Dann will ich mich, auch mal zu erkennen geben.
Bin mal gespannt, was ihr anmerkt.
Schnee fiel in großen Flocken hernieder und bedeckte die Erde mit einem weißem Teppich, unter dem die Toten schliefen. Manch ein Eiskristall verging zischend in der Flamme einer einsamen Kerze auf einem der Gräber des Ostfriedhofs. Darauf hin flackerte das Licht unruhig auf, ehe es wieder beruhigend auf den Schotterweg fiel, der nun fast nicht mehr sichtbar war. Seit Jahren wurde der Ostfriedhof nicht mehr benutzt. Er war nur noch ein Monument der Vergangenheit, ein Relikt aus einer Zeit, in der die Menschen ihre Toten mit großen Grabmälern und Statuen ehrten. Tagsüber schlichen dann die Menschen ehrfürchtig durch die Reihen von Engeln, Mausoleen und den Bildnissen griechischer und römischer Götter und Helden, bewunderten die Kunstfertigkeit der Erbauer, lasen die großen Namen, die hier begraben lagen, verharrten beeindruckt und gingen dann in ihre Leben zurück, ohne noch einen weiteren Gedanken an die Menschen zu verschwenden, denen sie einst nachfolgen würden. Niemand dachte daran, die Toten besonders zu ehren, nirgendwo fand sich ein Hinweis darauf, dass einem der vielen gedacht wurde und doch – eine Ausnahme gab es. Am Rand des Friedhofes, in einer Ecke, die kaum jemand betrat, fand sich ein besonderes Grab. Es besaß keine beeindruckend große Statue eines Engels, der seine Flügel ausbreitete, es war kein großer Bau, nein, es war ein Grab auf dem sich nur die Statue eines Mädchens befand. Klein im Vergleich. Schön anzusehen, handwerklich geschickt, aber nichts Besonderes. Mit großen Augen sah das Kind in den Himmel hinauf, fast flehend, die Arme in den Schoß gelegt. Die Hände fehlten schon lange, aber eben genau da war es, das Außergewöhnliche. Anstelle der Hände lagen zwei kleine rote Rosen. Zart, zerbrechlich. Ein Windstoß hätte sie fortwehen können, wie vor ihnen das Mädchen, das hier begraben lag, vom Tod weggetragen worden war. Es hätte nichts ausgemacht wären die Rosen verschwunden. Seit hundert Jahren legte jemand jeden Tag frische hierhin in Gedenken an das Kind. Im verwitterten Stein war in leuchtenden, bronzenen Buchstaben ihr Name zu lesen, Carola Fuhrler. Nie war ein Tag vergangen ohne diese Zeichens des Erinnerns.
Langsam schob sich der schwarze Rolls Royce vor die Eingangstür des alten, herrschaftlichen Sitzes. Schritte erklangen, eine Tür wurde geöffnet und ein edler italienischer Schuh wurde sichtbar, als sich sein Besitzer aus dem Fond des Wagens erhob. Es war ein Mann in seinen besten Jahren. Braune Augen unter graumelierten Haar, welches streng zurückgekämmt war, fanden sich in einem Gesicht, das jetzt den vor ihm stehenden Mann musterte. Dieser verbeugte sich unverzüglich tiefer, als er es schon tat. Sein Atem kam nun flacher, seine Angst war geradezu körperlich zu spüren. Zufrieden grinste sein Herr und schritt an seinem Diener vorbei. Leichtfüßiger als sein stämmiger Körperbau es vermuten ließ, erklomm er die Treppe. Oben erwartete ihn schon ein weiterer seiner Hausdiener im warmen Licht der Lampen. Nachdem der Mann das Haus betreten hatte, wurde die Tür unverzüglich geschlossen, um die Kälte auszusperren.
„Sir Nicolas!“ Mit nahezu gelangweilter Stimme begrüßte der Butler seinen Herrn und forderte ihn gleichzeitig auf, sich aus dem Mantel helfen zu lassen.
Nicolas von Eichental wartete, bis er die Hände seines Dieners an der Schulter spürte und streifte den Mantel dann ab. Ohne sich umzusehen oder etwas zu sagen, erklomm er die vor ihm liegende Treppe, die mit einem edlen, tiefroten Teppich ausgelegt war. Anschließend ging er an unzähligen Antiquitäten vorbei, die aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte stammten, direkt auf eine schwere Tür zu, die zu seinem Arbeitszimmer und gleichzeitig der Bibliothek führte. Durch das Eichenholz konnte er leise eine Stimme vernehmen. Sobald Nicolas die Tür öffnete, klangen die Worte laut in seinen Ohren und er verfluchte die Feinheit seines Gehörs.
„ … gut. Sie sind in einer halben Stunde hier. … Sehr gut. Das Geld wartet bereits auf Sie. Keine Sorge. … Sicher … Sehen Sie nur zu, das Sie nicht verfolgt werden. … Wir wollen doch keine böse Überraschung erleben. Bis dann!“ Ein Telefonhörer wurde aufgelegt.
„Und? Läuft alles glatt?“ Nicolas von Eichental wandte sich an seinen Sekretär, der soeben das Telefonat beendet hatte. „Ich hoffe, Ihr habt nichts vergessen. Heute Nacht muss das Ritual noch durchgeführt werden. Für die Beschaffung eines weiteren Opfers wird keine Zeit mehr bleiben.“
„Keine Sorge, Sir, es ist alles perfekt organisiert. In weniger als einer Stunde werdet Ihr wieder eure ganze Kraft besitzen. Daran besteht absolut kein Zweifel!“
Kurz hob sich eine Augenbraue in Nicolas` Gesicht. Der Junge war sehr von sich überzeugt, ging es ihm durch den Kopf. Hoffentlich berechtigt. Er hatte ihm zum ersten Mal einen solchen Auftrag erteilt. Bestand er diese Bewährungsprobe konnte man ihm wirklich vertrauen. Zumindest soweit man jemand anderen trauen konnte, der am Liebsten die eigene Position einnehmen wollte. Wobei es im Prinzip schon länger kein Zurück mehr gab. Nach dem Nicolas ihm enthüllt hatte, wer er war, war er auch von diesem Jungen abhängig.
„Na, dann. Ich hoffe, Ihr habt eurem Kontaktmann nicht erzählt, wofür wir das Mädchen brauchen, oder Lukas?“
Entsetzen spiegelte sich im Gesicht des Sekretärs.
„Gott be... Natürlich nicht, Sir!“ Nach einem kurzen Stocken fuhr er wieder selbstsicher fort. „Der Kerl denkt, wer weiß was. Vermutlich, dass Ihr ein Perverser seid. Aber mit Sicherheit ahnt er nichts.“
Nicolas musste unwillkürlich lächeln, als Lukas das Wort „Gott“ über die Lippen kam. Er hatte ihm schon tausendmal gesagt, er müsse sich deswegen nicht schämen. Es bestand kein Grund für Rücksichtnahme. Anstatt erneut mit ihm darüber zu diskutieren, ging er zu einem kleinen Schränkchen in dem er seinen besonderen Whisky aufbewahrte, entnahm zwei Gläser, einen fünfunddreißig Jahre alten Ardbeg und setzte sich hinter seinen wuchtigen Schreibtisch. Dort füllte er die beiden Gläser zur Hälfte und reichte eins Lukas.
