Startseite > Literaturkritiken > Geschichte und Politik > Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland
Während heutzutage selbst beim Tod eines Pop-Stars die kurzfristige Ansetzung eines "ZDF-Spezial" oder eines "ARD-Brennpunkt" die Regel sind, boten die im Sommer 1989 selbst für Politiker in Ost und West in seiner Konsequenz noch undurchsichtigen Vorgänge an der ungarisch-österreichischen Grenze keinen entsprechenden Anlass, welcher eine Sonderberichterstattung gerechtfertigt hätte. Selbst in den Hauptnachrichten war zum Beispiel die "Paneuropäisches Picknick" genannte Friedensdemonstration, welche die Ausreise (oder besser noch die Flucht) von ca. 600 DDR-Bürgern aus dem "Eisernen Vorhang" auslöste, nur einen Kurzbericht wert. Aber auch die Politik und die Bevölkerung trafen die Folgen dieser Vorgänge völlig unvorbereitet. Nachdem dieser erste Dominostein gefallen war, fiel nur knapp vier Monaten später die Mauer als das Symbol des Kalten Krieges, bereits ein Jahr später war die Wiedervereinigung vollzogen.
Jetzt 20 Jahre danach legt Andreas Rödder eine hervorragende Gesamtschau über die "Deutsche Revolution" als mit das größte historische Ereignis des 20. Jahrhunderts vor. Rödder legt einen hohen Anspruch an sein Werk. Basierend auf einer Synthese der verfügbaren Quellen und Forschungsstände will er aus den verschiedensten nationalen (ostdeutschen und westdeutschen) und internationalen Blickwinkeln die Ereignisse, die zur Wiedervereinigung führten unter Berücksichtigung begleitender historischer Zusammenhänge in seiner Aussage wissenschaftlich fundiert, aber doch für jeden verständlich, gesamtheitlich darstellen. Um es vorwegzunehmen: Das Buch wird seinem Anspruch in allen Bereichen gerecht.
Einer der Hauptdarsteller der Wiedervereinigung war der von Rödder als "Zauberlehrling" titulierte Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Dieser scheiterte mit seinem Versuch, Marxismus mit Wirtschaftsliberalismus sowie Kommunismus mit Demokratie zu vereinen auf der ganzen Linie. Durch eine wenig stringente, teils widersprüchliche Politik autorisierte er nicht nur die auf Freiheit und Demokratie abzielenden Bewegungen in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei sowie dann in der DDR, sondern unterstützte diese sogar mittelbar. Letztendlich führte seine Politik zu einem Zusammenbruch der ökonomisch, geografisch, politisch und militärisch völlig überdehnten Weltmacht. Innenpolitisch deswegen schwer unter Druck, errang Gorbatschow dagegen im Westen eine ungeahnte Popularität, insbesondere als er im Sinne der "Perestroika" durch eine vielbeachtete Rede vor den Vereinten Nationen dem "Kalten Krieg" die ideologische Grundlage entzog. Jedoch zog Gorbatschow, wie übrigens fast alle Politiker im Westen, zunächst den Status Quo eines geteilten Deutschlands nicht in Zweifel. Seine Realitätsferne über die Konsequenzen des Freiheitsdranges der osteuropäischen Bevölkerung, aber vor allem seine Weigerung, den Einsatz militärischer Mittel zumindest als Option für die Rettung des kommunistischen Weltreiches einzusetzen, ließen das Unmögliche möglich werden: Erst die Deutsche Einheit und dann am 25. Dezember 1991, als unmittelbar nach Gorbatschows Rücktritt die sowjetische Flagge auf dem Kreml eingeholt wurde, die Beerdigung der Sowjetunion. In nicht einmal vier Jahren wurde jahrhundertlange teils ruhmreiche Geschichte begraben.
