Hi, die Geschichte ist auch eine meiner ersten, dürfte also viel Anlass zur Kritik bieten. Da ich sie aber demnächst weiter ausbauen will, dachte ich mir, ich stelle sie mir ein und hole mir ein paar Tipps für die Überarbeitung. Also, spart nicht mit Kritik.
Matthias stand in seinem vollbesetzten Schankhaus an der Theke und war gerade damit beschäftigt, mehrere Trinkbecher in einem Wassertrog zu reinigen. Er führte die Schenke „Sturmwind“ nun schon fünfzehn Jahre und größtenteils waren es gute Zeiten für ihn gewesen. Auch an diesem Abend war der Schankraum erfüllt von dem Lachen und den Gesprächen zahlreicher Gäste. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft, die sich in seiner Schenke eingefunden hatte.
Einfache Tagelöhner, die ihren Kummer in Met ertränkten, Abenteurer, die sich bei Speis und Trank entspannen wollten, und sogar Adlige waren vereinzelt in der Menge zu sehen. Allerdings blieben sie meistens unter sich und besetzten die hintersten Tische im Dunkel des Raumes. Weit weg von dem heimeligen Herdfeuer nahe der Theke, das eines der wenigen Lichtquellen neben den Talgkerzen darstellte, die sich auf den Tischen befanden und ein warmes goldenes Licht auf die sie umgebenden Anwesenden und Gegenstände warfen. Über dem Feuer hing ein großer Topf mit Eintopf. Auf einem kleinen Ofen aus Backsteinen daneben erhitzte Matthias Met und Wein für seine Gäste, denn es war in den vergangenen Tagen kalt geworden. Der Winter kündigte sich in großen Schritten an.
Seine Bedienungen, Marja und Carmen, hatten an diesem Abend viel zu tun, immer wieder quetschten sie sich durch die Menge der Gäste und balancierten dabei Tabletts mit scheinbar schier zahllosen Krügen. Man mochte kaum glauben, dass die beiden zierlich wirkenden Frauen überhaupt eines der Tabletts anheben konnten, aber ihnen gelang es sogar, diese mit nur einer Hand über die Köpfe der Anwesenden hinweg zu tragen und dabei mit der anderen die Unverbesserlichen abzuwehren, die meinten, eine Schankmaid sei Freiwild und für jeden zu haben.
Hin und wieder musste eine arme Seele erfahren, dass auch Frauen verdammt hart zuschlagen konnten und zwar immer dann, wenn einer dieser Rüpel eine Grenze überschritt und Carmen oder Marja ihn Bekanntschaft machen ließen mit einem gefüllten Metkrug, allerdings an der Schläfe.
Jedoch, kam das äußerst selten vor und die anderen Gäste beförderten dann den Bewusstlosen zur Tür hinaus. Nie verlor einer ein Wort darüber.
Alle mochten die beiden Frauen und wenn ihnen einer zu nahe trat, dann hatte er eine etwas ruppige Art des Umgangs verdient, wie sie sich ausdrückten.
Carmen und Marja waren einer der Gründe, warum Matthias’ Schenke immer voll war, denn auch wenn sie sich nie auf etwas einließen, so schäkerten sie doch gerne mit den Männern und machten ihnen augenzwinkernd Hoffnungen, von denen alle wussten, dass sie sich nicht erfüllen würden.
Die anderen Gründen für seinen Erfolg waren sein Met, der beste der Gegend, und vor allem: Roland.
Roland war mittlerweile ein alter Mann und saß, seitdem Matthias die Schenke übernommen hatte, immer an demselben Platz.
Dieser befand sich direkt neben dem Herdfeuer. Das Feuer erleuchtete den Platz nur zum Teil und die Schatten warfen tanzende Muster auf jeden, der in der Nähe saß.
Dort stand ein einfacher Stuhl ohne Verzierung und ein grob gezimmerter Holztisch, beides aus Matthias’ Anfangszeit, kurz nachdem er die Schenke übernommen hatte. Der Stuhl sah mittlerweile aus, als ob er zusammenbrechen würde, sobald sich jemand auf ihn setzte. Man konnte sehen, dass jedes Bein schon mindestens einmal gebrochen und wieder zusammengeflickt worden war. Der Tisch war in keinem wesentlich besseren Zustand. Er hatte versucht, Roland einen neuen Stuhl und einen neuen Tisch dort hinzustellen, aber Roland hatte auf die alten Sachen bestanden und damit gedroht, keinen Fuß mehr ins „Sturmwind“ zu setzen. Er pflegte zu sagen, dass der Stuhl zu ihm gehöre wie sein Schwert und sein Bogen, dass er die Erinnerung an ihn bewahren werde, auch wenn er selbst nicht mehr da sei.
Deshalb hatte ihm Matthias versprechen müssen, Sorge dafür zutragen, dass der Stuhl die Zeiten überdauern würde.
Auf dem Tisch stand stets ein Becher des besten Weines bereit, egal, zu welcher Tageszeit. Wenn Roland kam, sollte er immer sofort etwas zu trinken vorfinden.
Gleichgültig, wie voll die Schenke war, sobald er erschien, stürzten Carmen und Marja zu ihm und begrüßten ihn herzlichst. Sie hatten den alten Mann in ihr Herz geschlossen und betrachteten ihn wie einen entfernten Onkel, der ihnen in ihrer Kindheit vorenthalten worden war.
Matthias selbst ging dann nach hinten in die Küche und holte einen Teller des schmackhaftesten Essens, was er an dem jeweiligen Tage bieten konnte, und stellte ihn nach einem kurzen Nicken Rolands auf den alten Tisch.
Matthias sah auf und betrachtete die Sanduhr, die an der Wand hing.
Roland würde jeden Augenblick im „Sturmwind“ auftauchen und tatsächlich öffnete sich die Tür und eine in einem weiten Mantel gehüllte Gestalt schob sich in den Schankraum.
Die Gespräche wurden kurz leiser, als die anderen Gäste erkannten, wer soeben hereingekommen war.
Roland ging mit langsamen und bedächtigen Schritten in Richtung seines Platzes. Bevor er dort angelangt war, warteten da schon Carmen und Marja auf ihn, nahmen ihm den Mantel ab und drückten ihm jeweils einen Kuss auf die Wangen.
Unter dem Mantel kam ein Mann zum Vorschein, dem seine vielen Winter ins Gesicht geschrieben standen. Er hatte einen langen weißen Bart, ebensolche Haare und eine runde Nase. Aus schelmisch leuchtenden blauen Augen betrachtete er die Welt. Seine Statur ließ erkennen, dass er einmal enorme Kraft besessen hatte und immer noch über einen erheblichen Teil davon verfügte. Seine Schultern waren immer noch breit, wenn auch etwas eingefallen.