„Hier lasst uns anstoßen. - Auf Euren ersten wichtigen Vertragsabschluss für mich. Mögen noch viele folgen!“
Die beiden Männer prosteten sich zu und nahmen einen kleinen Schluck des Whiskys. Entspannt lehnte sich Nicolas in seinem Sessel zurück und genoss die Ausgewogenheit und den rauchigen Geschmack seines Getränks. Es würde ein perfekter Abend werden. Erst die fantastische Darbietung von Mozarts Zauberflöte im Opernhaus, dann der Empfang, bei dem er für sein soziales Engagement geehrt worden war und jetzt der Ausklang mit einem nahezu perfekten Whisky. Dazu würde er sich in weniger als einer Stunde ausgiebig stärken können. Was konnte es besseres geben. Er lächelte ein weiteres Mal an diesem Abend und entblößte dabei seine Zähne, was ihm sofort ein wölfisches Aussehen gab. Die Stimme seines Gehilfen riss ihn aus seinen Gedanken.
„Sir? Sir, ich hätte da eine Frage. Dürfte ich sie stellen?“ Normalerweise war dies einer der Moment, in denen Nicolas die Beherrschung verlor und am Liebsten dem Störenfried die Eingeweide herausriss. Aber heute war er zu guter Laune, außerdem opferte man nicht einfach so, einen guten Helfer. Als ein solcher hatte sich Lukas bisher bewiesen. Also nickte er ihm herablassend zu und wartete. Vermutlich belief es sich auf etwas ganz banales. Auch wenn Lukas großen Sinn fürs Geschäft hatte, war er ein ums andere Mal etwas zu naiv, was andere Dinge anging, aber Nicolas hatte noch genügend Zeit, genau genommen die Ewigkeit, um dem Jungen alles beizubringen.
„Sir, was ich mich schon länger frage: Warum nehmt Ihr nicht ein Mädchen aus dem Kinderheim, das Ihr finanziert. Irgendein Vorwand ließe sich doch finden. Vielleicht irgendein reiches Paar in Übersee, das keine eigenen Kinder bekommen kann, oder ein Unfall oder so etwas.“
Kurz stockte Nicolas in seiner Bewegung das Glas abzustellen und schüttelte energisch den Kopf.
„Nein! Nein auf keinen Fall, dürfen wir das tun. Eine Fassade ist nur dann gut, wenn sie fest gebaut ist. Entferne auch nur einen Stein und sie fällt zusammen. Vermutlich lägen ihre Trümmer so schnell vor uns, so schnell könnten wir uns gar nicht in Sicherheit bringen.“ Nicolas war aufgestanden und stand nun dicht vor seinem Sekretär, der sich unbehaglich wand und am Liebsten in diesem Moment weit weg gewesen wäre. Trotzdem konnte er sich nicht von seinem Herrn abwenden, dessen hypnotischer Blick ihn eisern festhielt. „Hast Du mich verstanden Lukas? Wage es ja niemals daran zu denken, eins der Mädchen aus dem Heim für unsere Zwecke zu gebrauchen. Tue es und ich werde Dich töten. Schneller als Du Dir vorzustellen vermagst!“ Ein Schlucken und hastiges Nicken und Nicolas setzte sich wieder zufrieden in seinen Sessel. Unverzüglich kehrte sein Lächeln zurück und er nahm einen weiteren Schluck des edlen Whiskys.
„Abgesehen davon, wollen wir doch unsere Anwälte nicht allzu sehr bemühen. Sie sind zwar gut, aber leider auch teuer, was solche Dinge angeht.“ Er zwinkerte dem jüngeren Mann zu. „Kommt lasst uns unsere Partie fortsetzen.“ Er wies auf ein Schachbrett aus Kirschholz. Weiß war am Zug und arg in Bedrängnis. Die Zeit verging und schließlich klopfte es an der Tür. Gleich darauf öffnete sie sich und der Butler erschien. „Sir, ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er sagte, es wäre in einer dringenden Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet..“
Nicolas sprang auf und ließ Spiel Spiel sein. „Schicken Sie ihn herein!“
Der Butler trat hinaus, gab jemanden ein Zeichen und kurz darauf, betrat ein Mann in ausgeblichenen Jeans den Raum. Nicolas verzog für eine kurzen Augenblick angeekelt das Gesicht, als er die fettigen Haare und das schiefe Grinsen seines Gastes sah. Aber sofort entspannten sich seine Gesichtszüge, denn sein Blick fiel auf das kleine Mädchen, das den Mann begleitete. Unsicher, aber neugierig und beeindruckt glitten dessen Augen über die riesige Anzahl Bücher, die sich in den Regalen der Bibliothek angesammelt hatten. Vermutlich wusste es noch gar nicht, was um es herum geschah, denn älter als vier, konnte es noch nicht sein. Nicolas war beeindruckt, soweit er es spüren konnte, verbarg sich sehr viel Macht in ihm. Eine so starke Macht, wie er sie noch nie zuvor gewahr worden war. Vielleicht würde es dieses Mal reichen, ihn zu heilen. Aber diesem Gedanken konnte er noch später anhängen, er wandte sich seinem Gast zu.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Whisky, Wasser, Wein?“
„Ein Bier wäre gut“, der Mann strich sich dabei durch seinen dichten Bart, so dass kaum mehr als ein Nuscheln seinen Mund verließ. Nicolas stockte kurz. Ein Bier? Welch ein Barbar. Aber gut, man konnte sich die Leute mit denen man Geschäfte machte, nicht immer aussuchen.
„Lukas, würden Sie bitte dem Herrn ein Bier bringen?“
„Sofort, Sir!“
Lukas verließ eilig den Raum.
„Nun Herr …?“
Nicolas Gegenüber hob die Hand.
„Carnivor, reicht. Ich denke, Sie wollen meinen richtigen Namen nicht wissen. Genauso wenig, wie ich den Ihren. Es reicht, den von ihrem Sekretär zu kennen.“
„Nun, Herr Carnivor,“ Nicolas nahm eine Schluck seines Whiskys. „Ich denke, sie haben schon alles geklärt mit meinem Assistenten. Sie kennen die Bedingungen unseres Handels, deswegen werde ich sie nicht weiter damit langweilen. Wieviel bin ich Ihnen denn schuldig?“
„Wissen Sie,“ Carnivor ließ sich in einen Sessel nieder.“ Nachdem ich jetzt gesehen habe, wie sie wohnen, scheinen mir hunderttausend ein bisschen wenig. Wie wäre es mit zweihundertfünfzig?“ Entspannt griff der Gast zu der Flasche Bier, ignorierte das Glas, beides hatte der inzwischen zurückgekehrte Lukas vor ihm abgestellt, und nahm einen kräftigen Zug aus der Flasche.
„Zweihunderfünfzigtausend! Sind Sie ...“ Lukas stand die Zornesröte im Gesicht, doch schon hatte Nicolas die Hand erhoben und der Sekretär verstummte. Mehrere Augenblicke ruhte der Blick des Hausherrn auf dem süffisanten Grinsen seines Gastes. Dann nickte er nur.
„Also gut, zweihundertfünfzig.“ Carnivors Grinsen schien sich nun von Ohr zu Ohr zu erstrecken. „Lukas zahlen sie ihn aus. Und bringen sie das Mädchen nach nebenan.“ Nicolas erhob sich, sah einmal kurz zu dem in der Ecke stehenden verängstigten Mädchen hinüber und machte sich auf, die Bibliothek zu verlassen.
„Aber Sir, wenn wir ihm geben, was er verlangt, wird er immer mehr verlangen!“ Nicolas fuhr herum. Mit kalter Stimme fuhr er seinen Assistenten an.
