07-01-2012, 02:51
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 10-01-2012, 00:08 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
3
Er wusste nicht, dass er noch lebte.
Staub und Sand in seinem Mund, die der Wind hinein geweht hatte.
Die letzte Wärme schützend in seinen Armen. In seinem Kopf stand der alte Hendrik Wittbooi neben ihm und schaute auf ihn herunter.
Brummend erst, dann ein anerkennendes Nicken.
<Du hast genug getan.>
Er reichte dem weißhaarigen Joseph mit den Schusswunden die Hand und wollte ihm aufhelfen, doch nur die Wärme entfernte sich.
"Nein ...", murmelte Joseph, wollte nach ihr greifen, doch sein Körper verweigerte sich.
<Es ist an der Zeit, loszulassen.>
"Ganz ruhig, ..."
<Sie ist in Sicherheit.>
"Hilfe ist unterwegs!"
<Und nun ...>
"Können Sie mich hören?"
<Komm.>
***
Im Innenhof des Schlosses standen die dichtgedrängten Leiber der Tanzwütigen vor der Bühne, links davon reckte sich der Turm in die klare Sternennacht.
"Warum hast Du mich nicht wenigstens gewarnt?", sang der Mann mit den blonden Haaren und zeigte wütend in den Himmel. "Zu einer betrogenen Nacht hätte ich vielleicht nichts gesagt,..."
Die Uhren des rotbraunen Schlossturms wurden von Scheinwerfern aus allen Richtungen beleuchtet und es gab kaum jemanden, der seinen Blick von ihnen losreißen konnte.
Abseits der Menge nahe des Blutgerichts stand Ludger allein, da Bela sich noch die letzten Getränke auf der Toilette durch den Kopf gehen ließ. Er ließ seinen Kopf über die begeisterte Menge kreisen und blieb schließlich beim Sänger haften.
"... hätt mich zwar schockiert, wahrscheinlich hätt ichs noch kapiert."
Die Musik wurde leiser, verstummte schließlich und wurde von einem frenetischen Klatschen bejubelt.
"Aber Du hast ja gleich auf Liebe gemacht!"
Selbstgemalte Schilder mit ' Herbie!!!' und ' GrÖnemeyer!!!' wurden von begeisterten Händen hochgehalten und der Beifall von jung und alt kannte keine Grenzen.
"Ludger!", rief jemand hinter ihm. Er drehte sich um und starrte in ein bekanntes, zu den Akten gelegtes Gesicht.
"Ariberth?", rief er erstaunt. " Du lebst doch noch?"
Die Schlagzeuger griffen erschöpft nach ihren Handtüchern und wischten sich trotz der Kälte den Schweiß von der Stirn. Der Sänger trat einen Schritt vom Ständer mit dem Mikrophon zurück und überließ es einem Dritten, der lächelnd auf die Bühne trat.
"Herbert Grönemeyer, meine Damen und Herren", rief er und seine Stimme dröhnte durch die riesigen Lautsprecher, die neben der Bühne aufgebaut waren. "Und bevor es gleich weitergeht, ein Blick zur Uhr: nur noch eine Minute bis zum neuen Jahr."
Sein Bruder rückte näher, so dass sich fast ihre Nasen im lauten Getümmel berührten.
"Ludger, wir haben nicht viel Zeit ..."
"Was hat uns 1987 nicht alles bewegt? Die Rückgabe der sowjetisch besetzten Gebiete, der Rückzug der Roten Armee? Die Fertigstellung der historischen Gebäude auf der Kneiphofinsel?"
"Wir? Was meinst Du?"
"Vater liegt im Krankenhaus ..."
Ludger winkte ab.
"Falls Du hier bist, damit ich mich als Ersatzteillager zur Verfügung stelle - vergiss es!"
"Wie kommst Du darauf?"
"Was es auch sei, lassen sie uns gemeinsam auf das nächste Jahr freuen ..." Der Moderator schaute wieder zu den Turmuhren hinauf. "Und ab jetzt sind es nur noch Sekunden: Zehn, ..."
"Als der alte Sack das letzte Mal anrief, wollte er, dass ich eine Niere spende, damit er weiter leben kann."
"Das ist Quatsch, Ludger."
"Bitte?"
"NEUN!"
"Genau das wollte er nicht", meinte Ariberth. "Er wollte mit Dir reden, dass war alles!"
"Hast Du am Telephon gesessen - oder ich? Wo warst Du eigentlich? Hm? Hast Dich frühzeitig davon gestohlen, glorreicher Offizier. Was hier aus mir wurde, war Dir doch egal."
Ludger funkelte abwechselnd Lissy und seinen Bruder an.
"Es ist doch euch allen egal!"
"ACHT!"
"Er sieht nicht gut um ihn aus ..."
"Na und? Soll ich jetzt weinen?"
"SIEBEN!"
Ari wollte nach seinen Schultern greifen, doch Ludger stieß ihn fort.
"Fass mich nicht an!", zischte er. "Geh doch zu Deiner tollen Reichsluftwaffe zurück und verpiss Dich!"
"SECHS!"
"Ich bin nicht länger bei der fliegenden Truppe."
Ludger schaute ihn überrascht an, als Ariberth ein Papier aus der Innentasche zog und es ihm auffordernd hinhielt.
"Hier, falls Du es mir nicht glaubst. Ich bin abgestellt als Testpilot mit Weltraumverwendung bei der Zuse-Siemens AG."
"FÜNF!"
Ludger ignorierte den Schrieb.
"Dann kannst Du den alten Mann ja im Weltraum aussetzen, ... kann er konserviert die Sonne umkreisen ..."
"Das ist auch Dein Vater!", schrie Elisabeth. "Ist Dein Herz so kalt geworden?"
"VIER!"
Ludger funkelte Lissy zornig an.
"Mein Vater ist gestorben, als ich zu Dir hingezogen bin. Und Du bist es seit Heute." Er lachte. "Aber wenn ihr meint, dass ihr für ihn verantwortlich seid, dann geht doch hin zu ihm und begleitet ihn auf seinen letzten kläglichen Minuten!"
Ludger wandte sich von den beiden ab und wollte gehen, als Lissy ihn wütend zurückzog.
"Du lebst doch nur Dein Leben von Heute ins Morgen. Du weißt doch gar nicht, was Verantwortung heißt!"
"Doch", zischte er. "Nur nicht Diktatur!
"Dik-, was?
"DREI!"
Er beugte sich drohend zu ihr hin.
"Du hast mir genauso alles vorgeschrieben, wie Zuhause, Lissy. Genauso. Tu dies, tu das."
"Ludger ...", rief Ariberth und wollte sich schützend zwischen die beiden drängen, doch Ludger stieß ihn zurück.
"Du bist selbstverliebt", knurrte Lissy. "In Ludgers Herz ist nur Platz für Ludger - sonst nichts."
"ZWEI!"
"Von mir aus, denk was Du willst." Er lachte den beiden ins Gesicht. "Jetzt tue ich endlich mal das, was ICH will!"
Elisabeth stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf.
"Ich hätte mir meine Zeit mit Dir wirklich sparen können ..."
"Ich mit Dir auch."
"EINS!"
"Bitte?"
"Tu doch nicht so! Das nennst Du Liebe?", schrie er. "Du bist nur eine hübsche Mogelpackung auf zwei Bein-."
Ihre Hand klatschte durch sein Gesicht. Und bevor irgendein mäßigender Gedanke sich durch Ludgers nebelverhangenen Kopf quälen konnte, ballte er seine Hand zur Faust und schlug zurück.
"NULL!"
Sie kippte überrascht nach hinten und wurde von Ariberth aufgefangen.
Hinter den Mauern nahe des Schlossteiches schossen Raketen in den sternenklaren Himmel und zersplitterten unter Donnern und Knistern in bunte Funkenregen, die verglühend zur Erde zurückfielen.
"FROHES NEUES JAHR, KÖNIGSBERG!"
Auf dem Dach des Giebelhauses und auf der Turmspitze flackerten bunte Feuerfontänen auf, während die Musiker wieder nach ihren Instrumenten griff.
Unter dem künstlichen Sternenregen hielt sich der Sänger das Mikrophon vor den Mund, schaute erst zu seiner Band, dann lächelte er nickend.
"Nehm meine Träume, ..., für bare Münze", begann er. "Schwelge in Phantasien, hab mich in Dir gefangen ..."
Ein dunkelroter Abdruck stach aus Elisabeths Gesicht hervor, eine Träne wand sich aus ihrem Auge darüber und hangelte sich an einer blonden Strähne und den Sommersprossen entlang.
"Fühl mich bei Dir geborgen, setz' mein Herz auf Dich. Will jeden Moment genießen - Dauer ewiglich."
"Lissy, ich ..." Ludger taumelte erschrocken ein Stück zurück. "Ich ..." Er hob unbeholfen die Hände starrte kopfschüttelnd auf seine Finger. "Es ..."
"Bei Dir ist gut anlehnen, Glück im Überfluss ..."
"Ich denke, das reicht jetzt, Ludger", sagte Ariberth, dann schaute er zu Lissy. "Alles in Ordnung? Soll ich Dich nach Hause bringen?"
In ihren Augen funkelte es.
"Wir fahren jetzt ins Krankenhaus!", zischte sie. "Und Du auch, Ludger Krieger."
***
Sie saßen im Porsche, der durch die Altstadt fuhr.
Elisabeth neben Ariberth, Ludger auf dem hinteren viel zu engen Ledersitz dahinter.
Er konnte ihr Antlitz im Rückspiegel des Beifahrers sehen, wie sie teilnahmslos durch die Windschutzscheibe starrte. Noch immer der dunkle Abdruck auf ihrem Gesicht. Ein Taschentuch von Ariberth hatte sie genauso abgelehnt, wie die angebotene Heimfahrt.
