Warum eigentlich ziehen uns die Briefe an Luca immer tiefer in ihren Bann? Und wer um alles in der Welt ist dieser ominöse Luca eigentlich, dem die Protagonisten Simone ihre Briefe schreibt aber niemals abschickt? Ist es ein guter freund? Ist es ein Ex-Lover? Oder gar ein Liebhaber? Wir wissen es nicht, und Martina Borger tut einen Teufel um unsere Neugier zu stillen!
Die Hauptdarstellerin schreibt erklärende, beschwörende, bittende, flehende und anklagende Briefe, schickt sie aber nicht ab. Stattdessen versteckt sie die Schriftstücke in einer roten Keksschachtel in der untersten Schublade ihres Schreibtisches, wo niemand sie finden soll. Sie berichtet über die Eiszeit, die nach Lucas Fortgang für sie begann, und wie grausam die Zeit für sie seither ist. Immer wieder spricht die Schreiberin von der Eiszeit - und man fühlt mir ihr; zu Anfang jedenfalls, denn je mehr Briefe man liest, desto mehr verschwindet die vorhandene Sympathie. Sie weicht rasch dem Unverständnis gegenüber einer Frau, die eine gänzlich emotionslose Beziehung führt, die fünf Jahre lang ihren eigenen Sohn schneidet und freudlos in den Tag hinein lebt. Sie ist nicht imstande Emotionen zu zeigen, im Gegenteil: sie scheinen ihr fremd zu sein.
Martina Borger versucht, die Leere und den Schmerz der plötzlich auf sich allein gestellten Frau zum Ausdruck zu bringen. Dabei entsteht Porträt eines depressiven Menschen in einer Sinneskrise. Die Angst, dass andere sie bemitleiden oder verachten könnten, treibt Simone in eine selbst gewählte Einsamkeit und Isolation. Sie hat ein gesellschaftliches Tabu gebrochen, vielleicht das größte einer Gesellschaft: sie verweigert sich der unwiderruflichen und absoluten Mutterliebe.
Mit Lieber Luca ist es der Autorin gelungen einen gut erzählten Briefroman vorzulegen. Gleichermaßen spannend und berührend ist diese Geschichte über Simone, Luca und einer verloren gegangenen Liebe. Bereits nach dem ersten Brief hat Martina Borger ihre Leserinnen und Leser genau an der Stelle, wo sie sie haben will: voller Spannung vor dem Buch sitzend - grübelnd, nachdenklich und nach und nach immer mehr gerührt, aber auch betroffen von dieser Geschichte. Voller Hoffnung liest man sich durch diese 200 Seiten, bis die Protagonistin endlich ihr Leiden enthüllt und der ganze Schmerz gänzlich an die Oberfläche drängt. Dass diese Gefühle nicht innerhalb der Zeilen gefangen bleiben, sondern auch auf den Leser projiziert werden, liegt an der wundervoll einfühlsamen, ruhigen und stellenweise sehr poetischen und gefühlsbetonten Sprache der Autorin, die Lieber Luca zu einer Lektüre der besonderen Art werden lässt.
Dieser Roman ist ein gut erzähltes und zutiefst spannendes Buch. Der Kunstgriff, mit jedem einzelnen Brief Puzzleteile zusammen zu fügen, ist absolut gelungen! Stringent und sehr glaubwürdig wird hier eine Familiengeschichte vor dem Leser ausgebreitet, die einen unerwarteten Abschluss findet. Martina Borger erweist sich als meisterhafte Beobachterin von Seelenzuständen und festigt mit Lieber Luca ihren Platz unter den besten deutschen Autorinnen!
Wolfgang Gonsch
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© 2007 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth
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