„Nein, das wird er nicht. Herr Carnivor scheint mir klug genug zu sein, zu wissen, was es bedeutet, mich zu erpressen. Außerdem will er bestimmt nicht, dass seine Geldquelle versiegt.“ Ein kurzer, abschätzender und bedrohlicher Blick zu seinem Handelspartner folgte.
Carnivor hob seine Bierflasche und prostete Herrn und Sekretär zu.
„Gut, dann ziehe ich mich jetzt zurück. Guten Abend! - Ach, und räumen Sie hier etwas auf, ich hasse Unordnung in meiner Bibliothek.“
Lukas sah seinem Herrn erstaunt nach, Carnivor hingegen tippte sich, in Anlehnung an einen militärischen Gruß, nur kurz mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn.
Eine Stunde Später stand Nicolas von Eichental vor einer schweren Holztür mit eisernen Beschlägen. Er trug jetzt eine samtene Robe von der Farbe des Blutes. Über sie liefen in schwarzen und silbernen Linien die Zeichen des Chaos. Sie verbanden sich, liefen auseinander, umschlangen einander und verzehrten sich. Rot schien gegen Silber und Schwarz zu kämpfen und doch nicht gewinnen zu können, nur um im gleichen Moment die Oberhand zu erlangen. Das Muster bewegte sich, bildete Tentakel und Kreise.
„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und Glück, Sir!“ Der Einwurf stammte von Lukas, der darauf bestanden hatte, vor der Tür auf seinen Herrn zu warten.
„Mit Glück hat das nichts zu tun.“ Zischte der Angesprochene und Lukas machte unwillkürlich zwei Schritte zurück. Von Eichental hatte sich schon wieder der Tür zugewandt und lockerte seine Schultern, ein letztes Mal ehe er die Tür öffnete. „Dann los.“ Murmelte er und betrat den angrenzenden Raum. Dunkelheit empfing ihn, durchbrochen von dem flackernden Licht einer einsamen Fackel. Die Tür schloss sich hinter ihm und würde die nächste Zeit auch nicht wieder aufgehen, wenn er es ihr nicht befahl. In der Mitte des quadratischen Raumes befanden sich altägyptische Hieroglyphen angeordnet in einem Dreieck, verbunden durch einen umfassenden Kreis und Geraden. Pentagramme, ging es Nicolas durch den Kopf. Wer brauchte die schon. Sicher, in schlechten Horrorfilmen waren sie unverzichtbar, doch in Wahrheit hatten die Ägypter über mehr Wissen verfügt und ihre Rituale waren bei weitem mächtiger. Er sah sich um. Das Mädchen musste sich in diesem Raum befinden. Wahrscheinlich hatte es sich vor Furcht in eine Ecke zurückgezogen und harrte in der Dunkelheit. Naja, das war nichts Neues. Allerdings seltsam, wenn man bedachte, dass sich normalerweise jeder vor der Dunkelheit fürchtete, aber hier unten, mit ihm, zogen sie sich immer dorthin zurück. Bringen tat es ihnen nichts. Sein Ruf würde sie schon herauskriechen lassen. „Komm her, Kleine! Ich tue Dir nichts! Versprochen!“ Wenn man ihn so hörte, konnte man es fast glauben. Nicolas Stimme troff geradezu vor Honig. Und tatsächlich erschien im äußersten Lichtschein sein Opfer. Mit großen Augen sah es sich um, betrachtete die Zeichen auf dem Boden, seine Arme eng um sich und sein Stofftier geschlungen. Sie bewegte sich auf ihn zu, ihr linker Fuß berührte den Kreis an einer Spitze des Dreiecks. „Wie heißt Du, meine Kleine?“ Der Name interessierte ihn eigentlich gar nicht, aber er brauchte ihn für das Ritual. Außerdem beruhigte es die Kinder immer, wenn man sie nach ihrem Namen fragte.
„Carola!“
„Carola, ein schöner Name.“ Langsam schritt er auf das Mädchen zu und ließ dabei unauffällig einen reichverzierten Dolch mit einer fingerlangen, schwarzen Klinge in seine rechte Hand gleiten. Der erste Schnitt musste schnell geschehen und vor allem genau dort, wo das Mädchen jetzt stand. Er kniete sich vor sie. „Ich werde Dir nicht weh tun.“ Er hob seine Hand, um ihr durchs Haar zu fahren.
„Irgendwie glaube ich Dir nicht!“ Das Mädchen sprach mit einem Mal mit einer viel zu tiefen Stimme und bevor Nicolas zurück zucken konnte, traf ihn die kleine Faust des Mädchens mitten ins Gesicht und er flog quer durch den ganzen Raum an die Wand. Hart prallte er auf, ein Knacken ertönte und von Eichental wusste, müsste er noch atmen, wäre ihm die Luft aus der Lunge gepresst worden. Dann stürzte er zu Boden. Mit rauer Stimme, wütend und schwarzes Blut spuckend wandte er sich an Carola. „Wer zum Teufel bist du?“ Zeit, er brauchte Zeit. Der Schlag hatte gesessen. Seine Knochen brauchten wenigstens ein bisschen davon, um zusammen zu wachsen. Reden, reden konnte helfen und dann würde er diesen Bastard auseinander reißen. Nur der Schmerz musste weg, dann konnte er sich konzentrieren.
„Wer ich bin?“ Lachend kam Carola, oder wer auch immer sie sein mochte, auf ihn zu. „Ich – bin derjenige, der Dich seit hundert Jahren sucht. Der Dich gejagt hat. Viel zu oft bist Du mir entkommen, aber dieses Mal nicht.“ Die Luft flirrte vor dem Gesicht des Mädchens und offenbarte ihre wahre Gestalt. Nicolas stöhnte auf.
„Du? Du Bastard! Ich habe Dich geschaffen, Du solltest mir auf Knien danken, nicht versuchen mich zu vernichten!“
„Ich habe Dich nicht darum gebeten, Du Schwein!“ Krallen wuchsen aus den Fingern des Mannes, der nun vor ihm stand, dann holte er aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Mit einer solchen Wucht wurde Nicolas getroffen, dass es ihm beinahe den Kopf von den Schultern riss und er abermals durch die Luft wirbelte. Krachend kam er auf. Tiefe Risse liefen über seine Wange und sein linkes Auge war nicht mehr als ein klebriger Klumpen. Aber dieses Mal gewann der Schmerz nicht die Oberhand, dieses Mal siegte die Wut und der Hass.
„Du hast schon einmal versucht mich zu töten!“ Von Eichental riss sich die Robe vom Leib, um sich besser bewegen zu können. „Wie kommst Du auf die Idee, es könnte Dir dieses Mal gelingen, Maximilian!“ Er spie die Worte förmlich aus, dabei spürte er, wie sich sein Auge wieder zusammenfügte.
„Ich bin stärker geworden!“ Trocken und emotionslos war die Antwort.
Beide belauerten sich jetzt, kreisten umeinander, wie zwei räudige Kater, kurz vorm Sprung. So war es gut, weiter so. Nicolas musste sich beherrschen. Er durfte keine Miene verziehen. Bald war es so weit. Als ob sein Kontrahent es geahnt hatte, sprang er vor, doch es war umsonst. Mit einem hämischen Lachen machte der Hausherr eine Kreisbewegung mit den Armen und schloss die Hände zu Fäusten. Im Sprung packten zwei Tentakel aus Schatten Maximilian, umschlangen ihn und begannen sofort an ihm in verschiedenen Richtungen zu zerren. Als er beinahe entzwei gerissen wurde, lockerte von Eichental seine Hände. Ein kleine Bewegung und schon hing sein Widersacher kopfüber vor ihm, gehalten von Schatten.