Ludger wandte sich ab und schaute verschämt durch die Scheibe auf seiner Seite nach draußen. Hinter seinen Augen immer noch der lautlose Schlag, garniert mit Belas Worten.
Man schlägt einfach keine Frauen!
Bela. Sie hatten ihn zurückgelassen. Es war wichtiger zu verschwinden, als sich die ersten Schlossbesucher fragend umgedreht hatten und erkannten, was er getan hatte.
Das erste Opfer, dachte Ludger. Oder das letzte?
Hände waschen - das hätte er jetzt am liebsten getan.
Weit weg von hier. Oder tief unter der Erde. Aber es schien aus diesem beengten Wagen keine Fluchtmöglichkeit zu geben. Der Geruch des Leders in seiner Nase, umrahmt von seinen eigenen Ausdünstungen. Und die Stille. Niemand sprach ein Wort.
Eine stumme Übereinkunft, während sie langsam durch die Straßen glitten. Auf den Bürgersteigen standen noch einige Menschen, steckten die Raketen in Sektflaschen und ließen sie unter jubelndem Applaus in den jungfräulichen Neujahrshimmel starten, während die Reifen über die Reste der Feuerwerksbatterien und Böller knirschten.
Die bösen Geister waren vertrieben - und warteten am Ende des Weges, als die Barmherzigkeit aus der Ferne auftauchte.
***
Im Eingangsbereich saß niemand hinter der Anmeldung, als sie eintraten. Nur das Bild des Reichspräsidenten grüßte lautlos von der Wand. Ein stummer Blick zwischen Ariberth und Lissy, dann zeigte er auf die Treppe.
"Erster Stock, dann links."
Sie nickte, drehte sich zum wankenden Ludger um.
"Komm schon", knurrte sie und zog ihn zur Treppe.
Hölzerne, knirschende Stufen, langsam, Schritt für Schritt.
Schließlich standen sie im ersten Stock und Ariberth zeigte nach links auf eine graue Doppeltür mich alten milchigen Scheiben.
"Zimmer 019", sagte er und öffnete ihnen die Stationstür.
Dahinter ein Flur mit altem Linoleumboden im hässlichen Grün der Siebziger Jahre. An den weißen Wänden verschiedene handgemalte Stadt- und Landschaftsbilder. Das Auenland Westfalenheims, das Frische Haff, das Königstor.
Die Tür zum Stationszimmer war geschlossen, hinter der gläsernen Kanzel niemand zu sehen. Die Kaffeemaschine schien mit ihrer Arbeit fertig zu sein und in einem der Aschenbecher war eine Zigarette zu sehen, die niemand rauchte.
"Wo sind die alle?", murmelte Ariberth und schaute sich um.
"Vielleicht ein Rundgang?", meinte Lissy und zuckte mit den Schultern. "Ist doch egal."
Sie öffnete die Tür mit der Nummer 019. Dunkelheit begrüßte die Drei, und während Elisabeth nach einem Lichtschalter tastete, traten die beiden Brüder bereits ein.
"Wo ...?" Sie fand den Schalter und steriles Licht warf seinen müden Glanz von der Decke herab.
Und noch bevor sie sich darüber wundern konnten, dass die Betten leer waren und eines fehlte, erschien eine der Schwestern plötzlich im Türrahmen.
"Herr Krieger?", rief sie und wunderte sich, dass sich zwei angesprochen fühlten.
"Wo ist unser Vater?", fragte Ariberth entsetzt.
Die Schwester nickte hastig zum Flur hinaus.
"Kommen sie mit!"
***
Die Zeit schien im Zimmer geblieben zu sein, als sie hinter der Schwester durch den Flur eilten.
"Ich hatte versucht, Sie Zuhause anzurufen ...", rief sie. "Auch wenn Ihre Mutter meinte, dass Sie noch gar nicht da wären."
Die Doppeltür, die knirschenden Treppen hinab, an der Anmeldung unter den Augen des Reichspräsidenten vorbei weiter in den Keller hinunter.
"Was ... ist denn ... los?", hechelte Ludger.
Ein Schild mit dem Wort ' Notaufnahme' flog an ihnen vorbei.
"Es ist ernst", sagte sie und hielt ihnen eine weitere Tür auf. Dahinter erstreckte sich ein langer Flur, der in ein dämmriges Licht getaucht war. "Sehr ernst."
Weiße Fließen auf dem Boden und an den Wänden. Es wirkte sehr kalt und unfreundlich. Rechts verschlossene Türen und ein Fahrstuhl, auf dem 'Nur für Notfälle!' stand. Links gegenüber eine graue Plastikbank - auf der Luise Krieger saß und apathisch auf die Türen starrte.
"Mutter!", rief Ariberth und beugte sich zu ihr hinunter. "Was ist los?"
Ihre Augen rot, verweint. Ihre Pupillen zuckten, als er vorsichtig an ihre Schulter fasste. Ein Blick zu ihm hinauf. Langsam erkannte sie ihn - dann tasteten sich ihre Finger vor und griffen nach seinen Händen. Ein fester Druck - viel zu fest.
"Mutter?"
Sie schluckte schwer. Ihre Lippen versuchten einen Anfang zu formen, Worte, die hinter dem Mund verschlossen blieben. Schließlich schloss sie die Augen.
Und schüttelte den Kopf.
Elisabeth setzte sich neben Ariberths Mutter. Ein unsicherer Blick zur unbekannten Frau, dann nickte Luise Krieger und drückte wortlos Lissys Hand.
Eine kleine Ewigkeit.
Die drei verharrten, während die Schwester sich lautlos entfernt hatte und Ludger unbehaglich steif an der Tür stehen geblieben war. Zu weit waren die wenigen Meter, zu groß der nicht vorhandene Graben auf dem Fließenboden.
Irgendwann schaute seine Mutter zu ihm hin.
Ein Blick, der sich durch die Nebelschwaden bohrte. Vorbei an den Anschuldigungen, dem Unmut, ..., dem Klos in seinem Hals, dem pochenden Herzen.
Kein vorwurfsvoller Blick. Nicht hassend, nicht böse ...
Nur eine liebende Mutter, die seit Langem ihren verlorenen Sohn wiedersah.
Sie lächelte und winkte ihn zu sich, doch bevor er auch nur einen seiner zentnerschweren Beine bewegen konnte, erschien wieder die Schwester hinter ihm.
"Frau Krieger?", sagte sie. "Ich, ..., verzeihen Sie. Die namibische Botschaft hat angerufen."
Unsicher schaute sie durch die Gesichter und hielt schließlich Ludger einen Zettel hin.
Luise schaute wortlos zu Ariberth hoch.
"Ich hol ..." Er nickte zu Ludger. " Wir bringen Joseph her."
"Ich bleibe hier", flüsterte Lissy und schaute zu Ludger hinüber. "Beeilt euch."
***
Der Porsche flog förmlich durch die Straßen, wich den Sektflaschen und dem anderen Müll mit quietschenden Reifen aus, während sich die Lichtkegel durch die Nacht bohrten.
Sie schwiegen, starrten durch die Fensterscheibe hinaus, wo die letzten Menschen sich langsam nach Hause begaben. Trunken oder in den Armen ihrer Liebsten.
Über die Krämerbrücke schossen sie auf die Kneiphofinsel, an den alten wieder aufgebauten Fachwerkhäusern vorbei. Im Hintergrund ragte der Turm des Doms in die Höhe und verfolgte schweigend ihren Weg, als sie über die Grüne Brücke in Richtung Hafen abbogen.
Auf der Friedrichsburgerstraße kurz vor der Reichsbahnbrücke griff Ludger in seine Jacke, holte eine Schachtel HB hervor und kurbelte das Fenster herunter, bevor er sie sich anzündete.
Ariberth wandte sich für einen Moment von der Straße ab und schaute durch die feinen blauen Linien zu ihm hin, die nur kurz erhaben im Inneren schwebten und dann durchs Fenster hinaus gerissen wurden.
"Besser?", fragte er und zog den unbenutzten Aschenbecher unter dem Kassettendeck auf.
Ludger nickte schwer, als sie die Reichsbahnbrücke unterquerten und auf die leere Hafenstraße einbogen.
Aus der Ferne konnte man bereits den beleuchteten Gruppen- und Turmspeicher des Industriehafens und die am Kai liegenden Frachtschiffe erkennen.
"Du hast Dich verloren", meinte Ariberth schließlich und durchbrach die Stille.
"Ist das eine Anschuldigung?"
"Kannst Du Dich noch an unsere 'Schwester' erinnern, die wir nie sahen?" Ariberth seufzte. "An die Tage und Wochen danach?"
Ludger zog an seiner Zigarette und schüttelte den Kopf.
"Hast Du alles vergessen?"
"Ich ..."
Ariberth trat plötzlich auf die Bremse und der Porsche kam quietschend zum Stehen. Dann griff er in seine Jackentasche und warf Ludger ein gerahmtes Bild in den Schoß.
"Da, sieh hin!", rief er. "Weißt Du es jetzt?"
Sechs weiße und ein dunkles Gesicht. Glücklich, geeint in der Vergangenheit.
Ludger fuhr mit dem Finger über die Gesichter unter dem Glas.
"Joseph, Opapa, Mutter ...", flüsterte er und der Klos in seinem Hals machte sich wieder breit. "Vater ..."
"Die Weltmeisterschaft in Mexiko - Du hast das Siegtor bereits im Schlaf geschossen." Ariberth schluckte schwer. "Wir ..., wir haben Wasserball gespielt ..." Er presste die Lippen zusammen und schlug zornig mit der Hand auf das Lenkrad, während draußen vom Fluss das Hupen eines Schleppers zu hören war. "Verdammt! Kannst. Du. Dich. Jetzt. Daran erinnern?"