Er bedankte sich bei Carmen und Marja, drückte sie noch einmal kurz an sich und setzte sich behutsam auf seinen Stuhl. Dann griff er zu dem Becher vor ihm und nahm einen großen Schluck. Als er ihn absetzte, stand auch schon Matthias vor ihm mit einem Teller voll Essen. Roland nickte, der Teller wurde vor ihm abgestellt und er begann zu speisen.
Das alles war Teil eines Rituals, was sich jetzt schon seit fünfzehn Jahren so gut wie jeden Abend abspielte.
Wenn Roland aufgegessen hatte, würde der zweite Teil des Rituals folgen und damit auch der Grund, warum Matthias niemals Geld von Roland verlangte und er so wichtig für das „Sturmwind“ war.
Nach anfänglichem Zieren und mehrmaligen Aufforderungen und ein paar Met würde Roland beginnen, Geschichten und Legenden zu erzählen, an denen er selbstverständlich einen großen Anteil hatte und die alle wahr waren, so wahr wie es auch die Götter waren. Seine Geschichten entführten einen an Orte und in Zeiten, die keiner von ihnen je sehen oder erleben würde. In ihnen wurden Orte, Gegenstände und Wesen lebendig, an deren Existenz kaum noch einer glaubte, außer in den Momenten, in denen Roland von ihnen erzählte. Und dies tat er in einer Weise, dass die Zeit um einen herum still zu stehen schien. Man konnte förmlich alles vor sich sehen, es riechen, ja sogar anfassen.
Er war mehr als nur ein begnadeter Erzähler, er war ein Magier der Worte, und diese Macht nutzte er, um anderen Menschen Freude zu bringen, sie aus ihren Alltag herauszureißen.
Unbemerkt von den Gästen und von Matthias war noch ein weiterer Gast kurz nach Roland hereingekommen: Ein Mann, gewandet in einem schwarzen Umhang, bewaffnet mit Schwert und Dolch. Er trug Armschienen aus schwarzem Leder und auch seine Rüstung, bestand daraus. Unter seinem rechten Auge hatte er eine kleine Narbe, seine Nase sah aus, als ob sie schon einmal gebrochen gewesen wäre und von einem sehr fachkundigen Heiler gerichtet worden sei. Er hatte braune Augen und seine Augenbrauen standen dicht beisammen. Seine Haare waren strohblond und kurz geschnitten.
Er fand noch einen einzelnen Platz in einer Ecke der Schenke, setzte sich und beobachtete aufmerksam das Geschehen um ihn herum.
Beobachtete die Anwesenden, die anfingen Roland aufzufordern, endlich mit seinen Erzählungen und Berichten seiner Reisen an diesem Tag zu beginnen. Beobachtete Roland, der die Momente der Aufmerksamkeit zu genießen schien und sie noch etwas hinauszögern wollte, indem er nach mehr Met verlangte und sich Zeit ließ, ihn anschließend zu trinken. Der Fremde sah sich das alles mit großer Aufmerksamkeit an, aber auf seinem Gesicht war keine Gefühlsregung zu erkennen. Er saß einfach nur da und blickte Roland direkt an, dann winkte er Carmen zu sich heran und bestellte einen Becher heißen Mets und etwas zu essen bei ihr. Als er beides erhalten hatte, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und hörte augenscheinlich entspannt den Erzählungen Rolands zu. Nur einem sehr guten Beobachter wäre aufgefallen, wie angespannt er in Wirklichkeit innerlich war.
Während der ganzen Zeit, die er Roland zuhörte, schien er ihn genau zu mustern. Dann stand er auf und ging direkt auf Matthias zu, der sich hinter seiner Theke befand und auch den Erzählungen Rolands lauschte.
Matthias hatte die üblichen Rituale um Rolands Person beobachtet und natürlich auch mitgemacht, als es scheinbar darum ging, den alten Mann dazu zu bewegen, mit seinen „Reiseberichten“ anzufangen.
Einen hatte er bereits schon erzählt und nachdem das erste Fass aufgebraucht, unter die Kundschaft gebracht worden und ein zweites geöffnet war, begann Roland mit seiner zweiten Geschichte. Eine, die er schon einige wenige Male zum Besten gegeben hatte.
In ihr ging es darum, wie er ganz alleine die Besatzung und die Ladung eines Schiffes bei Sturm vor angreifenden Piraten gerettet hatte, die die Gelegenheit, dass der Mast seines Schiffes gebrochen war, nutzen wollten, und gerade erreichte er den Höhepunkt dieser seiner Geschichte:
„ .... die Wellen waren turmhoch, überall lief Wasser herein und so schnell die Matrosen auch versuchten, es aus dem Kiel hinauszubefördern, das Wasser war doch schneller wieder drin. Die Wassermassen begruben uns förmlich unter sich, doch der „Seeschwan“ focht unbeirrt seinen Kampf gegen die See und gewann ein ums andere Mal.
Stundenlang ging es so, das Schiff taumelte, es bäumte sich auf, es schlingerte und trotz allem hielt ich das Steuerruder in der Hand und hielt uns auf Kurs.
Und dann, wir befanden uns sicher schon zwei Tage mitten im Sturm und viele Männer mit einem weniger sicheren Stand als ich waren schon fortgespült worden, geschah es.“
Rolands Stimme war bei den letzten Worten leiser geworden und alle Anwesenden waren still, hätte sich in dem Moment jemand bewegt, auch nur ganz sacht, man hätte es gehört, als ob ein Donnerschlag erschollen wäre.
Roland saß da und blickte alle mit einem leicht entrückten Gesichtsausdruck an, als ob er sich in Erinnerungen befinden würde, die er mit niemandem teilen wollte, die keinen anderen als ihn etwas angingen, höchstens noch die Männer, die damals zur Besatzung des Schiffes gehört hatten.
Matthias musste grinsen. Das gehörte zu Rolands Dramaturgie bei der Geschichte, genau an der Stelle machte er immer eine Pause und tat so, als ob er nicht mehr weitererzählen würde, dabei wartete er darauf, dass ihn jemand aufforderte, weiter zu berichten. Bei vielen seiner Geschichten hatte Roland einen solchen Punkt eingebaut, aber auch wenn man das wusste, verfehlte die Pause nie ihre Wirkung, wie sich Matthias eingestehen musste.
Und tatsächlich fand sich auch an diesem Abend jemand, der den scheinbar geistig abwesenden Roland wieder zurückholte und ihn aufforderte weiterzuerzählen, was sich Roland immer mit etwas zu trinken vergüten ließ.