„So wie es aussieht, bin ich wohl doch zu stark für Dich. Dein erster Versuch damals mit dem Gift war geschickt. Ja geradezu perfide, aber dieser Angriff … enttäuschend! - Ich werde später wieder kommen, um Dich zu töten. Erst einmal muss ich ein Mädchen finden, das mir Kraft schenkt.“ Kurz sah er nach unten und legte den Kopf schief, eher er seinen Gefangenen wieder fixierte. „Weißt Du irgendwie bin ich dir dankbar. Hättest Du mich nicht vergiftet, hätte ich niemals von dem süßen Blut der Unschuld getrunken.“ Breit lächelnd stand er jetzt da.
„Fahr zur Hölle Du Schwein!“ Maximilians Augen loderten auf, vermutlich in der Hoffnung. „Hätte ich gewusst, dass Du überlebst, hätte ich Dir gleich den Kopf abgeschlagen!“
Nicolas lachte auf, drehte sich um und schritt zur Tür. Ob Wut, Zorn oder Enttäuschung im Gesicht seines Widersachers stand, war unwichtig. Einzig das Herbeischaffen eines Ersatzopfers zählte. Denn auch, wenn er sich bemühte stark zu wirken, seine Kräfte waren beinahe am Ende. Er hob die Hände um die Passes zu vollführen, die den Durchgang freigeben würden. Die ersten zwei Bewegungen, zwei einfach Kreise gegen den Sonnenlauf, waren schnell ausgeführt, dann stockte er. Seine linke Hand bewegte sich nicht mehr. Sie begann zu zittern, wurde heiß, desgleichen geschah mit seiner anderen, um unmittelbar darauf mit ungeheurer Kraft an seine Brust gepresst zu werden. Schritte waren ebenfalls nicht mehr möglich. Stocksteif stand er da. Hatte er sich zu sehr verausgabt? Verdammter Idiot, der er war. Warum hatte er nicht sofort zugestochen? Warum musste er immer erst mit seinen Opfern reden? Jetzt würde ihn das Gift wahrscheinlich doch noch beseitigen. Wut stieg erneut in ihm auf. Sein Blut tobte durch seine Adern und ließ seine ansonsten blasse Stirn in Zorn erglühen.
„Gib Dir keine Mühe!“ Die dunkle Stimme seines Kindes erklang direkt an seinem Ohr. „Ich habe Dir doch gesagt, ich wäre stärker geworden. Du solltest besser zu hören!“ Die Schneide eines Messers legte sich an seinen Hals. „Jeder Schluck Blutes, vom jeden Vampir den ich erledigt habe, hat mich nur stärker werden lassen. Hat mir neue Fähigkeiten verliehen. Und jetzt bin ich sogar mächtiger als Du – Marquis de Bernadone!“ Nicolas schluckte. Kurz wollte Panik die Oberhand gewinnen. Seinen Namen, Maximilian wusste seinen wahren Namen. Damit hatte er wirklich die Oberhand. Noch einmal trat das Rot des Blutes vor seine Augen, aber dann verging das Glühen. Es war vorbei. Wirklich vorbei. Vielleicht war es besser so. Er hatte genügend Jahrhunderte gesehen, ob ein weiteres hinzukam war unerheblich. Wenn man alt genug war, war es letztlich egal, wieviele Jahre man über die Erde gewandelt war. Ein Tag war so gut wie der andere, um abzutreten. Lieber von dem eigenen Kind getötet, denn von einem Fremden. Er atmete fast erleichtert aus.
„Na gut, Du hast gewonnen. Eine Bitte habe ich nur. Sag: Wie hast Du mich gefunden?“
Der Marquis hörte Maximilian kurz bitter lachen. „Dein Sekretär. Er war dumm genug sich an einem der Kinder im Heim zu vergreifen und dabei Deine Handschrift zu benutzen. Das Mädchen trug ein eingeritztes Kreuz auf der Wange, als ich es tot im Wald fand. Sie ähnelte Carola. Ich wusste, Du würdest in der Nähe sein.“
Nicolas konnte sich ein Stöhnen nicht verkneifen.
„Tue mir den Gefallen und töte den Idioten beim Rausgehen! - Und jetzt fange mit mir endlich an!“
„Keine Sorge. Das werde ich.“ Kam die heiser geflüsterte Antwort.
Dann spürte der Marquis de Bernadone wie ihm das Messer über die Kehle gezogen wurde. Es brannte, verätzte seine Haut, es bestand aus geschwärzten Silber. Das Letzte, das er sah, war der Schatten eines Pflockes an der Wand.
Ein einzelnes Paar Schritte im Schnee führte zu der hinteren Ecke des Friedhofes. Die Spuren waren fast verweht vom Wind, der beständig über die Gräber strich. Sie endeten an einem kleinen Grab. Maximilian betrachtete die Statue des kleinen Mädchens. Seine Schwester würde hier ewig ruhen und er auf ewig zu ihr kommen und ihrer Gedenken. Hundert Jahre was es nun her, seitdem sie durch die Hand seines Schöpfers den Tod gefunden hatte. Hundert Jahre, in denen ihn nur ein Gedanke beseelt hatte. Rache nehmen und Buße tun. Hätte er nicht seinem Schöpfer eine zu schwache Dosis des Giftes verabreicht, hätte sie im Kreise ihrer Enkel sterben können. Der Mut hatte ihm gefehlt. Der Mut ihn damals von Angesicht zu Angesicht zur Rechenschaft zu ziehen. Vielei waren seinetwegen eines unnötig grausamen Todes gestorben.
„Das stimmt nicht. Er hätte so oder so Unschuldige getötet.“ Eine wohlbekannte Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien und Schuldgefühlen. Maximilian fuhr herum. Hinter ihm, an einer Engelsstatue lehnend und mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen, stand Carnivor. Lässig schritt sein Freund und Lehrer auf ihn zu. „Ist es vorbei?“
„De Bernadone ist tot, ja“
„Das meinte ich nicht.“ Carnivor war vor Maximilian stehen geblieben und hielt den Kopf schräg, während er seinen Zahnstocher hin und her rollen ließ und seinen Schüler betrachtete. „Kannst Du sie endlich in Frieden ruhen lassen. Ist es für sie vorbei?“
„Sie schon.“ Maximilian holte tief Luft. „Aber ich kann nicht. Es gibt noch immer genug von seiner Sorte. Ich werde keinem von ihnen gestatten weiter zu existieren.“
„Du weißt, die Nummer mit dem Mädchen, wird nicht ewig funktionieren.“
Maximilian nickte.
„Wenn dem so ist ...“ Carnivor spuckte das kleine Stück Holz aus. „... schätze ich, brauchst Du meine Hilfe. Irgendjemand muss auf Dich aufpassen.“ Er legte seine Hand auf die Schulter des Anderen. „Komm, lass uns gehen. Morgen ist auch noch ein Tag für Trauer.“
Zusammen drehten sich die beiden Männer um und gingen. Eine einzelne Rose ruhte im Schoß eines Mädchens, in strahlendem Rot. Wie ein Bluttropfen im Schnee.

Einst gab es ein Sprichwort:
Erst, wenn niemand mehr an einen denkt, ist man wirklich tot.