Das Bild in Ludgers Hand begann zu zittern und die Asche der Zigarette fiel auf seinen Schoß.
"Ja."
Ariberth schüttelte den Kopf.
"Du bist so ein Arschloch geworden", zischte er und tippte sich an den Kopf. "Entweder Du wirst wieder der alte Ludger, mein Bruder, den ich liebe - oder ..." Er zeigte auf den erleuchteten Hafen. "... Du kannst Dich verpissen."
Stille.
"Ich werde Dich genauso in meinem Kopf ausradieren, wie Du uns - nur endgültiger." Ariberth schaute seinen Bruder mit einem kalten Blick an. "Compris?"
Ludger schnippte die verglühte Zigarette hinaus und nickte schließlich.
"Oui." Er senkte den Kopf, wünschte sich eine Aspirin und ein Riss unter dem Sitz des Porsches herbei. "Compris."
***
Der alte Flughafen zog sich von Westen kommend fast parallel zum Pregel südlich zur Schichauwerft hin. Eine mehr als zwei Kilometer lange Landebahn, die in einen großen Wendehammer nördwestlich von Ponarth mündete und an deren Ende das Hauptgebäude und zahlreiche Lager-, Wartungs- und Instandsetzungshallen standen. Er hatte bereits 37 Jahre auf dem Buckel und die Stillegung stand fest, nachdem die UdSSR zugesagt hatten, sich aus ihrem Teil Ostpreußens zurückziehen zu wollen.
Sie hatten den Porsche auf den Parkplatz abgestellt und traten durch die Drehtür in die fast leere Halle ein, die bautechnisch an das Innere des Hauptbahnhofs erinnerte. Wenige Menschen, die es scheinbar nicht geschafft hatten, sich vor dem Jahreswechsel in Sicherheit zu bringen. Direkt vor ihnen eine große Anzeigetafel mit den An- und Abflügen. Darunter mehrere Schalter, durch die man zu den jeweiligen Abflugbereichen gelangte. Alle unbesetzt und verschlossen.
Ludger schaute erst auf den Zettel, dann auf die Anzeigetafel, auf der nur ein ankommender Flug angekündigt wurde.
"Flug 2812 von Berlin", murmelte er und las das letzte Wort. "Gelandet."
"Gut."
"Sollen wir Joseph sofort sagen, das ..." Ludgers leise Stimme hallte durch die Halle. "Ich mein' ..."
Ariberth nickte.
"Er hat es sich weiß Gott nicht verdient, dass wir ihn anlügen", meinte er. "Außerdem belügt man einen Mann im biblischen Alter sowieso nicht."
"Ari ...", entfuhr es Ludger. "Ich ..."
"Ein bisschen weniger Ich, und mehr ein Wir, wäre für den Anfang nicht schlecht."
"Es ... tut mir Leid, was ... ich gesagt habe."
Ludgers Bruder klopfte ihm auf die Schulter.
"Weißt Du noch, was Mutter damals immer gesagt hat?", fragte er. "Wir sind eine Familie, wir halten zusammen, komme was da wolle."
"Ja, ich erinnere mich."
Ariberth legte einen Arm um seinen Bruder.
"Und Elisabeth gehört auch dazu", meinte er und zwinkerte. "Ihr solltet aber weniger streiten, sondern mehr ... lieben."
"Ich habe Sie geschlagen, Ari." Ludger schluckte schwer und schüttelte den Kopf. "Das ist vorbei ..."
"Sie wird Dir verzeihen", sagte er. "Vertrau' mir." Er nickte zum Ankunftsbereich, dessen Türen sich gerade öffneten. "Jetzt bringen wir erstmal Joseph in die Barmherzigkeit."
Aus den geöffneten Türen traten die Passagiere, die den Jahreswechsel über den Wolken verschlafen hatten. Einige müde Soldaten der Reichswehr, die mit ihren Seesäcken von einem der Auslandseinsätze wiederkamen und von glücklichen Freunden, Freundinnen und ihren Eltern umarmt und begrüßt wurden. Ältere Ehepaare, die Arm in Arm mit ihren Rollkoffern zum Ausgang schlenderten. Eine Handvoll Geschäftsleute, die in einem Pulk zusammen in die Halle traten und sich mit Händen und Füßen zu unterhalten schienen. Müdigkeit schien ihnen fremd zu sein.
Als letztes trat ein dunkelhäutiger Mann durch die Tür. Auf seinem Arm ein kleines Baby, in der Hand ein Briefumschlag. Er schaute sich suchend um.
"Wo ist Joseph?", fragte Ludger, als der Mann mit dem Kind die beiden Brüder anschaute - und sich schließlich in ihre Richtung in Bewegung setzte.
"Ich weiß es nicht", murmelte Ariberth und trat auf den Mann zu. "Guten Morgen?"
Das Gesicht des Dunkelhäutigen entspannte sich.
"Ludger und Ariberth Krieger?" Er blickte fragend von einem zum anderen der beiden Brüder, die verwirrt nickten.
"Mein Name ist Jaan Mbinga", sagte der Mann und hielt Ludger das kleine Baby hin. "Sind Sie bitte so freundlich?"
"Natürlich", rief er und nahm das kleine Würmchen vorsichtig in seine Arme.
"Ich gehöre zur Botschaft der namibischen Regierung", sagte Mbinga und wandte sich an Ludger. "Nicht so laut. Und es ist eine Sie."
Ariberth schüttelte den Kopf und stemmte die Fäuste in die Hüften.
"Bei allem Respekt, Herr Mbinga", brummte er und zeigte auf das Baby. "Was soll das? Wo ist Joseph?"
Der Mann reichte ihm den Umschlag, den Ariberth aufriss und fragend zwei Zettel hervorzog, während Ludger wie versteinert wirkte.
Auf dem kleineren der beiden stand die Zahl '3', eingekreist. Darunter:
'Vertraue dem Freund, den Du nicht siehst.'
"Was zum Geier ...?"
Er faltete den größeren Zettel auseinander und las mit einem Klos im Hals die vertraute alte Kurrentschrift von Joseph.
'Ich habe alles gegeben ...'
"Sie heißt Nassira ", sagte Mbinga, als Ludger verwundert das kleine schlafende Gesicht anstarrte und ungläubig die Nase berührte. "Nassira Koper, die letzte Überlebende."
'... Jetzt seid ihr dran, seuntjies. Beschützt Sie.'
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RE: Countdown
(1996) "Leerer Raum (I)"
Vier Wände, fremd
Der Raum ist rechteckig, grau, fensterlos. Er gleicht dem anderen bis auf die matten Bodenfliesen, die nach wie vor ein unangenehmes Gefühl in mir aufkommen lassen, die einzelne, aber ausreichend helle Lampe und den mit Plastik beklebten Metalltisch. Selbst der Stuhl drückt sich auf die selbe Art in all die unangenehmen Stellen in meinem Rücken. Trotzdem reicht der marginale Tapetenwechsel aus, um mich ein wenig zu entspannen. Ich weiß, dass es ein anderer Raum ist, auf einem anderen Gang, mit einer anderen Nummer in dem weißen Plastikschieber neben der Tür. Aber ich fühle mich nicht länger ganz so sehr wie ein Gefangener.
Nicht, dass ich je viel Grund dazu gehabt hätte. Die Firma gibt sich alle Mühe, mich wissen zu lassen, dass ich jederzeit gehen kann, dass ich komme, weil ich es will, nicht, weil die Termine es diktieren. Ich verlasse morgens meine Wohnung, steige in mein Auto – oder in den Bus, wenn ich nicht erst auf letzten Drücker aufbreche –, melde mich freiwillig am Empfangstisch, wechsle ein paar Worte mit der Sekretärin (es ist selten zwei Tage in Folge dieselbe, die mich von ihrem Arbeitsplatz unter dem Zuse-Siemens-Logo begrüßt. Sie tragen nur alle die gleiche eilfertige Lächelfassade zur Schau) und mache mich schließlich auf den Weg in die dritte Etage.
Man könnte meinen, ich käme freiwillig und dass es mir hilft, mich wohler zu fühlen, als wenn ich von breitschultrigen Sicherheitsleuten her geschleift würde, aber das Gegenteil ist oftmals der Fall, besonders an den schlechten Tagen. Ich weiß um die Konsequenzen, die ich erleiden würde, sollte ich den Gesprächen fernbleiben. Ich weiß, dass in der freundlichen Behandlung, die mir zuteil wird, wenigstens eine Drohung versteckt ist, nicht besonders gut noch dazu.
„Das könnte auch alles weit weniger angenehm ablaufen. Wir sind uns sicher, dass sie das nicht wollen.“
Also komme ich her, warte, immer im selben Raum. Nur heute nicht.
Der Sicherheitsmann – weit entfernt davon breitschultrig zu sein, ein hageres Männchen in der Fantasieuniform des Werkschutzes – hat mir erklärt, im anderen Raum habe es einen Wasserschaden gegeben, was als Erklärung so gut ist wie alles andere.
Ich warte.
Irgendwann höre ich Schritte auf dem Flur, das deutliche Quietschen einer Sohle die ein wenig zu weich ist für die Linoleumböden des Gebäudes. In solchen Schuhen kann man sich nur anschleichen, wenn man auf den Händen ging.
Die Schritte verharren vor der Tür. Etwas piept, dann klickt das Schloss hörbar. Auch auf meiner Seite der Tür wir das kleine Kontrollfeld neben der Klinke kurz grün.