Doch zunächst zurück in den Sommer 1989. Während in der Sowjetunion erste Auswirkungen der "Perestroika" und "Glasnost" spürbar wurden, verweigerten die politischen Gremien der DDR jegliche Reformen, ein Umstand, der laut Rödder schließlich zur Radikalisierung führte. Hätte man in Anlehnung an den "Großen Bruder" schrittweise Zugeständnisse an die jahrzehntelang kasernierte Bevölkerung gemacht, ohne dabei marxistisch-leninistische Prinzipien des Arbeiter- und Bauernstaates völlig über Bord zu werfen, wäre vielleicht die Situation nicht derart eskaliert und außer Kontrolle geraten. Dies gilt insbesondere für wirtschaftliche Reformen, war doch die finanzielle Krise der DDR einer der "Beschleuniger" der politischen Krise. Bestärkt durch die Geschehnisse in den osteuropäischen Nachbarstaaten formierte sich eine schlagkräftige Oppositionsbewegung, die aber, so der Autor, primär "nur" Reformen als Ziel hatte und die Zweistaatlichkeit nicht in Frage stellt. Doch die gefährliche Mixtur aus einer resignierten Bevölkerung, eines finanziell und wirtschaftlich am Boden liegenden Staates sowie einer politischen Führung, die alle Legitimitätsverluste leugnete und die real existierende Bedrohung unterschätzte (Zitat von Erich Honecker im August 1989: „Der Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf.“), brachten eine Lawine ins Rollen, die nicht mehr aufzuhalten war.
Noch am 7. Oktober, also nicht einmal fünf Wochen vor dem Fall der Mauer, feierte sich selbstherrlich das Regime im Zuge der Feierlichkeiten zum 40. Gründungsjahr der DDR, während sich andernorts die Bürgerbewegung für ihren entscheidenden Schlag formell gruppierte. Schließlich schwappte der Druck der Freiheitsbewegungen in den kommunistischen Nachbarregimes von Ungarn, über die Tschechoslowakei und Polen auch auf die DDR über. Mangels ausbleibender sowjetischer Unterstützung hatte das Regime keinerlei Drohpotentiale mehr, um seine "Parteisoldaten" auf Linie zu halten. Die langgehegte Sehnsucht nach Freiheit war durch Angst vor Repression nicht mehr aufzuhalten. Mit für Rödder "Kapitulation der Staatsmacht" im Zuge der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober, als das Regime (zum Glück) vor einem militärischen Einsatz der NVA zurückschreckte, "war das Regime über den Rubikon zurückgewichen." Selbst die Ablösung Erich Honeckers durch Egon Krenz am 18. Oktober konnte die Massen nicht mehr beruhigen, insbesondere als sich Gerüchte um Zahlungsunfähigkeit und Staatsbankrott verdichteten. Als der schlecht vorbereitete Mediensprecher von Egon Krenz am frühen Abend des 9. November den Beschluss des Zentralkomitees der SED zu den Ausreisemodalitäten von DDR-Bürgern unvollständig wiedergab, verselbständigten sich die Ereignisse, die "deutsche Revolution" fand ein unblutiges Ende und die Mauer fiel ohne weiteren Widerstand.
Ist die Geschichte der Geschehnisse vom Sommer 1989 bis zum Mauerfall spannend genug, werden in der Folge das innen- und außenpolitische Tauziehen um der beiden deutschen Staaten bis zum politischen Abschluss der Wiedervereinigung nicht weniger spannend erzählt. Rödder stellt nun vor allem den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, der als Spinne im Netz alle innen- und außenpolitischen Fäden zog, um aus den beiden deutschen Staaten eine politische, aber auch gesellschaftliche Einheit zu bilden. Trotz mancher, allerdings erst später in der Retrospektive offensichtlich werdenden Fehlentscheidungen (beispielsweise Art und Zeitpunkt der Währungseinheit, Einschätzung der ökonomischen Faktoren wie etwa der berühmte Spruch über die "blühenden Landschaften"), lobt der Autor, wie konsequent Kohl unbeirrbar von allen außen- und innenpolitischen Einflüssen seinen Weg ging und schließlich Erfolg hatte.