Erst, wenn niemand mehr an einen denkt, ist man wirklich tot.
Schnee fiel in großen Flocken hernieder und bedeckte die Erde mit einem weißem Teppich, unter dem die Toten schliefen. Manch ein Eiskristall verging zischend in der Flamme einer einsamen Kerze auf einem der Gräber des Ostfriedhofs. Darauf hin flackerte das Licht unruhig auf, ehe es wieder beruhigend auf den Schotterweg fiel, der nun fast nicht mehr sichtbar war. Seit Jahren wurde der Ostfriedhof nicht mehr benutzt. Er war nur noch ein Monument der Vergangenheit, ein Relikt aus einer Zeit, in der die Menschen ihre Toten mit großen Grabmälern und Statuen ehrten. Tagsüber schlichen dann die Menschen ehrfürchtig durch die Reihen von Engeln, Mausoleen und den Bildnissen griechischer und römischer Götter und Helden, bewunderten die Kunstfertigkeit der Erbauer, lasen die großen Namen, die hier begraben lagen, verharrten beeindruckt und gingen dann in ihre Leben zurück, ohne noch einen weiteren Gedanken an die Menschen zu verschwenden, denen sie einst nachfolgen würden. Niemand dachte daran, die Toten besonders zu ehren, nirgendwo fand sich ein Hinweis darauf, dass einem der vielen gedacht wurde und doch – eine Ausnahme gab es. Am Rand des Friedhofes, in einer Ecke, die kaum jemand betrat, fand sich ein besonderes Grab. Es besaß keine beeindruckend große Statue eines Engels, der seine Flügel ausbreitete, es war kein großer Bau, nein, es war ein Grab auf dem sich nur die Statue eines Mädchens befand. Klein im Vergleich. Schön anzusehen, handwerklich geschickt, aber nichts Besonderes. Mit großen Augen sah das Kind in den Himmel hinauf, fast flehend, die Arme in den Schoß gelegt. Die Hände fehlten schon lange, aber eben genau da war es, das Außergewöhnliche. Anstelle der Hände lagen zwei kleine rote Rosen. Zart, zerbrechlich. Ein Windstoß hätte sie fortwehen können, wie vor ihnen das Mädchen, das hier begraben lag, vom Tod weggetragen worden war. Es hätte nichts ausgemacht wären die Rosen verschwunden. Seit hundert Jahren legte jemand jeden Tag frische hierhin in Gedenken an das Kind. Im verwitterten Stein war in leuchtenden, bronzenen Buchstaben ihr Name zu lesen, Carola Fuhrler. Nie war ein Tag vergangen ohne diese Zeichens des Erinnerns.
Langsam schob sich der schwarze Rolls Royce vor die Eingangstür des alten, herrschaftlichen Sitzes. Schritte erklangen, eine Tür wurde geöffnet und ein edler italienischer Schuh wurde sichtbar, als sich sein Besitzer aus dem Fond des Wagens erhob. Es war ein Mann in seinen besten Jahren. Braune Augen unter graumelierten Haar, welches streng zurückgekämmt war, fanden sich in einem Gesicht, das jetzt den vor ihm stehenden Mann musterte. Dieser verbeugte sich unverzüglich tiefer, als er es schon tat. Sein Atem kam nun flacher, seine Angst war geradezu körperlich zu spüren. Zufrieden grinste sein Herr und schritt an seinem Diener vorbei. Leichtfüßiger als sein stämmiger Körperbau es vermuten ließ, erklomm er die Treppe. Oben erwartete ihn schon ein weiterer seiner Hausdiener im warmen Licht der Lampen. Nachdem der Mann das Haus betreten hatte, wurde die Tür unverzüglich geschlossen, um die Kälte auszusperren.
„Sir Nicolas!“ Mit nahezu gelangweilter Stimme begrüßte der Butler seinen Herrn und forderte ihn gleichzeitig auf, sich aus dem Mantel helfen zu lassen.
Nicolas von Eichental wartete, bis er die Hände seines Dieners an der Schulter spürte und streifte den Mantel dann ab. Ohne sich umzusehen oder etwas zu sagen, erklomm er die vor ihm liegende Treppe, die mit einem edlen, tiefroten Teppich ausgelegt war. Anschließend ging er an unzähligen Antiquitäten vorbei, die aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte stammten, direkt auf eine schwere Tür zu, die zu seinem Arbeitszimmer und gleichzeitig der Bibliothek führte. Durch das Eichenholz konnte er leise eine Stimme vernehmen. Sobald Nicolas die Tür öffnete, klangen die Worte laut in seinen Ohren und er verfluchte die Feinheit seines Gehörs.
„ … gut. Sie sind in einer halben Stunde hier. … Sehr gut. Das Geld wartet bereits auf Sie. Keine Sorge. … Sicher … Sehen Sie nur zu, das Sie nicht verfolgt werden. … Wir wollen doch keine böse Überraschung erleben. Bis dann!“ Ein Telefonhörer wurde aufgelegt.
„Und? Läuft alles glatt?“ Nicolas von Eichental wandte sich an seinen Sekretär, der soeben das Telefonat beendet hatte. „Ich hoffe, Ihr habt nichts vergessen. Heute Nacht muss das Ritual noch durchgeführt werden. Für die Beschaffung eines weiteren Opfers wird keine Zeit mehr bleiben.“
„Keine Sorge, Sir, es ist alles perfekt organisiert. In weniger als einer Stunde werdet Ihr wieder eure ganze Kraft besitzen. Daran besteht absolut kein Zweifel!“
Kurz hob sich eine Augenbraue in Nicolas` Gesicht. Der Junge war sehr von sich überzeugt, ging es ihm durch den Kopf. Hoffentlich berechtigt. Er hatte ihm zum ersten Mal einen solchen Auftrag erteilt. Bestand er diese Bewährungsprobe konnte man ihm wirklich vertrauen. Zumindest soweit man jemand anderen trauen konnte, der am Liebsten die eigene Position einnehmen wollte. Wobei es im Prinzip schon länger kein Zurück mehr gab. Nach dem Nicolas ihm enthüllt hatte, wer er war, war er auch von diesem Jungen abhängig.
„Na, dann. Ich hoffe, Ihr habt eurem Kontaktmann nicht erzählt, wofür wir das Mädchen brauchen, oder Lukas?“
Entsetzen spiegelte sich im Gesicht des Sekretärs.
„Gott be... Natürlich nicht, Sir!“ Nach einem kurzen Stocken fuhr er wieder selbstsicher fort. „Der Kerl denkt, wer weiß was. Vermutlich, dass Ihr ein Perverser seid. Aber mit Sicherheit ahnt er nichts.“
Nicolas musste unwillkürlich lächeln, als Lukas das Wort „Gott“ über die Lippen kam. Er hatte ihm schon tausendmal gesagt, er müsse sich deswegen nicht schämen. Es bestand kein Grund für Rücksichtnahme. Anstatt erneut mit ihm darüber zu diskutieren, ging er zu einem kleinen Schränkchen in dem er seinen besonderen Whisky aufbewahrte, entnahm zwei Gläser, einen fünfunddreißig Jahre alten Ardbeg und setzte sich hinter seinen wuchtigen Schreibtisch. Dort füllte er die beiden Gläser zur Hälfte und reichte eins Lukas.
