des Tages | 10.01.2013

Autor: Klaus Martens

Dieses wunderbare Naturgedicht, für den heutigen Leser anfangs wohl erst auf den zweiten Blick als geistlich erkennbar, ist Teil des neunbändigen Riesenzyklus Irdisches Vergnügen in Gott, den der Hamburger Autor und Übersetzer Barthold Heinrich Brockes im Zeitalter der Aufklärung zwischen 1721 und 1748 zum Lobe seines Herrn und  als schriftliche Frucht seines Altonaer Gartens verfasste.  Einst hochberühmt wie sein gelehrter Verfasser, ist vom Irdischen Vergnügen heute wenig mehr als die „Kirschblüte“ leicht in Anthologien und im Internet verfügbar. Dass dieser Text nicht vergessen wurde, mag seine Gründe in dem präzisen Realismus seiner Naturdarstellung haben, die – einst als wenig poetisch angesehen – heute gerade dadurch zu ergreifen vermag.  Hier spintisiert niemand gefühliglich, hier scheint, weiß auf schwarz, die Transzendenz aus den irdischen und himmlischen Dingen, in denen sie, so Brockes, ist.  In diesem Gedicht lässt sie sich finden.

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Gedicht: (1680-1747)

Autor: Barthold Heinrich Brockes Brockes

Kirschblüte

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beim Mondenschein;
Ich glaubt', es könne nichts von größrer Weiße sein.
Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
von zierlich-weißen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt,
Indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärzer hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was Weißers aufgefunden werden.

Indem ich nun bald hin, bald her
Im Schatten dieses Baumes gehe,
Sah ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe
Und ward noch einen weißern Schein,
Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein
Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weißes Licht,
Das mir recht in die Seele strahlte.
Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergetzte,
Dacht ich, hat Er dennoch weit größere Schätze.

Die größte Schönheit dieser Erden
Kann mit dem himmlischen doch nicht verglichen werden.