Dann setzte er fort.
„Und dann geschah es, eine wirklich riesige Welle, so groß wie ich sie mein Lebtag nie wieder gesehen habe, bäumte sich vor dem Schiff auf, in ihrem Inneren konnte ich etwas ausmachen, was ich bis dahin immer als Seemannsgarn abgetan habe. Etwas von dem ich überzeugt war, dass es das nicht geben konnte. Wahrhaftig eine Kreatur, die der Hölle entsprungen sein musste, denn ein Geschöpf des Himmels kann niemals so hässlich und abstoßend sein, so verdorben, dass es einfach friedliche Seemänner angreift.
Es hatte acht Arme, jeder länger als zehn Schiffe hintereinander, gemessen von Klüver bis Heck. Aus jedem dieser Arme troff gelblich-grünlicher Schleim, der bei Berührung das Wasser zum Kochen brachte, und da, wo keine Öffnungen für den Schleim waren, befanden sich an den Armen Augen so schwarz wie Kohle. Kein Licht spiegelte sich in ihnen, sie schienen direkt ins Nichts zu führen. Aber das Schlimmste war das Maul, aus dem der Rest seines Körpers zu bestehen schien. Es hatte oben und unten jeweils zehn Reihen Zähne, die so scharf wirkten, wie das schärfste Schwert, das ihr euch vorstellen könnt.“
Bei diesen Worten wurde Roland wieder leiser und beugte sich zu der Talgkerze vor, so dass ihr Licht über sein Gesicht tanzen und ihm ein unheimlicheres Aussehen geben konnten. Die anwesenden Frauen klammerten sich an ihren Männern fest und gaben vergnügte Laute des Erschreckens von sich. Erzähler und Publikum waren perfekt aufeinander eingespielt.
„Dann“, Roland hob seine Stimme zu einer Lautstärke an, dass sich die Zuhörer weiter vorne fast die Ohren zuhalten mussten, und schlug mit der flachen Hand energisch auf den Tisch, „kam zu allem Überfluss noch ein Piratenschiff in Sichtweite und hielt auf uns zu, mehr dazu gezwungen als freiwillig, trotzdem bereiteten sie sich schon darauf vor, uns zu kapern, und griffen zu ihren Waffen. Unsere Lage war hoffnungslos und keiner hatte eigentlich eine Chance das zu überleben, wäre nicht ich an Bord und Steuer gewesen. Das Ungeheuer zerschlug mit seinen widerlichen Armen zunächst unseren Mast und fegte dabei zwei Männer von Deck. Seine Arme hinterließen tiefe Brandspuren auf Deck. Allerdings wurde das Feuer nahezu sofort von der Riesenwelle, die über uns auch noch hereinbrach, gelöscht. Ich steuerte hart nach backbord, und wich dem ....“
Matthias fiel ein, dass er sich noch um den Eintopf kümmern musste, den er zu Beginn der Geschichte neu aufgesetzt hatte, und ging in die Küche.
Er bedauerte es, Roland nicht zuhören zu können, denn diese Geschichte war eine der besten, die Roland von seinen Reisen erzählte, und Matthias hörte sie nur zu gern, denn immer, wenn Roland sie erzählte, veränderte er sie in Kleinigkeiten, die sie noch besser werden ließ, und heute war er besonders gut.
Darum beeilte sich Matthias so schnell wie möglich, wieder in den Schankraum zu kommen, doch als er ihn betrat, war Roland schon zum Ende gekommen und heimste den wohlverdienten Applaus ein und nahm den Wein an, den einer der Gäste für ihn bezahlt hatte.
An der Theke wartete ein Gast auf Matthias und er trat zu ihm. Der Fremde war ganz in schwarz gekleidet, hatte strohblondes Haar und trug, was ungewöhnlich war, auch eine schwarze Rüstung und Waffen an der Seite, die im „Sturmwind“ nie von Nöten waren und deshalb auch von jedem Besucher von vorneherein zu Hause oder auf seinem Zimmer gelassen wurden.
„Wie kann ich Euch helfen? Was möchtet Ihr trinken? Möchtet Ihr auch etwas essen?“, sprach Matthias ihn an.
„Ich möchte nichts von den beiden Dingen, die ihr mir angeboten habt, vielmehr benötige ich eine Auskunft Eurerseits. Wenn Ihr sie mir denn geben mögt?“, der Mann sah Matthias mit einem nichtssagendem Blick an, nichts war daraus abzulesen. Irgendwie wirkt er sehr unheimlich auf Matthias. Am liebsten wollte er ihm nichts anvertrauen, wer wusste schon, wem es schaden mochte? Trotzdem antwortete er:
„Sicher, sofern ich Euch die Auskunft geben kann, die Ihr begehrt, werde ich es tun. Also, was wollt Ihr wissen?“
„Ich würde gerne wissen, ob das da hinten wirklich Roland von Bossk ist. Ich habe in letzter Zeit viel von ihm in dieser Gegend gehört. Er scheint ja wirklich mal ein großer Kämpfer gewesen zu sein, wenn das stimmt, was über ihn erzählt wird. Von ihm selbst und anderen. Vielleicht kann ich ja noch was von ihm lernen. Auch wenn ich finde, dass er doch etwas in seinen Geschichten übertreibt, aber ich bin gerne bereit zu glauben, dass sich manche Dinge in abgeschwächter Form so zugetragen haben. Also, ist er es oder ist er es nicht?“
Matthias konnte nicht anders als zu lächeln, lauthals loszulachen wagte er nicht. Mühsam beherrscht gab er von sich:
„Ja, das ist Roland von Bossk. Aber ich muss Euch leider enttäuschen, er ist niemals aus dem Ort herausgekommen und die einzigen Gegner, die sein Schwert gesehen hat, waren die Holzscheite, die es für das Feuerholz gespalten hat. Roland hat nur immer davon geträumt, ein großer Held zu sein, aber gewesen ist er es nie. Er war immer ein Bestandteil des Dorfes und hat es nie verlassen und irgendwann hat er angefangen, von seinen „Reisen“ zu erzählen.
Der Fremde sah Matthias bestürzt an.
„Soll das heißen, ich bin auf die Geschichten eines Verrückten hereingefallen, der sich all das ausdenkt?“
„Ich würde ihn nicht verrückt nennen. Er tut ja niemanden etwas, aber ja, all das hat sich nur in seinem Kopf abgespielt.“
Erschüttert sah der Fremde zu Boden. Fassungslos über das, was er gerade gehört hatte. Eine Welt schien für ihn zusammenzubrechen.