Es sind Details wie diese, die mir das Gefühl geben, ich könnte genau so gut in Ketten hier sitzen. Sie verschließen die Tür, wenn ich im Raum bin. Wenn ich gehen will, muss ich jemanden rufen, der sie öffnet. Nichts im Vergleich zu Eisen um meine Füße oder diesen elektronischen Fußfesseln, aber unangenehm, keine Frage.
Die Tür schwingt auf und Horstmann kommt herein. Ein Teil von mir will nicht glauben, dass das sein Name ist, aber ich erkenne Paranoia, wenn ich sie sehe. Ich nicke Horstmann zu, er nickt mir zu, das Soll an Begrüßungen ist erschöpft, noch bevor er seinen Koffer abstellt, die Knöpfe seines billigen Sakkos öffnet, sich setzt und mehrere Sekunden damit zubringt, seinen Stuhl hin und her zu ruckeln, bis er gemütlich sitzt, das Interesse verliert oder beschließt, lange genug mit den Stuhlbeinen auf dem Kunststoffboden herum gequietscht zu haben.
Er sieht mich an, versucht sich an einem Lächeln und scheitert wie jeden Morgen, bevor er die Schlösser seines Koffers öffnet und einen Stapel Papiere hervorholt, sowie einen schwarzen, unbeschrifteten Ordner. Die Papiere kenne ich. In den Ordner durfte ich noch keinen Blick werfen und bezweifle, ob sich daran je etwas ändern wird.
Am ersten Tag habe ich mich noch gewundert, warum Horstmann mit dieser Zettelwirtschaft hier aufkreuzte – allesamt ordentlich und ohne den kleinsten Knick. Wären da nicht die Notizen von den Vortagen, ich würde glauben, dass er sie jeden Morgen aufs neue ausdruckt -, statt mit einem dieser kleinen Dinger mit Tastschirm, die inzwischen nicht nur bei jedem Mann zwischen sechzehn und sechsundsechzig, sondern auch bei jedem zweiten Unternehmen derart en vogue sind. Inzwischen bin ich schlauer. Manche Dinge vertraut man einfach besser Papier an.
„Guten Morgen“, sagt Horstmann, sieht auf und ich weiß, er ist wieder im Begriff sein allmorgendliches Ritual durchzuführen. Ich nicke noch einmal, brumme eine Erwiderung.
„Heute ist der. Sechsundzwanzigste April Neunzehnhundersechsundneunzig. Freitag.“ Er notiert sich das Datum in der obersten Zeile seines Schreibblocks, mit einem knallbunten Kugelschreiber, dem einzigen Klecks Farbe an seiner gesamten Person ist. EMW steht in roten Lettern darauf und ich frage mich wie ein grauer Mann wie Horstmann dazu kommt einen solchen Kuli zu benutzen. Ich frage mich dies, um genau zu sein, den dritten Tag in Folge.
„Wie geht es Ihnen heute?“
Ich brumme wieder. Horstmann scheint das zu genügen. Er macht sich eine erschreckend ausführliche Notiz und ich nutze den Moment um ihn – wieder einmal – in Augenschein zu nehmen. Er ist ein kleiner Mann, was kaum auffällt, wenn er sitzt. In seinem braunen Haar sind erste graue Strähnen zu erkennen, aber das scheint ihn wenig zu stören. Warum sollte es auch, er ist ohnehin fast kahl. Die letzten Haare trägt er entweder mit dem trotzigen Stolz von jemandem, der weiß, dass er in Kürze eine Glatze haben wird oder es ist ihm schlicht und einfach egal. Ich denke – wieder einmal – an Ariberth, der vermutlich noch mit hundert dieselben braunen Locken haben würde und frage mich, ob er zur Zeit auch in einem ähnlichen Raum sitzt, vielleicht sogar im selben Gebäude?
Mein Gegenüber lässt die Beobachtung über sich ergehen. Er weiß, dass ich ihn ansehe, da bin ich mir ziemlich sicher. Er weiß aller Wahrscheinlichkeit nach auch, dass ich zumindest teilweise hinter die Bürohengstfassade sehe, die er trägt. Dahinter ist etwas anderes, das einzuordnen mir schwer fällt. Horstmann sagt, er arbeitet für Zuse-Siemens, doch es gibt genug Kleinigkeiten an ihm, die etwas anderes sagen. Einige schreien es förmlich, wie etwa sein Gang, vor allem aber seine Augen. Militär, sagen sie. Reichsluftwaffe, sagt mir mein Gefühl. Wenig verwunderlich. Zwei Arbeitgeber, die sich beizeiten trennen lassen.
Was immer Horstmann gemacht hat, er ist fertig.
„Herr Rynstahl, sollen wir anfangen?“
Ich nicke, weniger als Antwort, sondern um ihm mitzuteilen, dass ich sein kleines Geheimnis teile, dass ich darum weiß. Horstmann, das habe ich schnell gelernt, stellt nämlich keine Fragen, selbst wenn es sich so anhört. Entweder gibt er Befehle oder er fordert seinen Gegenüber auf, zu bestätigen, was er ohnehin schon weiß. Mehr als einmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, anders zu antworten, als er erwartet, aber nie lange. Das Problem ist, Horstmann weiß eine ganze Menge und was er nicht weiß – darauf würde ich wetten – steht in neun von zehn Fällen in seinem schwarzen Ordner.
„Wie weit sind wir gestern gekommen?“ Er erwartet keine Antwort, also gebe ich ihm keine.
„Erzählen sie mir, was nach ihrer Abkoppelung von der MIR vorgefallen ist.“
Erst als ich versuche mich zu entspannen, merke ich wie angespannt ich war. Meine Nackenwirbel knacken und irgendwo in meinem Rücken macht sich ein unangenehmes Ziehen breit.
Am ersten Tag habe ich mich noch bemüht, langsam zu sprechen. Immerhin hatte Horstmann kein Diktiergerät dabei. Inzwischen weiß ich es besser. Horstmann würde mir folgen können, egal wie schnell ich redete. Vermutlich hätte ich in Suaheli los brabbeln können und er hätte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
Wer weiß, denke ich, während ich überlege wie ich anfange. Je nachdem, wie lange das hier geht, könnte ich Suaheli lernen.
Schwarz, vertraut
Die Abkoppelung war alles andere als optimal vonstatten gegangen. Eine der Halteklammern an Steuerbord hatte sich nicht lösen lassen und es brauchte sechsundvierzig Minuten und eine Gruppe Kosmonauten um das Problem zu beheben. Als wir endlich auf Reisegeschwindigkeit gekommen waren, hinkten wir bereits über eine Stunde dem Zeitplan hinterher. Ich versuchte mich auf das Summen des Schiffes zu konzentrieren, das durch die Deckplatten in meine Stiefel und von dort aus in meinen gesamten Körper wanderte. Meine Nase juckte und ich kratzte sie ausgiebig, solange ich dazu Gelegenheit hatte. In den Schutzanzügen würde das nicht mehr möglich sein.
Ariberth, im Andrucksessel neben mir, war wieder einmal die Ruhe selbst, die dunklen Augen auf die Anzeigen gerichtet.
Während ich zu ihm hinüber sah, tippte er eine von ihnen an und runzelte die Stirn.
„Alles in Ordnung?“
Er antwortete nicht sofort, stattdessen öffnete er ein Bedienmodul, drehte an zwei Rädchen und stellte sie wieder auf die Ausgangsposition zurück.
„Alles in Ordnung“, bestätigte er. „Gerade sah es so aus, als würden die Werte von Einheit Eins ausschlagen. Muss was am Bedienelement gewesen sein. Die Steuereinheit sieht in Ordnung aus, aber …“ Er zuckte mit den Schultern, brach ab, und ich wusste, er wandte sich wieder einem anderen Problem zu, einer anderen Kleinigkeit, die ihn beschäftigen konnte.
Gott bewahre, dass er einmal einfach nur so dasitzen müsste.
Vier Wände, fremd
Horstmann unterbricht mich. Manche Leute tun das, ohne aufzusehen. Horstmann hingegen sah ständig auf. Dafür schrieb er, ohne auf sein Blatt zu schauen, sobald er einmal mit der Befragung angefangen hatte.
„Es gab also ungewöhnliche Messwerte?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein. Ein kleiner Ausschlag kann schon mal auftreten. Da draußen fliegen ziemlich viele Teilchen umher und wir arbeiten für die Testflüge mit Hochleistungsequipment. Hochempfindliche Sensoren.“ Ich zucke mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein, war ich beruhigt, dass nach dem holprigen Start von der MIR bloß ein einzelner Messwert für die eine oder andere Sekunde verrückt spielte.“
„Hätten sie dem Ereignis eine andere Bedeutung zugemessen, wenn sie gewusst hätten, was geschehen würde?“
Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich runzle die Stirn und lehne mich zurück, bis die Lehne des Stuhls sich irgendwo unterhalb meiner Schulterblätter in meinen Rücken presst.
„Das ist eine sehr hypothetische Frage, Herr Horstmann.“ Ich sehe ihm in die Augen und finde darin nur ein mildes Interesse, wie etwas von oben verordnetes. Himmel, denke ich, selbst seine Augen sind farblos.
„Sie haben recht.“
Der EMW-Kuli kratzt über den Block. Zuerst denke ich, Horstmann macht sich eine weitere Notiz. Doch er streicht etwas durch.
„Fahren sie fort.“
Schwarz, mit Weiß durchsetzt, vertraut
Wir erreichten jenen Punkt in der weiteren Umlaufbahn um die Erde, an dem der blaue Planet nicht länger genug Licht reflektierte um die Sterne zu überdecken. Hier draußen war nichts außer uns und den blassen fernen Himmelskörpern, die man selbst jetzt nur sehen konnte, wenn man wusste, wonach man suchte.