„Hier lasst uns anstoßen. - Auf Euren ersten wichtigen Vertragsabschluss für mich. Mögen noch viele folgen!“
Die beiden Männer prosteten sich zu und nahmen einen kleinen Schluck des Whiskys. Entspannt lehnte sich Nicolas in seinem Sessel zurück und genoss die Ausgewogenheit und den rauchigen Geschmack seines Getränks. Es würde ein perfekter Abend werden. Erst die fantastische Darbietung von Mozarts Zauberflöte im Opernhaus, dann der Empfang, bei dem er für sein soziales Engagement geehrt worden war und jetzt der Ausklang mit einem nahezu perfekten Whisky. Dazu würde er sich in weniger als einer Stunde ausgiebig stärken können. Was konnte es besseres geben. Er lächelte ein weiteres Mal an diesem Abend und entblößte dabei seine Zähne, was ihm sofort ein wölfisches Aussehen gab. Die Stimme seines Gehilfen riss ihn aus seinen Gedanken.
„Sir? Sir, ich hätte da eine Frage. Dürfte ich sie stellen?“ Normalerweise war dies einer der Moment, in denen Nicolas die Beherrschung verlor und am Liebsten dem Störenfried die Eingeweide herausriss. Aber heute war er zu guter Laune, außerdem opferte man nicht einfach so, einen guten Helfer. Als ein solcher hatte sich Lukas bisher bewiesen. Also nickte er ihm herablassend zu und wartete. Vermutlich belief es sich auf etwas ganz banales. Auch wenn Lukas großen Sinn fürs Geschäft hatte, war er ein ums andere Mal etwas zu naiv, was andere Dinge anging, aber Nicolas hatte noch genügend Zeit, genau genommen die Ewigkeit, um dem Jungen alles beizubringen.
„Sir, was ich mich schon länger frage: Warum nehmt Ihr nicht ein Mädchen aus dem Kinderheim, das Ihr finanziert. Irgendein Vorwand ließe sich doch finden. Vielleicht irgendein reiches Paar in Übersee, das keine eigenen Kinder bekommen kann, oder ein Unfall oder so etwas.“
Kurz stockte Nicolas in seiner Bewegung das Glas abzustellen und schüttelte energisch den Kopf.
„Nein! Nein auf keinen Fall, dürfen wir das tun. Eine Fassade ist nur dann gut, wenn sie fest gebaut ist. Entferne auch nur einen Stein und sie fällt zusammen. Vermutlich lägen ihre Trümmer so schnell vor uns, so schnell könnten wir uns gar nicht in Sicherheit bringen.“ Nicolas war aufgestanden und stand nun dicht vor seinem Sekretär, der sich unbehaglich wand und am Liebsten in diesem Moment weit weg gewesen wäre. Trotzdem konnte er sich nicht von seinem Herrn abwenden, dessen hypnotischer Blick ihn eisern festhielt. „Hast Du mich verstanden Lukas? Wage es ja niemals daran zu denken, eins der Mädchen aus dem Heim für unsere Zwecke zu gebrauchen. Tue es und ich werde Dich töten. Schneller als Du Dir vorzustellen vermagst!“ Ein Schlucken und hastiges Nicken und Nicolas setzte sich wieder zufrieden in seinen Sessel. Unverzüglich kehrte sein Lächeln zurück und er nahm einen weiteren Schluck des edlen Whiskys.
„Abgesehen davon, wollen wir doch unsere Anwälte nicht allzu sehr bemühen. Sie sind zwar gut, aber leider auch teuer, was solche Dinge angeht.“ Er zwinkerte dem jüngeren Mann zu. „Kommt lasst uns unsere Partie fortsetzen.“ Er wies auf ein Schachbrett aus Kirschholz. Weiß war am Zug und arg in Bedrängnis. Die Zeit verging und schließlich klopfte es an der Tür. Gleich darauf öffnete sie sich und der Butler erschien. „Sir, ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er sagte, es wäre in einer dringenden Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet..“
Nicolas sprang auf und ließ Spiel Spiel sein. „Schicken Sie ihn herein!“
Der Butler trat hinaus, gab jemanden ein Zeichen und kurz darauf, betrat ein Mann in ausgeblichenen Jeans den Raum. Nicolas verzog für eine kurzen Augenblick angeekelt das Gesicht, als er die fettigen Haare und das schiefe Grinsen seines Gastes sah. Aber sofort entspannten sich seine Gesichtszüge, denn sein Blick fiel auf das kleine Mädchen, das den Mann begleitete. Unsicher, aber neugierig und beeindruckt glitten dessen Augen über die riesige Anzahl Bücher, die sich in den Regalen der Bibliothek angesammelt hatten. Vermutlich wusste es noch gar nicht, was um es herum geschah, denn älter als vier, konnte es noch nicht sein. Nicolas war beeindruckt, soweit er es spüren konnte, verbarg sich sehr viel Macht in ihm. Eine so starke Macht, wie er sie noch nie zuvor gewahr worden war. Vielleicht würde es dieses Mal reichen, ihn zu heilen. Aber diesem Gedanken konnte er noch später anhängen, er wandte sich seinem Gast zu.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Whisky, Wasser, Wein?“
„Ein Bier wäre gut“, der Mann strich sich dabei durch seinen dichten Bart, so dass kaum mehr als ein Nuscheln seinen Mund verließ. Nicolas stockte kurz. Ein Bier? Welch ein Barbar. Aber gut, man konnte sich die Leute mit denen man Geschäfte machte, nicht immer aussuchen.
„Lukas, würden Sie bitte dem Herrn ein Bier bringen?“
„Sofort, Sir!“
Lukas verließ eilig den Raum.
„Nun Herr …?“
Nicolas Gegenüber hob die Hand.
„Carnivor, reicht. Ich denke, Sie wollen meinen richtigen Namen nicht wissen. Genauso wenig, wie ich den Ihren. Es reicht, den von ihrem Sekretär zu kennen.“
„Nun, Herr Carnivor,“ Nicolas nahm eine Schluck seines Whiskys. „Ich denke, sie haben schon alles geklärt mit meinem Assistenten. Sie kennen die Bedingungen unseres Handels, deswegen werde ich sie nicht weiter damit langweilen. Wieviel bin ich Ihnen denn schuldig?“
„Wissen Sie,“ Carnivor ließ sich in einen Sessel nieder.“ Nachdem ich jetzt gesehen habe, wie sie wohnen, scheinen mir hunderttausend ein bisschen wenig. Wie wäre es mit zweihundertfünfzig?“ Entspannt griff der Gast zu der Flasche Bier, ignorierte das Glas, beides hatte der inzwischen zurückgekehrte Lukas vor ihm abgestellt, und nahm einen kräftigen Zug aus der Flasche.
„Zweihunderfünfzigtausend! Sind Sie ...“ Lukas stand die Zornesröte im Gesicht, doch schon hatte Nicolas die Hand erhoben und der Sekretär verstummte. Mehrere Augenblicke ruhte der Blick des Hausherrn auf dem süffisanten Grinsen seines Gastes. Dann nickte er nur.
„Also gut, zweihundertfünfzig.“ Carnivors Grinsen schien sich nun von Ohr zu Ohr zu erstrecken. „Lukas zahlen sie ihn aus. Und bringen sie das Mädchen nach nebenan.“ Nicolas erhob sich, sah einmal kurz zu dem in der Ecke stehenden verängstigten Mädchen hinüber und machte sich auf, die Bibliothek zu verlassen.
„Aber Sir, wenn wir ihm geben, was er verlangt, wird er immer mehr verlangen!“ Nicolas fuhr herum. Mit kalter Stimme fuhr er seinen Assistenten an.