„Ich hatte geglaubt, endlich jemanden gefunden zu haben, der mir noch etwas im Kriegshandwerk beibringen kann, stattdessen finde ich einen alten Mann, der ein Gefangener seiner eigenen Fantasie ist. Nein, von ihm werde ich wohl nichts lernen können. Ich werde weiter nach einem Lehrmeister suchen müssen. Ich bedauere, hierher gekommen zu sein.“
„Seid Euch nicht zu sicher, dass Ihr umsonst hierher gekommen seid, ohne etwas lernen zu können. Roland ist kein Gefangener seiner Fantasie, vielmehr ist er wahrlich frei.“
„Was meint Ihr damit? Er lebt doch in seiner eigenen Welt und glaubt selbst, was er erzählt.“
„Das tut er tatsächlich. Aber seht Ihn Euch an, er ist glücklich damit, er hat Ruhe und Frieden gefunden. Ihr hingegen werdet immer im hier und jetzt verankert sein und hinter etwas herjagen, das Ihr nicht erreichen könnt, und dabei immer dieselben Wege beschreiten. Er hingegen ist wirklich frei, in seinen Gedanken kann er hingehen, wohin er will. Tun, was er will, und sein, was er will. In seinen Träumen über alle Grenzen hinwegreisen. Für ihn bestehen sie nicht. Das nenne ich wahre Freiheit. Denkt mal drüber nach und in ein paar Jahren werdet Ihr vielleicht verstehen, welche Art Freiheit ich meine.
- Er sieht mehr als wir anderen und vor allem gibt er Hoffnung und nicht den Tod!“ Matthias’ Blick wanderte zum Schwert an der Seite des Fremden und mit diesen Worten schloss er seine kleine Ansprache an ihn und dieser verließ sichtlich verwirrt das Schankhaus.
Bald hatte Matthias den kleinen Vorfall vergessen.
Jahre später betrat ein Mann in schwarzes Leder gehüllt und einen schweren Mantel umgeworfen, dessen Kapuze bis tief in sein Gesicht reichte, an einem kalten Wintertag das Schankhaus von Matthias. Auch an diesem Abend war es gut besucht und Roland, der sichtlich älter geworden war, saß schon auf seinem Stuhl und würde gleich beginnen zu erzählen. Die ersten Rufe nach einer Geschichte waren schon erschollen und alles wartete darauf, dass Roland begann. Dieser trank gemächlich seinen Krug Met aus, wie er es schon viele Male vorher getan hatte, wobei er jetzt in seinem fortgeschrittenen Alter etwas länger brauchte, und setzte ihn mit einem zufriedenen Seufzer ab.
„Nun, gut“, wollte er gerade seine Geschichte beginnen, als ein freudiger Ruf durch das Wirtshaus hallte.
„Roland, mein Freund, dass ich dich nach all den Jahren wiedersehe. Das muss wahrlich ein Wunder sein. Hier hattest du dich also verkrochen. Ich freue mich ja so, dich wiederzusehen. Erinnerst du dich noch an mich?“ Eine schwarze Gestalt bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb vor dem leicht verdutzt wirkenden Roland stehen.
Dieser starrte das Gesicht unter der Kapuze unsicher an, doch dann ging der Moment vorbei und mit einem Ausdruck des Erkennens auf seinem Gesicht rief er:
„Bjorn! Komm, setz dich, nimm deinem Mantel ab. Du weißt ja, in meinem Alter braucht man seine Ruhe, die Knochen wollen nicht mehr so wie man selbst. Und da ich nicht mehr ausziehen kann, erzähle ich den Leuten nun von meinen – unseren Taten. Diese Dörfler sind ganz begierig darauf zu erfahren, was in der Welt vor sich geht. Setz dich! Setz dich!
Und erzähl!“
Die Gäste starrten einander verwundert an. Niemand hatte jemals von diesem Bjorn, der angeblich ein Freund von Roland war, etwas gehört, aber jetzt saß er dort neben Roland. Gespannt warteten die Anwesenden, was als Nächstes passieren würde.
Selbst Matthias wusste nicht, was er von dem wiedergefundenen Freund halten sollte, schließlich hatte Roland ja nie das Dorf verlassen.
Bjorn nahm seinen Mantel ab und setzte sich auf einen hastig von Roland herangezogenen Stuhl. Als er die Kapuze zurückschlug, erschien strohblondes Haar auf einem Kopf, dessen Gesicht mehrere Schlachten gesehen hatte. Die Nase war gebrochen und gerichtet worden, kleine Narben befanden sich unter den Augen und viele durchwachte Nächte hatten ihre Spuren tief in die Gesichtszüge eingegraben. Das schwarze Leder der Rüstung, die Bjorn trug, war an mehreren Stellen neu hergerichtet worden.
„Hast du den Leuten denn auch davon erzählt, wie wir damals gemeinsam, du mit nichts als einer einfachen Handaxt und ich bewaffnet mit einem rostigen alten Kurzschwert, einen ausgewachsenen Drachen in einem wilden und bösartigen Kampf getötet haben?“
„Nein, Bjorn, ich habe immer gehofft, du würdest eines Tages auftauchen und wir könnten die Geschichte unserer Taten gemeinsam zum Besten geben, bevor ich nicht mehr da bin. Möchtest du vielleicht anfangen? Ich werde dich an den entscheidenden Stellen verbessern, wenn du zuviel dazudichtest.“
Roland zwinkerte Bjorn zu und lächelte ihn an.
„Dann werde ich mal beginnen, Roland. Das ist eine große Ehre für mich, meine Damen und Herren.“ Bjorn war bei den Worten aufgestanden und verbeugte sich. Mit einer ausholenden Handbewegung zeigte er auf Roland.
„Denn nicht ich habe den Großteil der Schlacht mit dem Drachen von Buchenburg bestritten, sondern Roland. Und ich verdanke ihm, dass ich den Kampf ohne größeren Schaden an Leib und Seele überstanden habe. Aber ich schweife ab ....“
Es stellte sich bald heraus, dass Bjorn oder wie immer er heißen mochte, ein ebenso begnadeter Erzähler wie Roland war, und mit der Hilfe von Roland wurde er immer besser im Erzählen. Auch er konnte ganze neue Welten aus dem Nichts erschaffen und sie derartig mit Leben füllen, dass man das Moos zwischen den Bäumen fühlen konnte, den Wind auf dem Rücken eines Drachen, den er geritten hatte, auf dem Gesicht spüren konnte, und als Roland nicht mehr kam, übernahm Bjorn den Stuhl seines Freundes, denn wenn sie es vielleicht auch vorher nicht gewesen waren, so waren sie es im Laufe der Zeit geworden.