Einer der Heckbildschildschirme zeigte für einen Moment ein helles Blitzen, als irgendwo hinter uns Sonnenlicht reflektiert wurde, vermutlich von einer der weißgetünchten Aufbauten der MIR. Ansonsten waren die Anzeigen weit im grünen Bereich, wie die von Lebenserhaltung und Schwerkraft, oder schlichtweg still, wie im Falle der Testgeneratoren Eins und Zwei.
Ariberth hantierte an den Kontrollen, während ich die Instrumente im Auge hielt, bis wir, relativ zur Erde gesehen, still standen.
Wie die meisten Handgriffe in einem eingespielten Team verliefen die finalen Vorbereitungen in nahezu kompletter Stille. Wir begaben uns in die Ankleideräume um die Schutzanzüge anzulegen, einander helfend wo die Automaten die Grenze ihrer Leistung erreichten oder trotz aller Technikhörigkeit ohne eine letzte menschliche Kontrolle eine unruhige Schwere in der Magengrube geblieben wäre. Ariberths Anzug trug die Insignien von Zuse-Siemens, doch im Gegensatz zu meinem waren an beiden Armen die Rangabzeichen aufgenäht, die ihn als Major der Reichsluftwaffe auswiesen. Meiner trug lediglich meinen Namen, eine glänzende Plakette, die aussah wie Metall, ohne Metall zu sein, „S. Rynstahl“ darauf eingraviert.
Wir nahmen uns die Zeit, uns in den Anzügen zurechtzufinden. Es waren nicht die gewöhnlichen, schlanken Schutzanzüge der Männer und Frauen auf der MIR oder der kommerziellen Raumfahrer. Diese hier waren für extreme Situationen angepasst, schwere, kantige Dinger mit doppelten oder dreifachen Schichten aus Strahlenschutz und sonstigen Sicherheitsmaßnahmen. Mit ihren unbeweglichen Helmen und den großen runden Panzerglasvisieren erinnerten sie an die vergangenen Tage der Mondlandung. Man konnte sich in der Tat wie ein Kosmonaut aus der Kinderstube der Raumfahrt fühlen, wäre da nicht das Wissen gewesen, dass diese Anzüge bis zum Rand mit den modernsten Aufzeichnungsgeräten und Sensoren ausgestattet waren, die Zuse-Siemens zur Verfügung standen.
Ariberth testete seinen eingeschränkten Bewegungsspielraum mit einigen angedeuteten Kniebeugen aus. Ich sah ihn den Kopf hinter seinem Visier schütteln. Auf seiner Stirn waren Schweißperlen zu sehen. Auch meinen Rücken liefen schwere Tropfen hinab. Im Weltall war eines der Hauptprobleme die Wärme, die zwischen Triebwerken und Computern in einem Schiff sammelte. An Bord des Experimentalschiffes war es sogar noch ungleich heißer und nun, da wir die Anzüge trugen, fühlten wir uns endgültig wie in einem Backofen gefangen.
Hänsel und Gretel, kam mir in den Sinn. Ich summte vor mich hin, während wir uns auf den Weg zurück zum Cockpit machten. Wir brauchten deutlich länger um durch die Gänge zu manövrieren, die auf einen Schlag geschrumpft schienen.
Vier Wände, fremd
„Soll ich sie wirklich mit den technischen Details langweilen?“ Ich sehe Horstmann an, er schaut mir in die Augen. Es ist keine reine Höflichkeitsfrage. Die Ausführungen können schnell kleinteilig werden, mühselig, besonders wenn man keine Ahnung von der Materie hatte, was auf Horstmann zweifelsohne zutrifft.
Er sieht mich an und seine Miene bleibt unleserlich.
Nichts neues im Westen, denke ich.
„Ich denke, an dieser Stelle dürfte eine Zusammenfassung genügen. Wir haben die Daten des Schiffes schließlich bereits ausgelesen.“ Wenn er eine Reaktion erwartet, bekommt er sie nicht, hoffe ich. Aber mein Herz rennt etwas schneller. „Bitte, nur so viele Details wie nötig.“
Ich nicke, räuspere mich mit vorgehaltener Hand, mit der ich hoffe, das Zucken meiner Mundwinkel zu kaschieren. Wie immer weiß ich nicht ob Horstmann es mitbekommt, ob er überhaupt etwas mitbekommt, oder aber alles. Meine Befürchtung, die Antwort auf diese Frage könnte an einem bestimmten dieser beiden Eckpunkte liegen, wächst beständig.
„Wir haben alle Vorbereitungen getroffen, die auch im Logbuch zu finden sind. Und in den Messwerten.“ Den letzten Zusatz füge ich hinzu und zögere. „Dazu gehörte unter anderem das Abschalten von Schwerkraft und Lebenserhaltung, sowie der aktiven Sensorik.“
„Was waren die Gründe dafür?“
„Nun, äh, es …“ Mich bringt zu Fall, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe, dass Horstmann diese Frage stellen könnte. Mein Zögern zieht sich etwas in die Länge, während ich überlege, wie ich darauf antworte. Ich entschließe mich, mich auf die absoluten Basisinformationen zu beschränken. „Normalerweise bleiben Schwerkraft und Lebenserhaltung – zumindest aber die Lebenserhaltung – während der meisten Experimente in Betrieb. Die Einflüsse auf die Messungen sind minimal, gerade im offenen Raum. Da ist nicht viel, wie ich schon sagte. Wenn also irgendwelche Anomalien auftreten, sagen wir, abweichende Gravitationswerte bei einer Messung, dann kommt sie vom Schiff selbst und niemand hat Probleme sie aus der Statistik herauszuziehen.“
„Aber es handelte sich hierbei nicht um ein Experiment wie die meisten?“ Sein Tonfall ist wieder in dieser Grauzone. Stellt er mir eine Frage oder macht er eine Feststellung?
Ich schüttle den Kopf. „Die Triebwerke, mit denen wir experimentiert haben … ich kann nicht zu sehr ins Detail gehen, sonst sitzen wir morgen noch hier – und das auch nur, wenn sie in der Abendschule Quantenphysik belegt haben.“ Es handelt sich nicht wirklich um Quantenphysik, aber das Feld ist neu, im Grunde unbekannt und besitzt noch keine sonderliche Abschreckungswirkung. Es dauert einen Moment, bis mir dämmert, dass ich Horstmann mit meinem Worten beleidigt haben könnte. Wenn dem so ist, so zeigt – Oh, Wunder! - seine Miene es nicht. „Es hat was mit Kräften zu tun, die Gravitation beeinflussen, aber nicht nur. Jedenfalls wäre das ganze Experiment wertlos, wenn wir die künstliche Schwerkraft nicht deaktiviert hätten.“
Anstelle einer Antwort nickt Horstmann. Diesmal schaut er tatsächlich auf seinen Block um sich eine Notiz zu machen, dann sieht er wieder auf.
„Fahren sie fort. Ich nehme an, wir nähern uns dem Ereignis?“
Das tun wir tatsächlich. Die halbe Nacht habe ich wachgelegen, im Kopf die Frage gewälzt, was ich nun sagen würde, bis sie mich sogar in meine Träume verfolgte, als ich endlich einschlief. Ich habe beschlossen, es mit der unmittelbaren Wahrheit zu versuchen.
Als ob ich eine Wahl habe, dachte ich nach dem Aufstehen und denke es jetzt wieder.
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RE: Countdown
(1996) "Leerer Raum (II)"
Schwarz, mit Weiß durchsetzt, vertraut
Nicht länger von unseren Anzügen niedergedrückt, nachdem die Schwerkraft wie von Zauberhand aufgehört hat zu existieren, gingen unsere Vorbereitungen schneller vonstatten, sodass wir schließlich nur noch vierzig Minuten hinter dem Zeitplan lagen. Wir waren zwar spät, aber es ist ein unausgesprochenes Geheimnis, dass es auch unter Wissenschaftlern Musikerseelen gibt. Wir konnten damit leben. Es war schließlich nicht so, als hätten wir an diesem Morgen unsere Kojen verlassen und die Segel gesetzt um den Lauf der Welt zu ändern. Niemand, der an diesem Projekt mitarbeitete, war der nächste Einstein oder ein unentdeckter Kepler. Wir waren – und sind – jene Männer, die ihre Arbeit machen um den Karren über vier, fünf oder zehn Jahre den einen oder anderen Meter weiter die Straße hinunter zu bewegen.
Nach dem zweiten Testlauf ohne abweichende Messwerte sah ich noch einmal den Status sämtlicher Systeme durch. Ariberth neben mir rutschte in seinem Sessel umher, der für den Schutzanzug viel zu klein war und wartete auf mein Signal. Schließlich machte ich einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger und nickte ihm zu.
„Prometheus-Eins-Vier. Beginnen den ersten Testlauf der neuen Triebwerkskomponente.“ Ich sprach laut und deutlich. Von jetzt an würde jedes Wort auf den Bändern zu hören sein, wenn wir das Experiment auswerteten. „Durchführendes Personal sind Ariberth Krieger und Samuel Rynstahl. Infolge als Durchführender Eins und Durchführender Zwei bezeichnet.“
Auf der Konsole vor sich öffnete Ariberth das Sicherheitspaneel. Dahinter kam die Steuereinheit zum Vorschein, die als modularer Teil des Cockpits nachträglich eingebaut worden war und ausschließlich zur Kontrolle der Generatoren diente. Er überprüfte die Funktion sämtlicher Schalter, bevor er einen großen roten Schlüssel drehte und die Lampen vor ihm kurz in hellem Grün erstrahlten.
„Letzte Vorbereitungen abgeschlossen. Durchführender Eins aktiviert jetzt Generator Eins von Zwei.“ Ich brauchte Ariberth kein Zeichen geben. Nacheinander legte er die Schalter um, bis die grünen Lichter zurückgekehrt waren und konstant leuchteten.