Dabei wurde die westdeutsche Regierung wie so viele zunächst von den Geschehnissen völlig überrumpelt und hatte keinerlei "Contingency Plan" in der Schublade. Mit dem Fall der Berliner Mauer fiel das Symbol der Teilung, die SED-Herrschaft war damit faktisch am Ende. Obwohl die Bevölkerung in Vereinigungsbefürworter und -gegner getrennt war, ging es wie Rödder ausführt für alle ausschließlich um existentielle Fragen, die nur von Außen, sprich durch die BRD gelöst werden konnten. Der Wille der eher rudimentären Reste der ostdeutschen Regierung konnte deswegen schlichtweg ignoriert werden. Innenpolitisch hatte Kohl so relativ leichtes Spiel. Mit der Verkündung des 10-Punkte-Programms brach Kohl das Tabu öffentlich über die Wiedervereinigung zu sprechen und zog durch die Schaffung von Tatsachen die Initiative an sich. Mit seiner Rede vor der Dresdener Frauenkirche am 19. Dezember 1989, für Kohl sein persönliches "Schlüsselerlebnis", traf er auch die Emotionen der Ostdeutschen und wurde nun unwiderruflich die bestimmende Kraft der Vereinigung. Die Stürmung des Ministeriums für Staatssicherheit am 15. Januar 1990 war für Rödder das letzte Anzeichen, dass nicht nur die SED-Reformregierung ihre Legitimation verlor, sondern die gesamte DDR in Auflösung begriffen war. Die materiell am Boden liegende DDR kam als "abtrünniger Sohn" ins vom Wohlstand gesegnete "Elternhaus" BRD zurück. Mit dem ersten Staatsvertrag, der zum 1. Juli 1990 in Kraft trat, fielen jegliche Grenz- und Zollkontrollen, über die beschlossene Währungseinheit wurden die Wirtschaftsordnung vereinheitlicht. Der zweite Staatsvertrag, der eigentliche Einigungsvertrag, bereitete dann die politische und rechtliche Grundlage für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990. Am 2. Dezember 1990 fanden die ersten gesamtdeutschen Wahlen statt, aus der die Bonner Regierungskoalition als klarer Sieger hervorging.
Die nationale Wende zog aber unwiderruflich eine internationale Dimension nach sich. Auch hier zog Kohl mit starker Unterstützung und Rückendeckung des amerikanischen Präsidenten George Bush alle Register der Diplomatie, um Vorbehalte Frankreichs, Englands und der Sowjetunion gegen eine Wiedervereinigung zu beseitigen. Die beiden entscheidenden Fragen nach Anerkennung der "Oder-Neiße-Linie" sowie nach Eingliederung eines wiedervereinigten Deutschlands in die NATO, waren dabei die Haupthürden. Im Zuge der Konferenz von Ottawa vom 12. bis 14. Februar 1990 wurde der sogenannte "Zwei-Plus-Vier-Prozess" geschaffen, der das Verfahren für die Wiedervereinigung auf dem internationalem Parkett festlegte.
Letztlich wurde die deutsche Einheit von allen Seiten akzeptiert, da das sich zunehmend radikalisierende Selbstbestimmungsrecht der deutschen Ostbürger und der drohende Kollaps der DDR einen schnellen Entscheidungsbedarf bedingte. Als sich die möglichen Veto-Mächte Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion auf keine gemeinsame Linie einigen konnten, andererseits die USA den Kurs Kohls in jeglicher Hinsicht unterstützte, der wiederum unbeirrbar an seinem eingeschlagenen Weg auf Basis der gefestigten Rolle Deutschlands als loyaler Bündnispartner festhielt, waren alle Widerstände gebrochen. Die Vereinigung Deutschlands wurde zu den Maximalkonditionen Bush und Kohls Realität. Nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie am 21./22. Juni 1990 im Deutschen Bundestag und in der Volkskammer der DDR sowie der (überraschenden) Zustimmung Gorbatschows am 31. Mai 1990 zur freien Bündniswahl eines wiedervereinigten Deutschlands, beendete am 12. September 1990 der "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" auch völkerrechtlich den Zweiten Weltkrieg. Am 3. Oktober 1990 wurde Deutschland ein souveräner Staat.