Und so vertrieb Bjorn die Schatten über und in den Köpfen der Menschen, ein Kampf den Roland schon geführt - und gewonnen hatte.
Matthias stand in seinem vollbesetzten Schankhaus an der Theke und war gerade damit beschäftigt, mehrere Trinkbecher in einem Wassertrog zu reinigen. Er führte die Schenke „Sturmwind“ nun schon fünfzehn Jahre und größtenteils waren es gute Zeiten für ihn gewesen. Auch an diesem Abend war der Schankraum erfüllt von dem Lachen und den Gesprächen zahlreicher Gäste. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft, die sich in seiner Schenke eingefunden hatte.
Einfache Tagelöhner, die ihren Kummer in Met ertränkten, Abenteurer, die sich bei Speis und Trank entspannen wollten, und sogar Adlige waren vereinzelt in der Menge zu sehen. Allerdings blieben sie meistens unter sich und besetzten die hintersten Tische im Dunkel des Raumes. Weit weg von dem heimeligen Herdfeuer nahe der Theke, das eines der wenigen Lichtquellen neben den Talgkerzen darstellte, die sich auf den Tischen befanden und ein warmes goldenes Licht auf die sie umgebenden Anwesenden und Gegenstände warfen. Über dem Feuer hing ein großer Topf mit Eintopf. Auf einem kleinen Ofen aus Backsteinen daneben erhitzte Matthias Met und Wein für seine Gäste, denn es war in den vergangenen Tagen kalt geworden. Der Winter kündigte sich in großen Schritten an.
Seine Bedienungen, Marja und Carmen, hatten an diesem Abend viel zu tun, immer wieder quetschten sie sich durch die Menge der Gäste und balancierten dabei Tabletts mit scheinbar schier zahllosen Krügen. Man mochte kaum glauben, dass die beiden zierlich wirkenden Frauen überhaupt eines der Tabletts anheben konnten, aber ihnen gelang es sogar, diese mit nur einer Hand über die Köpfe der Anwesenden hinweg zu tragen und dabei mit der anderen die Unverbesserlichen abzuwehren, die meinten, eine Schankmaid sei Freiwild und für jeden zu haben.
Hin und wieder musste eine arme Seele erfahren, dass auch Frauen verdammt hart zuschlagen konnten und zwar immer dann, wenn einer dieser Rüpel eine Grenze überschritt und Carmen oder Marja ihn Bekanntschaft machen ließen mit einem gefüllten Metkrug, allerdings an der Schläfe.
Jedoch, kam das äußerst selten vor und die anderen Gäste beförderten dann den Bewusstlosen zur Tür hinaus. Nie verlor einer ein Wort darüber.
Alle mochten die beiden Frauen und wenn ihnen einer zu nahe trat, dann hatte er eine etwas ruppige Art des Umgangs verdient, wie sie sich ausdrückten.
Carmen und Marja waren einer der Gründe, warum Matthias’ Schenke immer voll war, denn auch wenn sie sich nie auf etwas einließen, so schäkerten sie doch gerne mit den Männern und machten ihnen augenzwinkernd Hoffnungen, von denen alle wussten, dass sie sich nicht erfüllen würden.
Die anderen Gründen für seinen Erfolg waren sein Met, der beste der Gegend, und vor allem: Roland.
Roland war mittlerweile ein alter Mann und saß, seitdem Matthias die Schenke übernommen hatte, immer an demselben Platz.
Dieser befand sich direkt neben dem Herdfeuer. Das Feuer erleuchtete den Platz nur zum Teil und die Schatten warfen tanzende Muster auf jeden, der in der Nähe saß.
Dort stand ein einfacher Stuhl ohne Verzierung und ein grob gezimmerter Holztisch, beides aus Matthias’ Anfangszeit, kurz nachdem er die Schenke übernommen hatte. Der Stuhl sah mittlerweile aus, als ob er zusammenbrechen würde, sobald sich jemand auf ihn setzte. Man konnte sehen, dass jedes Bein schon mindestens einmal gebrochen und wieder zusammengeflickt worden war. Der Tisch war in keinem wesentlich besseren Zustand. Er hatte versucht, Roland einen neuen Stuhl und einen neuen Tisch dort hinzustellen, aber Roland hatte auf die alten Sachen bestanden und damit gedroht, keinen Fuß mehr ins „Sturmwind“ zu setzen. Er pflegte zu sagen, dass der Stuhl zu ihm gehöre wie sein Schwert und sein Bogen, dass er die Erinnerung an ihn bewahren werde, auch wenn er selbst nicht mehr da sei.
Deshalb hatte ihm Matthias versprechen müssen, Sorge dafür zutragen, dass der Stuhl die Zeiten überdauern würde.
Auf dem Tisch stand stets ein Becher des besten Weines bereit, egal, zu welcher Tageszeit. Wenn Roland kam, sollte er immer sofort etwas zu trinken vorfinden.
Gleichgültig, wie voll die Schenke war, sobald er erschien, stürzten Carmen und Marja zu ihm und begrüßten ihn herzlichst. Sie hatten den alten Mann in ihr Herz geschlossen und betrachteten ihn wie einen entfernten Onkel, der ihnen in ihrer Kindheit vorenthalten worden war.
Matthias selbst ging dann nach hinten in die Küche und holte einen Teller des schmackhaftesten Essens, was er an dem jeweiligen Tage bieten konnte, und stellte ihn nach einem kurzen Nicken Rolands auf den alten Tisch.
Matthias sah auf und betrachtete die Sanduhr, die an der Wand hing.
Roland würde jeden Augenblick im „Sturmwind“ auftauchen und tatsächlich öffnete sich die Tür und eine in einem weiten Mantel gehüllte Gestalt schob sich in den Schankraum.
Die Gespräche wurden kurz leiser, als die anderen Gäste erkannten, wer soeben hereingekommen war.
Roland ging mit langsamen und bedächtigen Schritten in Richtung seines Platzes. Bevor er dort angelangt war, warteten da schon Carmen und Marja auf ihn, nahmen ihm den Mantel ab und drückten ihm jeweils einen Kuss auf die Wangen.
Unter dem Mantel kam ein Mann zum Vorschein, dem seine vielen Winter ins Gesicht geschrieben standen. Er hatte einen langen weißen Bart, ebensolche Haare und eine runde Nase. Aus schelmisch leuchtenden blauen Augen betrachtete er die Welt. Seine Statur ließ erkennen, dass er einmal enorme Kraft besessen hatte und immer noch über einen erheblichen Teil davon verfügte. Seine Schultern waren immer noch breit, wenn auch etwas eingefallen.