„Generator Eins von Zwei ist aktiviert und arbeitet innerhalb der Leistungsgrenzen. Alle Systeme grün“, stellte ich fest. „Durchführender Eins aktiviert jetzt Generator Zwei von Zwei.“
Ariberth wiederholte die Prozedur auf der anderen Hälfte der Konsole, mit exakt den gleichen Folgen. Ich konnte die Vibration der neuen Antriebe durch den Anzug hindurch fühlen, auf meiner Haut und in meinem Rückgrat.
„Generator Zwei von Zwei arbeitet ebenfalls innerhalb der Leistungsgrenzen. Alle Systeme grün. Erhöhen jetzt die Energiezufuhr.“ Ich brauchte nicht die Augen vom Bildschirm vor mir zu nehmen um zu wissen, dass Ariberth die Generatoren mittels zweier Drehschalter auf eine höhere Stufe schaltete. Augenblicklich schlugen die Messwerte aus, ohne den sicheren Bereich zu verlassen.
„Leistung beider Generatoren nimmt beständig zu und bewegt sich innerhalb der Parameter. Ich -“ Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Eine Warnmeldung war auf dem Schirm vor mir aufgetaucht. Deutlich konnte ich spüren, wie mein Herz einen Schlag aussetzte, bevor es sich wieder beruhigte. Die Generatoren liefen ohne die geringste Abweichung in den Messwerten weiter.
„Was …? Sensoren verzeichnen Lebensform im Frachtraum.“ Ich sah Ariberth an, erhielt aber nur einen fragenden Blick als Antwort.
„Störung der Sensoren?“, vermutete er.
Mit dem behandschuhten Finger tippte ich auf den Schirm, als würde das irgendetwas ändern. „Alles sieht normal aus.“ Ich wechselte auf eine andere Funktion des Kontrollpaneels und ließ den Computer die Sensoren überprüfen. „Keine Funktionsstörung.“
„Verdammt.“ Es war eines der wenigen Male, die ich Ariberth fluchen hörte. Er stand aus seinem Sessel auf und wirkte in der fehlenden Schwerkraft gleichzeitig schwerfällig und grazil. „Durchführender Eins verlässt seinen Posten“, sagte er deutlich. „Ich werde mir das ansehen.“
Ich nickte. Es fiel mir schwer, auszusprechen, was ich zu sagen hatte. Soviel zum Ausbleiben weiterer Verspätungen.
„Durchführender Zwei unterbricht den Testlauf.“ Mit ein paar Handgriffen legte ich die grundlegenden Kontrollen der Generatoren auf meine Konsole, während Ariberth zur Cockpitschleuse schwebte. Nacheinander fuhr ich beide Generatoren auf Anfangsniveau herab und machte mich daran, sie nacheinander abzuschalten. Der erste erstarb mit einem kurzen grünen Flackern der Kontrollleuchten.
Dann wurde mein Sichtfeld schlagartig rot.
Die Sensoren verzeichneten einen Anstieg der Leistung in Generator Zwei. Nein, kein Anstieg – mit einem Mal schossen die Messwerte über die Grenzen der Skalen hinaus, sogar über die äußersten, als gefährlich festgelegten Messpunkte. Das Vibrieren verschwand und wurde von einem Kreischen ersetzt. Irgendetwas im hinteren Teil des Schiffes brüllte auf. Panisch hämmerte ich auf den Notaus-Schalter – einmal, zweimal, schließlich so schnell und fest wie ich konnte -, doch nichts geschah.
„Schalt sie ab! Schalt sie ab!“, schrie Ariberth, laut genug um den Funk knacken zu lassen.
Dann …
Vier Wände, kleiner als im Moment zuvor, fremd
Horstmann sah mich an.
„Sie halten inne? Warum?“
Ich würde es ihm sagen, wenn ich könnte. Auch so ein Moment, den ich tage- und nächtelang durchgespielt habe. Ich weiß was geschehen ist, weiß, es ist geschehen und komme trotzdem nicht umher, es für absurd zu empfinden. Nicht nur ein bisschen, sondern sehr.
„Von jetzt an wird es etwas … seltsam“, ringe ich mich schließlich durch zu sagen. Horstmann reagiert, wie Horstmann immer reagiert. Undurchschaubar.
„Bitte berichten sie mir ohne Auslassungen, was vorgefallen ist.“ Er macht einen auffordernde Geste mit seinem Stift, ein Kreisen aus dem Handgelenk heraus, das absolut höchste der Gefühle und bei ihm in etwa so unpassend wie ein Priester, der einen irischen Jig tanzt.
Mein Ringen hält an. Schließlich gewinne ich die Oberhand darüber, trotzdem bleibt mein Mund trocken. Mit einem Mal frage ich mich, warum mir eigentlich niemand etwas zu trinken angeboten hat.
„Der Generator ist überhitzt. Eine Spule ist durchgebrannt und daraufhin hat die automatische Sicherung ihn komplett abgeschaltet.“
„Mehr ist nicht geschehen?“
Die Worte wollen nicht recht über meine Lippen kommen. „Doch“, sage ich irgendwann. „Vorher war da ein Licht.“
„Ein Licht.“ Horstmann kommt aus dem Notizenmachen gar nicht heraus
„Ja.“
Weiß, fremder als fremd
Wenn man in die Sonne starrt, kann man erblinden, das weiß jedes Kind. Im All ist das ein noch akuteres Problem, da es keine Atmosphäre gibt um zumindest einen Teil des Lichts abzudämpfen. Von den ungesunden Strahlungen ganz zu schweigen.
Ich kann nicht sagen, wie lang der Moment dauerte, in dem ich mich fühlte wie im Herzen der Sonne und inzwischen bin ich mir nicht einmal mehr sicher ob es darauf eine Antwort geben kann, die irgendwer verstehen könnte. Einstein selbst hätte vermutlich einige Zeit gebraucht um diese spezielle Nuss zu knacken.
Da war ein Licht.
Als ich mich zu Ariberth umdrehte, strahlte es mich an, wie das Blitzlicht eines Fotoapparats nur heller, bis ein stechendes, schmerzhaftes Weiß alles war, was von der Welt geblieben zu sein schien.
Wie lange es dauerte vermag ich nicht zu sagen. Aber das Nachbild auf meiner Netzhaut blieb, während ich mich von meinem Stuhl erhob und in der Gegend herum tastete. Ich rief Ariberths Namen in das Mikrofon meines Anzugs, immer und immer wieder, während ich von der eiskalten Angst, erblindet zu sein, beinahe wahnsinnig wurde.
Ich erhielt keine Antwort. Schließlich fragte ich mich, ob ich etwa auch taub geworden war, doch zumindest diese Angst war schnell verflogen, konnte ich doch meine eigenen Stimme ebenso hören, wie die Warntöne aus den Schiffslautsprechern.
Irgendwann klärte sich meine Sicht, zumindest genug um zu erkennen, dass ich alleine war. Die Cockpittür war verschlossen, doch von Ariberth war keine Spur zu sehen. Ich trat nach draußen auf den Gang und fand ihn ebenfalls verwaist vor.
Inzwischen hatte eine neue Sorge mir die Kehle zugeschnürt, Sorge um Ariberth, der vom Universum verschluckt worden schien. Dann erwachte der Funk zum Leben und ich vernahm seine Stimme, zittrig, wie ich feststellte.
„Samuel? Samuel! Wo bin ich … was ist geschehen?“
Als ich ihn schließlich fand, kauerte er zwischen Kisten mit Notfallausrüstung und dem Werfer für die SOS-Kapseln. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, wirkte er klein, nicht nur wegen des Anzugs, aus dem er zu mir hinauf starrte. Auf dem Visier war hellrotes Blut zu sehen und dahinter erblickte ich eine Platzwunde auf Ariberths Stirn.
Ansonsten ging es ihm gut. Er war verwirrter als ich ihn je gesehen hatte und jemals wieder sehen würde, aber wohlauf.
Vier Wände, fremd
„Sie haben Major Krieger im Frachtraum gefunden.“
Ich nicke, aber eigentlich ist es überflüssig.
„Gibt es an Bord mehr als einen Frachtraum?“
„Nein.“
„Dann befand er sich also im selben Frachtraum, in dem die Sensoren zuvor Lebenszeichen festgestellt hatten.“
„Ja.“
„Kommt ihnen das eigenartig vor?“
Daraufhin sehe ich Horstmann an. Ich muss lachen und kann es kaum zurückhalten. „Eigenartig?“, frage ich mit heller Stimme.
„Eigenartig im Sinne, dass -“
„Ich verstehe was sie meinen. Nur was diese Frage soll, will mir nicht einleuchten.“ Ich schüttle den Kopf. „Natürlich war es eigenartig. Ein wenig zu eigenartig.“
„Kann er den Raum erreicht haben, während sie geblendet waren?“
Mir fällt erst jetzt auf, dass er sich keine Notizen mehr macht. Zum ersten Mal seit ich hier bin – fürchterlich spät, erkenne ich – frage ich mich, ob er Stift und Papier nur bei sich hat um mir ein besseres Gefühl zu verschaffen. War ich wirklich so naiv zu glauben, unsere Gespräche würden nicht aufgezeichnet?
