Vor einer vierstündigen Zugfahrt bekam ich das neue Buch von Jan Costin Wagner Das Schweigen in die Hand. Schon der Epilog weckte mein Interesse, so dass ich das Buch bis zum Ende der Zugfahrt im wahrsten Sinne des Wortes „verschlungen“ hatte. Was ist das Fesselnde an diesem außergewöhnlichen Roman?
33 Jahre nach einem ungeklärten Mord an einem 13jährigen Mädchen verschwindet am exakt gleichen Ort unter ähnlichen Umständen erneut ein Mädchen. Der damals ermittelnde Kommissar der Mordkommission, eigentlich schon im Ruhestand, sieht nun endlich die Gelegenheit sein Stigma, den Tätern nie habhaft geworden zu sein, ein für alle Mal zu beseitigen. In der Folge wird die Aufklärung des Falles in Verbindung mit den Vorgängen vor 33 Jahren in überaus fesselnder Weise anhand von drei handelnden Personen beschrieben: Kimmo Joentaa, der im aktuellen Fall den leitenden Beamten verkörpert, Antsi Ketola, der im Ruhestand befindliche Kommissar, der nun auf eigene Faust ermittelt und Timo Korvensuo, Eigentümer eines Immobilienbüros und vor 33 Jahren zwar nicht der Täter, aber Mitwisser.
Während sich die Wege der ersten beiden handelnden Personen mehrmals zu den verschiedensten Gelegenheiten meist freundlich, aber auch mal kontrovers kreuzen, geht Korvensuo seinen eigenen Weg durch den Roman. Die Wege der Exekutivorgane kreuzen sich physisch kein einziges Mal mit dem von Schuld gepeinigten, nur quasi metaphysisch sind sie mit einander verbunden. Erst im Tod sollen Sie sich treffen.
Das Buch lebt von der großartigen Darstellung der Akteure. Auf der einen Seite der eher abgehalfterte Ex-Kommissar, sehr dem Alkohol zugeneigt Erlösung für die Schmerzen des ungelösten Falles suchend. Der Drang nach Befriedigung des eigenen Ego und die Gelegenheit, sein angekratztes Image aufzupolieren treiben ihn sogar soweit, mit der Mutter der vor 33 Jahren getöteten Pia in einer Fernsehshow aufzutreten, um den Täter von damals zu provozieren und aus dem Versteck zu locken.
Der zweite Protagonist ist sein Nachfolger, der den Tod seiner Frau vor zwei Jahre bei Weitem nicht überwunden hat. Unfähig, sein Leben neu zu sortieren und so auch beruflich seine Gedanke überall herumschweifen lässt, nur nicht auf die Arbeit. Ja und schließlich der Täter, der zwar nicht persönlich Hand an dem Opfer anlegte, jedoch den eigentlichen Mörder in der Vertuschung seine Tat unterstützte und schwieg. Nicht die eigentlich nebensächliche Aufklärung des Verbrechens, sondern besonders der Weg von Korvensuo durch letztendlich sechs Tage (8. bis 13. Juni) Martyrium, machen das Buch so besonders. Der Verlauf der Beschreibung eines glücklichen Familienvaters, gutsituiert, eigenes Haus, Ferienhaus am See zwei lebhafte wohlerzogene Kinder, etc. über das Auslösen psychischer Schmerzen aufgrund des neuen Verbrechens, die vergebliche Mühe alles Damalige zu vergessen, schließlich die erneute bewusste Konfrontation mit der Vergangenheit hin zu ... das Ende sei hier nicht verraten.
Das überaus beklemmende Buch hinterlässt aufgrund der schonungslosen Offenlegung der Psychogramme der Akteure, aber auch das Tatortes Finnland ein grausiges Frösteln. Der Gedanke, ob nicht auch der nette Nachbar von nebenan eine Leiche im Keller haben könnte, verfolgt einen durch den Roman. Dem Autor gelingt es so, den Leser ohne spektakuläre und publikumswirksame Spannungsmomente, quasi „schweigsam“ zu fesseln.
Der Roman macht Lust auf mehr des noch jungen Autors. Seine ersten beiden Publikationen Nachtfahrt (Krimi des Jahres 2001) und Eismond werden mit Sicherheit zu meinen nächsten Büchern gehören.
© 2007 Andreas Pickel, Harald Kloth
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