Er bedankte sich bei Carmen und Marja, drückte sie noch einmal kurz an sich und setzte sich behutsam auf seinen Stuhl. Dann griff er zu dem Becher vor ihm und nahm einen großen Schluck. Als er ihn absetzte, stand auch schon Matthias vor ihm mit einem Teller voll Essen. Roland nickte, der Teller wurde vor ihm abgestellt und er begann zu speisen.
Das alles war Teil eines Rituals, was sich jetzt schon seit fünfzehn Jahren so gut wie jeden Abend abspielte.
Wenn Roland aufgegessen hatte, würde der zweite Teil des Rituals folgen und damit auch der Grund, warum Matthias niemals Geld von Roland verlangte und er so wichtig für das „Sturmwind“ war.
Nach anfänglichem Zieren und mehrmaligen Aufforderungen und ein paar Met würde Roland beginnen, Geschichten und Legenden zu erzählen, an denen er selbstverständlich einen großen Anteil hatte und die alle wahr waren, so wahr wie es auch die Götter waren. Seine Geschichten entführten einen an Orte und in Zeiten, die keiner von ihnen je sehen oder erleben würde. In ihnen wurden Orte, Gegenstände und Wesen lebendig, an deren Existenz kaum noch einer glaubte, außer in den Momenten, in denen Roland von ihnen erzählte. Und dies tat er in einer Weise, dass die Zeit um einen herum still zu stehen schien. Man konnte förmlich alles vor sich sehen, es riechen, ja sogar anfassen.
Er war mehr als nur ein begnadeter Erzähler, er war ein Magier der Worte, und diese Macht nutzte er, um anderen Menschen Freude zu bringen, sie aus ihren Alltag herauszureißen.
Unbemerkt von den Gästen und von Matthias war noch ein weiterer Gast kurz nach Roland hereingekommen: Ein Mann, gewandet in einem schwarzen Umhang, bewaffnet mit Schwert und Dolch. Er trug Armschienen aus schwarzem Leder und auch seine Rüstung, bestand daraus. Unter seinem rechten Auge hatte er eine kleine Narbe, seine Nase sah aus, als ob sie schon einmal gebrochen gewesen wäre und von einem sehr fachkundigen Heiler gerichtet worden sei. Er hatte braune Augen und seine Augenbrauen standen dicht beisammen. Seine Haare waren strohblond und kurz geschnitten.
Er fand noch einen einzelnen Platz in einer Ecke der Schenke, setzte sich und beobachtete aufmerksam das Geschehen um ihn herum.
Beobachtete die Anwesenden, die anfingen Roland aufzufordern, endlich mit seinen Erzählungen und Berichten seiner Reisen an diesem Tag zu beginnen. Beobachtete Roland, der die Momente der Aufmerksamkeit zu genießen schien und sie noch etwas hinauszögern wollte, indem er nach mehr Met verlangte und sich Zeit ließ, ihn anschließend zu trinken. Der Fremde sah sich das alles mit großer Aufmerksamkeit an, aber auf seinem Gesicht war keine Gefühlsregung zu erkennen. Er saß einfach nur da und blickte Roland direkt an, dann winkte er Carmen zu sich heran und bestellte einen Becher heißen Mets und etwas zu essen bei ihr. Als er beides erhalten hatte, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und hörte augenscheinlich entspannt den Erzählungen Rolands zu. Nur einem sehr guten Beobachter wäre aufgefallen, wie angespannt er in Wirklichkeit innerlich war.
Während der ganzen Zeit, die er Roland zuhörte, schien er ihn genau zu mustern. Dann stand er auf und ging direkt auf Matthias zu, der sich hinter seiner Theke befand und auch den Erzählungen Rolands lauschte.
Matthias hatte die üblichen Rituale um Rolands Person beobachtet und natürlich auch mitgemacht, als es scheinbar darum ging, den alten Mann dazu zu bewegen, mit seinen „Reiseberichten“ anzufangen.
Einen hatte er bereits schon erzählt und nachdem das erste Fass aufgebraucht, unter die Kundschaft gebracht worden und ein zweites geöffnet war, begann Roland mit seiner zweiten Geschichte. Eine, die er schon einige wenige Male zum Besten gegeben hatte.
In ihr ging es darum, wie er ganz alleine die Besatzung und die Ladung eines Schiffes bei Sturm vor angreifenden Piraten gerettet hatte, die die Gelegenheit, dass der Mast seines Schiffes gebrochen war, nutzen wollten, und gerade erreichte er den Höhepunkt dieser seiner Geschichte:
„ .... die Wellen waren turmhoch, überall lief Wasser herein und so schnell die Matrosen auch versuchten, es aus dem Kiel hinauszubefördern, das Wasser war doch schneller wieder drin. Die Wassermassen begruben uns förmlich unter sich, doch der „Seeschwan“ focht unbeirrt seinen Kampf gegen die See und gewann ein ums andere Mal.
Stundenlang ging es so, das Schiff taumelte, es bäumte sich auf, es schlingerte und trotz allem hielt ich das Steuerruder in der Hand und hielt uns auf Kurs.
Und dann, wir befanden uns sicher schon zwei Tage mitten im Sturm und viele Männer mit einem weniger sicheren Stand als ich waren schon fortgespült worden, geschah es.“
Rolands Stimme war bei den letzten Worten leiser geworden und alle Anwesenden waren still, hätte sich in dem Moment jemand bewegt, auch nur ganz sacht, man hätte es gehört, als ob ein Donnerschlag erschollen wäre.
Roland saß da und blickte alle mit einem leicht entrückten Gesichtsausdruck an, als ob er sich in Erinnerungen befinden würde, die er mit niemandem teilen wollte, die keinen anderen als ihn etwas angingen, höchstens noch die Männer, die damals zur Besatzung des Schiffes gehört hatten.
Matthias musste grinsen. Das gehörte zu Rolands Dramaturgie bei der Geschichte, genau an der Stelle machte er immer eine Pause und tat so, als ob er nicht mehr weitererzählen würde, dabei wartete er darauf, dass ihn jemand aufforderte, weiter zu berichten. Bei vielen seiner Geschichten hatte Roland einen solchen Punkt eingebaut, aber auch wenn man das wusste, verfehlte die Pause nie ihre Wirkung, wie sich Matthias eingestehen musste.
Und tatsächlich fand sich auch an diesem Abend jemand, der den scheinbar geistig abwesenden Roland wieder zurückholte und ihn aufforderte weiterzuerzählen, was sich Roland immer mit etwas zu trinken vergüten ließ.
Dann setzte er fort.