„Im Schutzanzug, bei Schwerelosigkeit? In so einer kurzen Zeit?“ Ich sehe Horstmann an, der schaut zurück. „Nein, kann er nicht.“
„Aber eben haben sie doch noch gesagt, sie wüssten nicht, wie lange das Licht angehalten hat. Wenn sie nun lange genug geblendet waren, damit er in den Frachtraum gehen konnte? Immerhin wollte er sowieso dorthin.“
„Sicher“, erwidere ich. „Da ist ein helles Licht, mitten im Cockpit, aber das ist ja nichts, was weiter ungewöhnlich wäre. Also macht sich Ariberth … Major Krieger einfach auf den Weg, während ich mich Frage, ob ich jemals wieder sehen kann und sämtliche Kontrollfelder aufleuchten wie Weihnachtsbäume.“
Diesmal lässt Horstmanns Entgegnung auf sich warten. Schließlich nickt er langsam und macht sich wieder eine Notiz. „Ich sehe ein, dass diese Frage vielleicht unbedacht formuliert war.“
Verdammt nochmal, ja, denke ich, beiße mir aber auf die Zunge. Wie soll Horstmann verstehen, was vorgefallen ist, wenn ich es selbst nicht erklären kann?
„Darf ich fragen, was ihre Vermutungen bezüglich des Vorfalls sind?“
Ich bin versucht ihm zu antworten, das dürfe er keinesfalls, aber das wäre mehr als kindisch. Also lehne ich mich zurück und denke nach. Oft genug habe ich mir die Frage selbst gestellt. Ich verstehe, wie diese Generatoren arbeiten, habe einen Teil davon selbst entworfen … nein, das stimmt nicht. Nicht seit dem Tag des Experiments. Ich verstehe bloß, wie die Generatoren arbeiten sollten.
„Die Firma wird davon erfahren, nicht wahr?“ Es ist eine dumme Frage, ich weiß es in dem Moment, als ich sie ausspreche, aber Horstmann ist gnädig und antwortet mir. Anders, als ich erwarte.
„Sie werden ihren Arbeitsplatz nicht verlieren, wenn ihnen das Sorgen bereiten sollte.“
Es war die unausgesprochene Befürchtung hinter meiner Frage. Ich nicke. Es scheint, ich mache gar nichts anderes mehr.
„Aber Zuse-Siemens und die Investoren möchten einen genauen Überblick über die Ereignisse an Bord des Experimentalschiffs erlangen um das … Ausmaß der Kapazitäten dieser Technologie besser erfassen zu können.“ Wenn es nicht Horstmann wäre, der vor mir sitzt, würde ich sagen er hat diesen Satz abgelesen.
Es dauert einen langen Augenblick in dem Horstmann mich geduldig anschaut, bis ich mich entschließe, was ich sagen werde.
„Ich hatte keine Gelegenheit, mir die Auswertungen des Experiments anzusehen, bevor die Untersuchungsabteilung sich alles unter den Nagel gerissen hat, was wir an Daten gesammelt haben. Vermutlich sind sie und ihre Kollegen besser damit vertraut als ich es jemals sein werde. Oder darf man damit rechnen, dass die Aktenschränke irgendwann einmal für uns alle geöffnet werden?“
„Da bin ich der falsche Ansprechpartner, fürchte ich.“
Alles andere wäre ein Wunder gewesen.
„Ich denke, dass Ariberth die Lebensform war, die die Sensoren im Frachtraum entdeckt haben.“ Ich habe eine überraschte Reaktion erwartet, gestehe ich mir ein und werde enttäuscht. Warum, frage ich mich?
„Das war aber zeitlich vor seinem Verschwinden, nicht wahr?“ Die Ruhe des geborenen Beamten spricht aus Horstmann. Dann erst realisiere ich, wieso. Meine Theorie kann so weit nicht von der Wahrheit entfernt sein – oder von dem, was die Untersuchungsabteilung für die Wahrheit hält.
„Es könnte eine Art … hören sie, ich weiß, wie verrückt das klingt, aber … diese Antriebe sind hochexperimentell. Wir arbeiten mit Teilchen, die wir zur Hälfte bis vor ein paar Jahren nicht einmal kannten und mit solchen, deren Existenz wir nur vermuten. Als der Generator außer Kontrolle geriet könnte das eine Art … Riss verursacht haben. Nein, eher eine Blase.“
„Welcher Art?“
„Temporal“, antworte ich – ausweichend, wenn ich ehrlich bin.
Horstmann schweigt. Er sieht auf sein Blatt und zum ersten Mal habe ich ein Indiz dafür, dass er tatsächlich verarbeitet, was ich ihm erzähle.
„Wenn ich das recht verstehe, gehen sie davon aus, die Generatoren hätten Major Krieger durch die Zeit transportiert?“
„Eher … festgehalten und wieder losgelassen. Er erinnert sich an nichts, was zwischen dem Start der Generatoren und dem Moment geschehen ist, in dem er mich über Funk kontaktierte. So als wäre da nichts gewesen, woran er sich erinnern konnte.“
„Major Krieger hat allerdings auch eine Kopfverletzung davongetragen. Möglicherweise wäre das eine konventionellere Erklärung für seinen Gedächtnisverlust.“
Möglicherweise. Ich atme aus, wieder ein. Dann lehne ich mich vor.
„Sie wären doch nicht hier, wenn sie das wirklich glauben oder? Oder wenn es die Herren glauben würden, die sie hier her geschickt haben.“ Ich höre meine eigenen Stimme und finde selbst, dass ich wie ein Wahnsinniger klinge. Aber ich bin mir sicher, Recht zu haben.
Vermutlich wie es jeder Wahnsinnige ist.
„Ich bräuchte die Messwerte um meine Theorie weiter zu festigen. Und natürlich weitere Experimente, aber …“
Etwas landet vor mir auf dem Tisch. Ein mehrseitiges Dokument ohne Deckblatt. Einfach nur Zahlenkolonnen mit kurzen, maschinellen Anmerkungen. Horstmann tippt auf die Oberkannte des Dokuments.
„Können sie sich darauf einen Reim machen?“
Ich kann. Trotzdem tue ich, als würde ich die ersten Seiten lesen.
„Das sind die Auswertungen aus den ersten Testläufen. Das waren aber eher Trockenläufe an Bord der MIR, ohne echte Energiezufuhr. Simulationen.“
„Blättern sie weiter.“
Ich blättere weiter und finde den zweiten Teil des Dokuments.
„Oh.“ Mehr fällt mir nicht ein.
„Das sind spezielle Auswertungen der Experimentalmission die sie und Major Krieger durchgeführt haben. Ebenjener Zwischenfall, den wir hier diskutieren. Was fällt ihnen auf?“
„Die Messwerte sind anders. Höher.“ Ich lege den Kopf schief, sehe Horstmann an und versuche zu überspielen, was eigentlich unvermeidlich ist. „Aber das ist auch kein Wunder. Ein Trockenlauf ist mit einem echten -“
„Nicht nur die Messwerte sind anders, Herr Rynstahl. Ich habe es mir genau angesehen. Leute aus ihrem Fachgebiet haben sie sich angesehen.“ Er nimmt das Dokument, blättert darin herum und zeigt mir denn zwei Seiten auf denen mehrere Zeilen mit gelbem Markierstift hervorgehoben sind. „Das sind die Ausgangswerte. Leistungsparameter, Zufuhr- und Ausstoßlimits, Widerstände, sowohl elektronisch als auch was die von ihnen erwähnten Teilchen angeht.“ Seine Stimme ist so ruhig wie vorher, sein Gesicht so kontrolliert. Man sollte erwarten, dass ein Mann in seiner Position aufsteht und wie Hercule Poirot im Raum herumstolziert, während er mich mit dem finalen Plädoyer zu überwältigen versucht. Stattdessen sitzt er einfach weiter da. „Sie haben diese Werte modifiziert, nicht wahr? Bevor sie von der MIR aufgebrochen sind.“ Er zieht etwas aus dem Stapel hervor, ein Foto. Darauf sind elektronische Bauteile zu sehen, die mir nicht unbekannt sind. „Sie haben sogar physische Modifikationen am Generator vorgenommen.“
„Ich …“ Was gibt es da zu sagen? Schuldig im Sinne der Anklage, vermutlich.
„Einer Ihrer Vorgesetzten hat uns mitgeteilt, dass sie mit den Voraussetzungen des Experiments schon lange nicht zufrieden waren, dass sie glaubten, mehr Leistung und bessere Ergebnisse erbringen zu können. Aber man lehnte ihre Vorschläge ab. Stimmt das?“
Ich nicke – zum letzten Mal an diesem Tag, denke ich mir. „Was wollen sie hören?“
Horstmann lehnt sich zurück und wirkt damit ein kleines bisschen menschlich. Wenn es mich beruhigen soll, hat er sich verschätzt. Er antwortet nicht, sondern zieht ein weiteres Dokument hervor, dann noch eins. Das erste reicht er mir, da andere bleibt in einem offiziell aussehenden Pappumschlag verborgen.
Ich lese. Wieder Zahlenkolonnen, wieder Auswertungen. Ich verstehe sie und verstehe doch nichts.
„Was ist das?“
„Ergebnisse einer Simulation von Anfang der Woche. Auf der Mondbasis, kurz nach ihrer Rückreise und der Sicherstellung ihres Schiffes.“ Er beugt sich vor und tippt auf mehrere Werte. „Hier. Hier. Und hier. Das sind stabile Werte. Und das hier und das hier.“
Ich sehe das, verstehe aber immer noch nicht. Das teile ich Horstmann mit.
„Man hat ihre Modifikationen – mit ihren Originalbauteilen – benutzt und ein wenig ausgebessert. Sie produzieren stabilere Ergebnisse als die ursprüngliche Konfiguration.“ Über den Tisch schiebt er mir den Umschlag zu. „Nehmen sie sich Zeit. Sehen sie sich es genau an.“
Der Umschlag enthält ein Dokument, nur unwesentlich dünner als die Auflistung der Experimentdaten. Ich lese etwas von Rechten, von Patenten und bleibe schließlich an einer ziemlich großen Zahl, ziemlich weit unten auf der vorletzten Seite hängen.