„Nein, das wird er nicht. Herr Carnivor scheint mir klug genug zu sein, zu wissen, was es bedeutet, mich zu erpressen. Außerdem will er bestimmt nicht, dass seine Geldquelle versiegt.“ Ein kurzer, abschätzender und bedrohlicher Blick zu seinem Handelspartner folgte.
Carnivor hob seine Bierflasche und prostete Herrn und Sekretär zu.
„Gut, dann ziehe ich mich jetzt zurück. Guten Abend! - Ach, und räumen Sie hier etwas auf, ich hasse Unordnung in meiner Bibliothek.“
Lukas sah seinem Herrn erstaunt nach, Carnivor hingegen tippte sich, in Anlehnung an einen militärischen Gruß, nur kurz mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn.
Eine Stunde Später stand Nicolas von Eichental vor einer schweren Holztür mit eisernen Beschlägen. Er trug jetzt eine samtene Robe von der Farbe des Blutes. Über sie liefen in schwarzen und silbernen Linien die Zeichen des Chaos. Sie verbanden sich, liefen auseinander, umschlangen einander und verzehrten sich. Rot schien gegen Silber und Schwarz zu kämpfen und doch nicht gewinnen zu können, nur um im gleichen Moment die Oberhand zu erlangen. Das Muster bewegte sich, bildete Tentakel und Kreise.
„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und Glück, Sir!“ Der Einwurf stammte von Lukas, der darauf bestanden hatte, vor der Tür auf seinen Herrn zu warten.
„Mit Glück hat das nichts zu tun.“ Zischte der Angesprochene und Lukas machte unwillkürlich zwei Schritte zurück. Von Eichental hatte sich schon wieder der Tür zugewandt und lockerte seine Schultern, ein letztes Mal ehe er die Tür öffnete. „Dann los.“ Murmelte er und betrat den angrenzenden Raum. Dunkelheit empfing ihn, durchbrochen von dem flackernden Licht einer einsamen Fackel. Die Tür schloss sich hinter ihm und würde die nächste Zeit auch nicht wieder aufgehen, wenn er es ihr nicht befahl. In der Mitte des quadratischen Raumes befanden sich altägyptische Hieroglyphen angeordnet in einem Dreieck, verbunden durch einen umfassenden Kreis und Geraden. Pentagramme, ging es Nicolas durch den Kopf. Wer brauchte die schon. Sicher, in schlechten Horrorfilmen waren sie unverzichtbar, doch in Wahrheit hatten die Ägypter über mehr Wissen verfügt und ihre Rituale waren bei weitem mächtiger. Er sah sich um. Das Mädchen musste sich in diesem Raum befinden. Wahrscheinlich hatte es sich vor Furcht in eine Ecke zurückgezogen und harrte in der Dunkelheit. Naja, das war nichts Neues. Allerdings seltsam, wenn man bedachte, dass sich normalerweise jeder vor der Dunkelheit fürchtete, aber hier unten, mit ihm, zogen sie sich immer dorthin zurück. Bringen tat es ihnen nichts. Sein Ruf würde sie schon herauskriechen lassen. „Komm her, Kleine! Ich tue Dir nichts! Versprochen!“ Wenn man ihn so hörte, konnte man es fast glauben. Nicolas Stimme troff geradezu vor Honig. Und tatsächlich erschien im äußersten Lichtschein sein Opfer. Mit großen Augen sah es sich um, betrachtete die Zeichen auf dem Boden, seine Arme eng um sich und sein Stofftier geschlungen. Sie bewegte sich auf ihn zu, ihr linker Fuß berührte den Kreis an einer Spitze des Dreiecks. „Wie heißt Du, meine Kleine?“ Der Name interessierte ihn eigentlich gar nicht, aber er brauchte ihn für das Ritual. Außerdem beruhigte es die Kinder immer, wenn man sie nach ihrem Namen fragte.
„Carola!“
„Carola, ein schöner Name.“ Langsam schritt er auf das Mädchen zu und ließ dabei unauffällig einen reichverzierten Dolch mit einer fingerlangen, schwarzen Klinge in seine rechte Hand gleiten. Der erste Schnitt musste schnell geschehen und vor allem genau dort, wo das Mädchen jetzt stand. Er kniete sich vor sie. „Ich werde Dir nicht weh tun.“ Er hob seine Hand, um ihr durchs Haar zu fahren.
„Irgendwie glaube ich Dir nicht!“ Das Mädchen sprach mit einem Mal mit einer viel zu tiefen Stimme und bevor Nicolas zurück zucken konnte, traf ihn die kleine Faust des Mädchens mitten ins Gesicht und er flog quer durch den ganzen Raum an die Wand. Hart prallte er auf, ein Knacken ertönte und von Eichental wusste, müsste er noch atmen, wäre ihm die Luft aus der Lunge gepresst worden. Dann stürzte er zu Boden. Mit rauer Stimme, wütend und schwarzes Blut spuckend wandte er sich an Carola. „Wer zum Teufel bist du?“ Zeit, er brauchte Zeit. Der Schlag hatte gesessen. Seine Knochen brauchten wenigstens ein bisschen davon, um zusammen zu wachsen. Reden, reden konnte helfen und dann würde er diesen Bastard auseinander reißen. Nur der Schmerz musste weg, dann konnte er sich konzentrieren.
„Wer ich bin?“ Lachend kam Carola, oder wer auch immer sie sein mochte, auf ihn zu. „Ich – bin derjenige, der Dich seit hundert Jahren sucht. Der Dich gejagt hat. Viel zu oft bist Du mir entkommen, aber dieses Mal nicht.“ Die Luft flirrte vor dem Gesicht des Mädchens und offenbarte ihre wahre Gestalt. Nicolas stöhnte auf.
„Du? Du Bastard! Ich habe Dich geschaffen, Du solltest mir auf Knien danken, nicht versuchen mich zu vernichten!“
„Ich habe Dich nicht darum gebeten, Du Schwein!“ Krallen wuchsen aus den Fingern des Mannes, der nun vor ihm stand, dann holte er aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Mit einer solchen Wucht wurde Nicolas getroffen, dass es ihm beinahe den Kopf von den Schultern riss und er abermals durch die Luft wirbelte. Krachend kam er auf. Tiefe Risse liefen über seine Wange und sein linkes Auge war nicht mehr als ein klebriger Klumpen. Aber dieses Mal gewann der Schmerz nicht die Oberhand, dieses Mal siegte die Wut und der Hass.
„Du hast schon einmal versucht mich zu töten!“ Von Eichental riss sich die Robe vom Leib, um sich besser bewegen zu können. „Wie kommst Du auf die Idee, es könnte Dir dieses Mal gelingen, Maximilian!“ Er spie die Worte förmlich aus, dabei spürte er, wie sich sein Auge wieder zusammenfügte.
„Ich bin stärker geworden!“ Trocken und emotionslos war die Antwort.
Beide belauerten sich jetzt, kreisten umeinander, wie zwei räudige Kater, kurz vorm Sprung. So war es gut, weiter so. Nicolas musste sich beherrschen. Er durfte keine Miene verziehen. Bald war es so weit. Als ob sein Kontrahent es geahnt hatte, sprang er vor, doch es war umsonst. Mit einem hämischen Lachen machte der Hausherr eine Kreisbewegung mit den Armen und schloss die Hände zu Fäusten. Im Sprung packten zwei Tentakel aus Schatten Maximilian, umschlangen ihn und begannen sofort an ihm in verschiedenen Richtungen zu zerren. Als er beinahe entzwei gerissen wurde, lockerte von Eichental seine Hände. Ein kleine Bewegung und schon hing sein Widersacher kopfüber vor ihm, gehalten von Schatten.