„Und dann geschah es, eine wirklich riesige Welle, so groß wie ich sie mein Lebtag nie wieder gesehen habe, bäumte sich vor dem Schiff auf, in ihrem Inneren konnte ich etwas ausmachen, was ich bis dahin immer als Seemannsgarn abgetan habe. Etwas von dem ich überzeugt war, dass es das nicht geben konnte. Wahrhaftig eine Kreatur, die der Hölle entsprungen sein musste, denn ein Geschöpf des Himmels kann niemals so hässlich und abstoßend sein, so verdorben, dass es einfach friedliche Seemänner angreift.
Es hatte acht Arme, jeder länger als zehn Schiffe hintereinander, gemessen von Klüver bis Heck. Aus jedem dieser Arme troff gelblich-grünlicher Schleim, der bei Berührung das Wasser zum Kochen brachte, und da, wo keine Öffnungen für den Schleim waren, befanden sich an den Armen Augen so schwarz wie Kohle. Kein Licht spiegelte sich in ihnen, sie schienen direkt ins Nichts zu führen. Aber das Schlimmste war das Maul, aus dem der Rest seines Körpers zu bestehen schien. Es hatte oben und unten jeweils zehn Reihen Zähne, die so scharf wirkten, wie das schärfste Schwert, das ihr euch vorstellen könnt.“
Bei diesen Worten wurde Roland wieder leiser und beugte sich zu der Talgkerze vor, so dass ihr Licht über sein Gesicht tanzen und ihm ein unheimlicheres Aussehen geben konnten. Die anwesenden Frauen klammerten sich an ihren Männern fest und gaben vergnügte Laute des Erschreckens von sich. Erzähler und Publikum waren perfekt aufeinander eingespielt.
„Dann“, Roland hob seine Stimme zu einer Lautstärke an, dass sich die Zuhörer weiter vorne fast die Ohren zuhalten mussten, und schlug mit der flachen Hand energisch auf den Tisch, „kam zu allem Überfluss noch ein Piratenschiff in Sichtweite und hielt auf uns zu, mehr dazu gezwungen als freiwillig, trotzdem bereiteten sie sich schon darauf vor, uns zu kapern, und griffen zu ihren Waffen. Unsere Lage war hoffnungslos und keiner hatte eigentlich eine Chance das zu überleben, wäre nicht ich an Bord und Steuer gewesen. Das Ungeheuer zerschlug mit seinen widerlichen Armen zunächst unseren Mast und fegte dabei zwei Männer von Deck. Seine Arme hinterließen tiefe Brandspuren auf Deck. Allerdings wurde das Feuer nahezu sofort von der Riesenwelle, die über uns auch noch hereinbrach, gelöscht. Ich steuerte hart nach backbord, und wich dem ....“
Matthias fiel ein, dass er sich noch um den Eintopf kümmern musste, den er zu Beginn der Geschichte neu aufgesetzt hatte, und ging in die Küche.
Er bedauerte es, Roland nicht zuhören zu können, denn diese Geschichte war eine der besten, die Roland von seinen Reisen erzählte, und Matthias hörte sie nur zu gern, denn immer, wenn Roland sie erzählte, veränderte er sie in Kleinigkeiten, die sie noch besser werden ließ, und heute war er besonders gut.
Darum beeilte sich Matthias so schnell wie möglich, wieder in den Schankraum zu kommen, doch als er ihn betrat, war Roland schon zum Ende gekommen und heimste den wohlverdienten Applaus ein und nahm den Wein an, den einer der Gäste für ihn bezahlt hatte.
An der Theke wartete ein Gast auf Matthias und er trat zu ihm. Der Fremde war ganz in schwarz gekleidet, hatte strohblondes Haar und trug, was ungewöhnlich war, auch eine schwarze Rüstung und Waffen an der Seite, die im „Sturmwind“ nie von Nöten waren und deshalb auch von jedem Besucher von vorneherein zu Hause oder auf seinem Zimmer gelassen wurden.
„Wie kann ich Euch helfen? Was möchtet Ihr trinken? Möchtet Ihr auch etwas essen?“, sprach Matthias ihn an.
„Ich möchte nichts von den beiden Dingen, die ihr mir angeboten habt, vielmehr benötige ich eine Auskunft Eurerseits. Wenn Ihr sie mir denn geben mögt?“, der Mann sah Matthias mit einem nichtssagendem Blick an, nichts war daraus abzulesen. Irgendwie wirkt er sehr unheimlich auf Matthias. Am liebsten wollte er ihm nichts anvertrauen, wer wusste schon, wem es schaden mochte? Trotzdem antwortete er:
„Sicher, sofern ich Euch die Auskunft geben kann, die Ihr begehrt, werde ich es tun. Also, was wollt Ihr wissen?“
„Ich würde gerne wissen, ob das da hinten wirklich Roland von Bossk ist. Ich habe in letzter Zeit viel von ihm in dieser Gegend gehört. Er scheint ja wirklich mal ein großer Kämpfer gewesen zu sein, wenn das stimmt, was über ihn erzählt wird. Von ihm selbst und anderen. Vielleicht kann ich ja noch was von ihm lernen. Auch wenn ich finde, dass er doch etwas in seinen Geschichten übertreibt, aber ich bin gerne bereit zu glauben, dass sich manche Dinge in abgeschwächter Form so zugetragen haben. Also, ist er es oder ist er es nicht?“
Matthias konnte nicht anders als zu lächeln, lauthals loszulachen wagte er nicht. Mühsam beherrscht gab er von sich:
„Ja, das ist Roland von Bossk. Aber ich muss Euch leider enttäuschen, er ist niemals aus dem Ort herausgekommen und die einzigen Gegner, die sein Schwert gesehen hat, waren die Holzscheite, die es für das Feuerholz gespalten hat. Roland hat nur immer davon geträumt, ein großer Held zu sein, aber gewesen ist er es nie. Er war immer ein Bestandteil des Dorfes und hat es nie verlassen und irgendwann hat er angefangen, von seinen „Reisen“ zu erzählen.
Der Fremde sah Matthias bestürzt an.
„Soll das heißen, ich bin auf die Geschichten eines Verrückten hereingefallen, der sich all das ausdenkt?“
„Ich würde ihn nicht verrückt nennen. Er tut ja niemanden etwas, aber ja, all das hat sich nur in seinem Kopf abgespielt.“
Erschüttert sah der Fremde zu Boden. Fassungslos über das, was er gerade gehört hatte. Eine Welt schien für ihn zusammenzubrechen.