Die Deutsche Einheit ist ein Paradebeispiel dafür, dass Geschichte nicht vorhersehbar und schon gar nicht berechenbar ist. Für ihr Verständnis ist das vorliegende Buch dabei ein unverzichtbarer Bestandteil. In allen seinen Ausführungen leitet Rödder verständlich und nachvollziehbar das zunächst Irrationale her. Für Rödder bedingte die Verknüpfung von drei Handlungslinien den Fall der Mauer:
Neben den sehr detaillierten, aber jederzeit verständlichen Darstellungen der komplexen Vorgänge und Sachverhalte, die zum "Tag der deutschen Wiedervereinigung" führten, gibt Rödder am Ende einen umfassenden Überblick über deren Folgen. Unter anderem hinsichtlich der Belastungen für den Bundeshaushalt und den einzelne Bürger (Steuererhöhungen, Solidaritätszuschlag) für die Bundeswehr (über die "Scheckbuchdiplomatie" hin zur aktiven Beteiligung an friedenserhaltenden und- schaffenden Einsätzen), Familienpolitik (hier sind Elterngeld und Kinderkrippen mit die einzigen Errungenschaften die später von der DDR übernommen wurden), Justizwesen sowie auf die föderalistischen Strukturen. Auch wenn uns hier der Autor nicht mit Daten, Fakten und Statistiken verschonen kann, sind auch hier Rödders Stärken in der Analyse und Verknüpfung der unterschiedlichen Bereiche hervorzuheben. Bei aller Relevanz der internationalen Beziehungsgeflechte und des innereuropäischen "Ziehens und Zerrens" um die Wiedervereinigung ist nicht zu vergessen, und darauf weist Rödder mehrmals richtigerweise hin, dass durch die notwendige Kompromisspolitik quasi "nebenbei" der europäische Integrationsprozess einen immensen Schub erhielt, der schließlich am 7. Februar 1992 mit dem Vertrag vom Maastricht in der Gründung der Europäischen Union mündete.
Dass dem Sieg auf der außenpolitischen Bühne bald Ernüchterung in der Wirtschafts- und Finanzpolitik folgen würde, wurde von der Politik zwar bald erkannt, aber nicht in die Öffentlichkeit transportiert. Dieser Umstand erklärt so manche "ostalgische Bewegung", also das Hervorheben positiver Erinnerungen an Einzelaspekte des DDR-Regimes als quasi Gegenreaktion gegen die gefühlten Ungerechtigkeiten bis hin zu Minderwertigkeitskomplexen im Vergleich zu den Westbürgern. Für Rödder ein wesentliches Erklärungsmuster für das disharmonische Verhältnis "Jammerossis" versus "Besserwessis". Dies hätte für den der Autor vermieden werden können, wenn die Bundesregierung alle Bundesbürger in Ost und West zeitgerecht auf kommende Einschnitte und Verzichte vorbereitet hätte und vor allem die Wiedervereinigung nicht nur als Teil der hohen Politik, sondern als nationale Gemeinschaftsaufgabe unter Einbindung von uns allen gesehen hätte. Ein Appell an die dafür notwendige Solidarität wäre wünschenswert gewesen.
Rödder beweist eindrucksvoll, dass die Geschichte der Wiedervereinigung nicht auf eine Ansammlung von Daten und Fakten beschränkt werden kann. Stattdessen sind immer auch die äußeren Umstände, der Antrieb sowie die Motivation der wesentlichen Protagonisten und die Gefühle der Betroffenen unter Berücksichtigung der internationalen Zusammenhänge sowie wirtschafts-, partei-, verfassungs- und gesellschaftspolitischer Erwägungen und ihrer Interdependenzen zu berücksichtigen. So weckt er Verständnis für die Entscheidungsträger der damaligen Zeit, indem er sogenannten "Besserwissern" zu Verstehen gibt, in ihrem Urteil zwischen der 1989 wahrnehmbaren Situation und der heute möglichen retrospektiven Analyse zu unterscheiden. Man kann Kohl heute im Bewusstsein fast aller Zusammenhänge in vielen Entscheidungen kritisieren, aber 1989 und 1990 hatte er oftmals spontan zu entscheiden. Vor allem es ging ihm auch primär darum, die Gefühle (der Bevölkerung) vor die Vernunft zu stellen.
Ein wundervolles Buch über ein wahrlich wunderbares Ereignis.
© 2009 Andreas Pickel, Harald Kloth
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