Startseite > Literaturkritiken > Belletristik > Viktorija Tokarjewa: Liebesterror
Ins Deutsche wunderbar von Angelika Schneider übersetzt, ist eine neue Kurzprosa von der russischen Autorin Viktorija Tokarjewa erschienen. Es sind vier Erzählungen unter dem Titel Liebesterror.
Wie passen diese zwei Wörter zusammen? Liebe- ja, Terror- nein. Aber im neuen Buch von V. Tokarjewa bilden sie trotz ihrer Gegensätze eine Einheit. So findet nun das fast modische Wort Terror seine Widerspiegelung auch in einer Liebesgeschichte.
In diesem Buch geht es in erster Linie jedoch wirklich um die Liebe. Die erste Erzählung ist die Geschichte zweier Frauen in der Nachkriegszeit, mit allen Schwierigkeiten und Entbehrungen, die Witwen damals auf sich nehmen mussten. Sie sind zwar Freundinnen und helfen sich gegenseitig, aber gleichzeitig sind sie Rivalinnen. Diese Rivalität ist verdeckt, aber ständig da. Und das wird auf ihre Töchter übertragen. Wer hat nun ein besseres Kleid, einen besseren Job, eine bessere Wohnung oder einen besseren Ehemann? Tossjas Tochter Nonna hat wohl eine gute Wahl getroffen und einen Schauspielprofessor geheiratet. Da sieht ihre Mutter ein neues Tätigkeitsfeld für sich. Tossja zieht in die Wohnung ihrer Tochter und fängt an, nach ihrem Plan und nach ihrem Wunsch zu regieren. Alles weiß sie viel besser, vor allem, dass aus einer Kartoffel nie eine Ananas wird. Sie übernimmt alle Hausarbeiten, mischt sich überall ein, gibt Ratschläge, verdächtigt, terrorisiert und geht allen auf die Nerven. Aber sie opfert sich auf und tut das alles doch nur aus Liebe, aus Liebe zu ihrer Tochter! Ach, diese allmächtige Mutterliebe, zu was kann sie führen und womit kann sie enden?
"Salto mortale" schildert ein Schicksal wenn es einen überschlägt und er wieder auf die Füße kommt. So wie bei Schura, der weiteren Heldin von V. Tokarjewa. Ihr Mann war ein Militär, zwanzig Jahre älter als sie und gleichaltrig mit ihrer Mutter. Da die Mutter gewohnt war, die Hauptperson und überhaupt die einzige Person in Schuras Leben zu sein, gab es immer einen Kampf zwischen den beiden. Ihr Ehemann war sehr direkt und geradlinig und ihre Mutter laut und ungebildet. Die arme Schura stand mitten drin. Was sollte sie machen? Ihre Mutter tat ihr leid, aber ein Ehemann ist ein Ehemann, ein Beschützer, ein Versorger und der Vater ihrer Tochter. Schura wollte als erste von ihnen drei sterben. Manchmal aber macht das Schicksal eben einen Salto mortale und alles kommt ganz anders ...
Die anderen zwei Kurzgeschichten erzählen von der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Der junge Regisseur Tischkin verbringt aus Langeweile eine Nacht mit einer Frau. Sie will mit ihm weg von diesem Ort, wo sie im Elend lebt. Aber ihm bedeutet sie eigentlich nicht viel. Nur hat sie unerklärlicherweise eine anziehende Wirkung auf ihn. Sie ist jung und sehr schön. Tischkin kann sie nicht vergessen. Ein paar Jahre später besucht er sie wieder und findet eine von Krebs gezeichnete Gestalt, todkrank und geschunden. Wieder vergehen etliche Jahre und siehe da, er trifft seine frühere Liebe wieder: gesund, reich, stark und unabhängig. Warum hat er damals nicht auf sein Herz gehört, wo war die Liebe und was für ein Spiel trieb sie mit ihm?
Eines wird dem Leser dieser Geschichten klar: dort wo Liebe ist, gehört auch das Leiden, das Drama dazu. Das ist die Besonderheit der berühmten russischen Seele, welche die Autorin nun wirklich gut kennt und hervorragend beschreibt. Es ist auch vollkommen egal, um welche Zeit es sich handelt, heute, morgen oder gestern, im Sozialismus oder im Kapitalismus: die Liebe und das Leiden sind gleich, weil sie einfach nur menschlich sind.
Viktorija Tokarijewa ist in Russland sehr populär und viele ihrer Bücher sind ins Deutsche übersetzt. Der Grund ihrer Popularität besteht hauptsächlich darin, dass ihre Figuren vom Leser genauso schnell wieder erkannt werden, wie die Umstände unseres Alltags. Ihre psychologischen Beschreibungen sind einfach, kurz und verständlich, deswegen spannend und treffend wie unser Alltag. Sie beherrscht es, mit einfachen Worten das Wichtigste zu sagen und das ganze menschliche Wesen zu beschreiben. Ironie und Humor sind ständige Begleiter ihrer Figuren, egal wie das Leben mit ihnen spielt. Und so findet der eine oder der andere Leser vielleicht auch die Antworten auf die ihn seit langem beschäftigenden ewigen Fragen nach Liebe und Glück.
Ludmila Hück
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© 2009 Ludmila Hück, Harald Kloth
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