„Ich hatte geglaubt, endlich jemanden gefunden zu haben, der mir noch etwas im Kriegshandwerk beibringen kann, stattdessen finde ich einen alten Mann, der ein Gefangener seiner eigenen Fantasie ist. Nein, von ihm werde ich wohl nichts lernen können. Ich werde weiter nach einem Lehrmeister suchen müssen. Ich bedauere, hierher gekommen zu sein.“
„Seid Euch nicht zu sicher, dass Ihr umsonst hierher gekommen seid, ohne etwas lernen zu können. Roland ist kein Gefangener seiner Fantasie, vielmehr ist er wahrlich frei.“
„Was meint Ihr damit? Er lebt doch in seiner eigenen Welt und glaubt selbst, was er erzählt.“
„Das tut er tatsächlich. Aber seht Ihn Euch an, er ist glücklich damit, er hat Ruhe und Frieden gefunden. Ihr hingegen werdet immer im hier und jetzt verankert sein und hinter etwas herjagen, das Ihr nicht erreichen könnt, und dabei immer dieselben Wege beschreiten. Er hingegen ist wirklich frei, in seinen Gedanken kann er hingehen, wohin er will. Tun, was er will, und sein, was er will. In seinen Träumen über alle Grenzen hinwegreisen. Für ihn bestehen sie nicht. Das nenne ich wahre Freiheit. Denkt mal drüber nach und in ein paar Jahren werdet Ihr vielleicht verstehen, welche Art Freiheit ich meine.
- Er sieht mehr als wir anderen und vor allem gibt er Hoffnung und nicht den Tod!“ Matthias’ Blick wanderte zum Schwert an der Seite des Fremden und mit diesen Worten schloss er seine kleine Ansprache an ihn und dieser verließ sichtlich verwirrt das Schankhaus.
Bald hatte Matthias den kleinen Vorfall vergessen.
Jahre später betrat ein Mann in schwarzes Leder gehüllt und einen schweren Mantel umgeworfen, dessen Kapuze bis tief in sein Gesicht reichte, an einem kalten Wintertag das Schankhaus von Matthias. Auch an diesem Abend war es gut besucht und Roland, der sichtlich älter geworden war, saß schon auf seinem Stuhl und würde gleich beginnen zu erzählen. Die ersten Rufe nach einer Geschichte waren schon erschollen und alles wartete darauf, dass Roland begann. Dieser trank gemächlich seinen Krug Met aus, wie er es schon viele Male vorher getan hatte, wobei er jetzt in seinem fortgeschrittenen Alter etwas länger brauchte, und setzte ihn mit einem zufriedenen Seufzer ab.
„Nun, gut“, wollte er gerade seine Geschichte beginnen, als ein freudiger Ruf durch das Wirtshaus hallte.
„Roland, mein Freund, dass ich dich nach all den Jahren wiedersehe. Das muss wahrlich ein Wunder sein. Hier hattest du dich also verkrochen. Ich freue mich ja so, dich wiederzusehen. Erinnerst du dich noch an mich?“ Eine schwarze Gestalt bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb vor dem leicht verdutzt wirkenden Roland stehen.
Dieser starrte das Gesicht unter der Kapuze unsicher an, doch dann ging der Moment vorbei und mit einem Ausdruck des Erkennens auf seinem Gesicht rief er:
„Bjorn! Komm, setz dich, nimm deinem Mantel ab. Du weißt ja, in meinem Alter braucht man seine Ruhe, die Knochen wollen nicht mehr so wie man selbst. Und da ich nicht mehr ausziehen kann, erzähle ich den Leuten nun von meinen – unseren Taten. Diese Dörfler sind ganz begierig darauf zu erfahren, was in der Welt vor sich geht. Setz dich! Setz dich!
Und erzähl!“
Die Gäste starrten einander verwundert an. Niemand hatte jemals von diesem Bjorn, der angeblich ein Freund von Roland war, etwas gehört, aber jetzt saß er dort neben Roland. Gespannt warteten die Anwesenden, was als Nächstes passieren würde.
Selbst Matthias wusste nicht, was er von dem wiedergefundenen Freund halten sollte, schließlich hatte Roland ja nie das Dorf verlassen.
Bjorn nahm seinen Mantel ab und setzte sich auf einen hastig von Roland herangezogenen Stuhl. Als er die Kapuze zurückschlug, erschien strohblondes Haar auf einem Kopf, dessen Gesicht mehrere Schlachten gesehen hatte. Die Nase war gebrochen und gerichtet worden, kleine Narben befanden sich unter den Augen und viele durchwachte Nächte hatten ihre Spuren tief in die Gesichtszüge eingegraben. Das schwarze Leder der Rüstung, die Bjorn trug, war an mehreren Stellen neu hergerichtet worden.
„Hast du den Leuten denn auch davon erzählt, wie wir damals gemeinsam, du mit nichts als einer einfachen Handaxt und ich bewaffnet mit einem rostigen alten Kurzschwert, einen ausgewachsenen Drachen in einem wilden und bösartigen Kampf getötet haben?“
„Nein, Bjorn, ich habe immer gehofft, du würdest eines Tages auftauchen und wir könnten die Geschichte unserer Taten gemeinsam zum Besten geben, bevor ich nicht mehr da bin. Möchtest du vielleicht anfangen? Ich werde dich an den entscheidenden Stellen verbessern, wenn du zuviel dazudichtest.“
Roland zwinkerte Bjorn zu und lächelte ihn an.
„Dann werde ich mal beginnen, Roland. Das ist eine große Ehre für mich, meine Damen und Herren.“ Bjorn war bei den Worten aufgestanden und verbeugte sich. Mit einer ausholenden Handbewegung zeigte er auf Roland.
„Denn nicht ich habe den Großteil der Schlacht mit dem Drachen von Buchenburg bestritten, sondern Roland. Und ich verdanke ihm, dass ich den Kampf ohne größeren Schaden an Leib und Seele überstanden habe. Aber ich schweife ab ....“
Es stellte sich bald heraus, dass Bjorn oder wie immer er heißen mochte, ein ebenso begnadeter Erzähler wie Roland war, und mit der Hilfe von Roland wurde er immer besser im Erzählen. Auch er konnte ganze neue Welten aus dem Nichts erschaffen und sie derartig mit Leben füllen, dass man das Moos zwischen den Bäumen fühlen konnte, den Wind auf dem Rücken eines Drachen, den er geritten hatte, auf dem Gesicht spüren konnte, und als Roland nicht mehr kam, übernahm Bjorn den Stuhl seines Freundes, denn wenn sie es vielleicht auch vorher nicht gewesen waren, so waren sie es im Laufe der Zeit geworden.
Und so vertrieb Bjorn die Schatten über und in den Köpfen der Menschen, ein Kampf den Roland schon geführt - und gewonnen hatte.
Auf das der Wind in eurem Rücken, nie euer eigener sei. (alter irischer Reisegruß
)
drakir
und seine Werke

drakir
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