„So wie es aussieht, bin ich wohl doch zu stark für Dich. Dein erster Versuch damals mit dem Gift war geschickt. Ja geradezu perfide, aber dieser Angriff … enttäuschend! - Ich werde später wieder kommen, um Dich zu töten. Erst einmal muss ich ein Mädchen finden, das mir Kraft schenkt.“ Kurz sah er nach unten und legte den Kopf schief, eher er seinen Gefangenen wieder fixierte. „Weißt Du irgendwie bin ich dir dankbar. Hättest Du mich nicht vergiftet, hätte ich niemals von dem süßen Blut der Unschuld getrunken.“ Breit lächelnd stand er jetzt da.
„Fahr zur Hölle Du Schwein!“ Maximilians Augen loderten auf, vermutlich in der Hoffnung. „Hätte ich gewusst, dass Du überlebst, hätte ich Dir gleich den Kopf abgeschlagen!“
Nicolas lachte auf, drehte sich um und schritt zur Tür. Ob Wut, Zorn oder Enttäuschung im Gesicht seines Widersachers stand, war unwichtig. Einzig das Herbeischaffen eines Ersatzopfers zählte. Denn auch, wenn er sich bemühte stark zu wirken, seine Kräfte waren beinahe am Ende. Er hob die Hände um die Passes zu vollführen, die den Durchgang freigeben würden. Die ersten zwei Bewegungen, zwei einfach Kreise gegen den Sonnenlauf, waren schnell ausgeführt, dann stockte er. Seine linke Hand bewegte sich nicht mehr. Sie begann zu zittern, wurde heiß, desgleichen geschah mit seiner anderen, um unmittelbar darauf mit ungeheurer Kraft an seine Brust gepresst zu werden. Schritte waren ebenfalls nicht mehr möglich. Stocksteif stand er da. Hatte er sich zu sehr verausgabt? Verdammter Idiot, der er war. Warum hatte er nicht sofort zugestochen? Warum musste er immer erst mit seinen Opfern reden? Jetzt würde ihn das Gift wahrscheinlich doch noch beseitigen. Wut stieg erneut in ihm auf. Sein Blut tobte durch seine Adern und ließ seine ansonsten blasse Stirn in Zorn erglühen.
„Gib Dir keine Mühe!“ Die dunkle Stimme seines Kindes erklang direkt an seinem Ohr. „Ich habe Dir doch gesagt, ich wäre stärker geworden. Du solltest besser zu hören!“ Die Schneide eines Messers legte sich an seinen Hals. „Jeder Schluck Blutes, vom jeden Vampir den ich erledigt habe, hat mich nur stärker werden lassen. Hat mir neue Fähigkeiten verliehen. Und jetzt bin ich sogar mächtiger als Du – Marquis de Bernadone!“ Nicolas schluckte. Kurz wollte Panik die Oberhand gewinnen. Seinen Namen, Maximilian wusste seinen wahren Namen. Damit hatte er wirklich die Oberhand. Noch einmal trat das Rot des Blutes vor seine Augen, aber dann verging das Glühen. Es war vorbei. Wirklich vorbei. Vielleicht war es besser so. Er hatte genügend Jahrhunderte gesehen, ob ein weiteres hinzukam war unerheblich. Wenn man alt genug war, war es letztlich egal, wieviele Jahre man über die Erde gewandelt war. Ein Tag war so gut wie der andere, um abzutreten. Lieber von dem eigenen Kind getötet, denn von einem Fremden. Er atmete fast erleichtert aus.
„Na gut, Du hast gewonnen. Eine Bitte habe ich nur. Sag: Wie hast Du mich gefunden?“
Der Marquis hörte Maximilian kurz bitter lachen. „Dein Sekretär. Er war dumm genug sich an einem der Kinder im Heim zu vergreifen und dabei Deine Handschrift zu benutzen. Das Mädchen trug ein eingeritztes Kreuz auf der Wange, als ich es tot im Wald fand. Sie ähnelte Carola. Ich wusste, Du würdest in der Nähe sein.“
Nicolas konnte sich ein Stöhnen nicht verkneifen.
„Tue mir den Gefallen und töte den Idioten beim Rausgehen! - Und jetzt fange mit mir endlich an!“
„Keine Sorge. Das werde ich.“ Kam die heiser geflüsterte Antwort.
Dann spürte der Marquis de Bernadone wie ihm das Messer über die Kehle gezogen wurde. Es brannte, verätzte seine Haut, es bestand aus geschwärzten Silber. Das Letzte, das er sah, war der Schatten eines Pflockes an der Wand.
Ein einzelnes Paar Schritte im Schnee führte zu der hinteren Ecke des Friedhofes. Die Spuren waren fast verweht vom Wind, der beständig über die Gräber strich. Sie endeten an einem kleinen Grab. Maximilian betrachtete die Statue des kleinen Mädchens. Seine Schwester würde hier ewig ruhen und er auf ewig zu ihr kommen und ihrer Gedenken. Hundert Jahre was es nun her, seitdem sie durch die Hand seines Schöpfers den Tod gefunden hatte. Hundert Jahre, in denen ihn nur ein Gedanke beseelt hatte. Rache nehmen und Buße tun. Hätte er nicht seinem Schöpfer eine zu schwache Dosis des Giftes verabreicht, hätte sie im Kreise ihrer Enkel sterben können. Der Mut hatte ihm gefehlt. Der Mut ihn damals von Angesicht zu Angesicht zur Rechenschaft zu ziehen. Vielei waren seinetwegen eines unnötig grausamen Todes gestorben.
„Das stimmt nicht. Er hätte so oder so Unschuldige getötet.“ Eine wohlbekannte Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien und Schuldgefühlen. Maximilian fuhr herum. Hinter ihm, an einer Engelsstatue lehnend und mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen, stand Carnivor. Lässig schritt sein Freund und Lehrer auf ihn zu. „Ist es vorbei?“
„De Bernadone ist tot, ja“
„Das meinte ich nicht.“ Carnivor war vor Maximilian stehen geblieben und hielt den Kopf schräg, während er seinen Zahnstocher hin und her rollen ließ und seinen Schüler betrachtete. „Kannst Du sie endlich in Frieden ruhen lassen. Ist es für sie vorbei?“
„Sie schon.“ Maximilian holte tief Luft. „Aber ich kann nicht. Es gibt noch immer genug von seiner Sorte. Ich werde keinem von ihnen gestatten weiter zu existieren.“
„Du weißt, die Nummer mit dem Mädchen, wird nicht ewig funktionieren.“
Maximilian nickte.
„Wenn dem so ist ...“ Carnivor spuckte das kleine Stück Holz aus. „... schätze ich, brauchst Du meine Hilfe. Irgendjemand muss auf Dich aufpassen.“ Er legte seine Hand auf die Schulter des Anderen. „Komm, lass uns gehen. Morgen ist auch noch ein Tag für Trauer.“
Zusammen drehten sich die beiden Männer um und gingen. Eine einzelne Rose ruhte im Schoß eines Mädchens, in strahlendem Rot. Wie ein Bluttropfen im Schnee.
Auf das der Wind in eurem Rücken, nie euer eigener sei. (alter irischer Reisegruß
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drakir
und seine Werke

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