„Was soll das?“ Ich war unter der Auffassung hergekommen, angeklagt zu werden, oder zumindest meinen Arbeitsplatz zu verlieren, sollte Horstmann herausfinden, was ich getan habe. Stattdessen … das. Ich lese nochmal.
Patent, Abfindung, Rechte.
Mir schwirrt der Kopf.
„Die neue Lösung ist sehr effektiv, hat man mir versichert. Aber sie basiert auf ihren ursprünglichen Entwürfen. Die Zuse-Siemens AG ist daran interessiert, diese Entwürfe aufzukaufen, sie zu patentieren und weiter mit ihnen zu arbeiten. Die Entwicklung wird damit zwar an ein anderes Labor übergeben, nachdem sich infolge ihres Experimentes die Sicherheitsanforderungen stark erhöht haben, was bedeutet, dass sie nicht länger selber an dem Prozess teilnehmen können, aber ich hoffe sie sind bereit, diese Abstriche zu machen. Man entschädigt sie großzügig.“
„Das sehe ich.“ Mehr fällt mir dazu nicht ein.
„Alles was sie tun müssen, ist diesen Vertrag zu unterschreiben. Und die damit verbundene Verschwiegenheitsklausel.“
„Eine Verschwiegenheitsklausel?“ So klingen Papageien an schlechten Tagen. Ich höre mich selbst viel zu deutlich.
„Man hat beschlossen, die Auswirkungen ihres Experiments fürs erste unter Verschluss zu halten. Aus Sicherheitsgründen, aber auch um neugierige Konkurrenten draußen zu halten.“ Irgendwie kommt er näher, obwohl der Tisch zwischen uns ist und er eigentlich so weit vorgebeugt dasitzt, wie nur möglich. „Stellen sie sich vor, was sie mit diesem Geld unternehmen könnten. Sie könnten sich selbstständig machen. Als Raumschiffkonstrukteur. Laut ihrer Akte hatten sie das doch immer vor, nicht wahr?“
Ich frage mich, was alles Einzug in meine Akte erhalten hat, aber nur einen Moment lang.
„Was sind die rechtlichen Konsequenzen?“
Endlich weicht Horstmann wieder zurück.
„Sie verlieren das Recht an ihrer Modifikation. Was nicht weiter schlimm ist, schließlich haben sie den eigentlichen Generator nicht selbst entwickelt. Der Nutzen, auf ihr Patent zu bestehen, würde ihnen wenig einbringen. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass man, sollten sie ihre Rechte behalten wollen, nach alternativen Lösungen suchen würde. In diesem Falle wären sie völlig außen vor. So gewinnen sie. Korrigieren sie mich, wenn ich irre.“
Natürlich tat ich das nicht.
„Desweiteren verpflichten sie sich – wie ich bereits sagte – Stillschweigen über die Ereignisse an Bord des Experimentalschiffes zu halten. Ich möchte darauf hinweisen, dass Major Krieger ein ähnliches Dokument unterschrieben hat.“
Mir ist nicht wohl bei dieser ganzen Sache. Ich drehe und wende den Gedanken, so gut es mir gelingt, nachdem Horstmann mich nun einmal auf dem falschen Fuß erwischt hat. Mir widerstrebt es, über etwas zu schweigen, dass ich entworfen habe, oder die Rechte daran abzutreten. Aber der Gedanke tritt hinter einem anderen zurück.
Samuel Rynstahl – Schiffswerft.
Zu sagen, ich hätte so etwas immer schon vorgehabt, war vermutlich die Untertreibung des ausgehenden Jahrhunderts. Eine meiner ersten Erinnerungen ist die Übertragung der russischen Mondlandung, obwohl ich keine vier Jahre alt war, als der erste Mensch seinen Fuß auf die Oberfläche des Erdtrabanten setzte. Es ist kein Vorhaben, sondern ein lang gehegter Kindheitstraum und eigentlich hatte ich ihn längst beiseite geschoben, eingemottet zwischen realistischeren Aussichten und wichtigeren Fragen. Mir hatte es gereicht, überhaupt an Bord von Raumschiffen arbeiten zu können. Die einzigen die ich baute, waren Modelle von echten Schiffen, zusammen mit meinem Neffen.
Samuel Rynstahl – Schiffswerften.
Das klingt unglaublich gut. Etwas zu lang vielleicht, etwas zu altmodisch.
Ich atme aus, fahre mir mit der Hand über die Augen und verwende einen langen Augenblick darauf, meinen verspannten Nacken zu strecken. Ich sehe mir Horstmann genau an, doch wenn er irgendetwas vor mir verbirgt – Hörner und einen Pferdefuß, denke ich -, tut er es äußerst geschickt.
Es ist seltsam, aber ich glaube nicht, dass er es tut. Ich habe das deutliche Gefühl, dass er mir die Wahrheit sagt. Die Frage ist viel eher, ob ich diesem Gefühl vertrauen kann. Ob ich es will.
Für einen Moment schließe ich die Augen und als ich sie wieder öffne, habe ich eine Entscheidung getroffen.
„Herr Horstmann … sein sie doch so gut. Geben sie mir kurz ihren Stift.“
07-01-2012, 20:44
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 07-04-2013, 17:37 von Adsartha.)
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RE: Countdown
(2005) "Familienbande"
Königsberg, Westfalenheim, Festungsdamm
Wie ein heimatloser Vagabund schlich der Nebel den Festungsdamm hinab. Er tastete über Lichterketten und leuchtende Weihnachtsmänner aus Plastik, die breit grinsend in Plastikschlitten saßen, die von ebenso dümmlich grinsenden Plastikrentieren gezogen wurden. Die Helligkeit hatte ihn aus seinem kalten Bett in der Aue getrieben, und nun verharrte er sehnsüchtig an dem ein oder anderen Fenster. Aber die Menschen im Inneren waren zu betriebsam, um das graue Gesicht, das sich gegen die Scheibe presste zu bemerken.
Er haderte noch mit sich, ob er weiter in die Stadt vordringen sollte, da schoben sich am Ende der Straße zwei Lichtkegel um die Ecke. Blass wirkten sie im Vergleich zu den Lichterketten, die Vorgärtenbäume und Fenster schmückten, den dicken Schneemannbäuchen und roten Rudolfs-Nasen. Vielleicht hatten sie sich einfach noch nicht richtig wachgeblinzelt, fabrikneu wie sie waren.
Mit einem freudig verzogenen Mundwinkel – der andere wurde von einer erbärmlich vor sich hin glimmenden Zigarette okkupiert – lenkte Ludger den schwarzen EMW 330 XD geschickt durch den Festungsdamm, der mittlerweile von Schlaglöchern und Aufwürfen so schlimm gezeichnet war, dass er den Aknenarben so manches Halbstarken Konkurrenz machte.
Er wusste, dass Lissy zu Hause auf ihn wartete, ihre Gäste waren wahrscheinlich auch schon eingetroffen. Aber nachdem er die letzten sieben Jahre mit einem T4-Kastenwagen der Marke Wanderer über Königbergs Straßen hatte ruckeln dürfen, entschloss er sich spontan zu einer weiteren Rund um den Block.
Im Radio spielten sie an der schönen, blauen Donau - wie der Sprecher stolz verkündet hatte, den beliebtesten Walzer der Deutschen.
An jeden anderen Tag hätte er sich darüber erregt, dass anscheinend genug Geld vorhanden war, um die unsinnigen Durchfragen der Kulturstiftung durchzuführen, während die Städte zur gleichen Zeit immer mehr zerfielen. Heute jedoch drehte er einfach die Musik lauter, ließ sich in die schwarzen Sitzpolster sinken und den Ärger der Welt draußen an der Scheibe vorüberziehen.
Viel zu schnell, für seinen Geschmack, war er um den Block. Dieses Mal fuhr er nicht an der leer stehenden Bäckerei vorüber, sondern parkte den Wagen hinter dem silbergrauen Wanderer seines Bruders. Ein letztes Streifen über das Leder, dann stand er neben dem EMW und betrachtete die Fassade seines Hauses.
Wehmut erfasste ihn, als er all die dunklen Fenster sah, die in ebenso dunkle Zimmer führten. Zwar drangen heitere Stimmen gedämpft durch die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss. Die Zahl der Krieger darunter vermochte er allerdings an einer Hand abzuzählen. Nächstes Jahr würde auch Nassira gehen, flügge werden und ihr Glück in der Welt suchen. Studieren wollte sie, Medizin.
Ludger schüttelte seufzend den Kopf. Es schien, als würde die Familie in der Zeit verwehen.
Heute mehr als sonst sehnte er sich zurück ins Jahr 1978, zurück zu Großmutters Frankfurter Kranz, so randvoll mit Erdbeerkonfitüre, dass es jedes Mal auf Kinn hinabtropfte, zurück in die Küche, an deren Rüschengardinen immer der zarte Duft des Parfüms der Mutter haftete, zurück in den Sommer, der über zu bersten schien vor Farben und Gerüchen. Damals schien alles möglich. Sogar das Erschaffen neuer Sterne.
Damals…
Das wiehernde Lachen Ariberths riss Ludger aus seinen Erinnerungen. Er sah die hohe Gestalt seines Bruders am Küchenfenster vorüber gehen. Der grazile Schatten im Hintergrund konnte hingegen nur Lissy gehören, die wie ein Falke über das Gelingen des Rehbratens wachte und bei dem geringsten Zeichen von Austrocknungsgefahr ihre berühmte Honig-Orangen-Sauce über die Haut träufelte.
Wahrscheinlich tauschten die beiden wieder Rezepte aus.
Der Gedanke ließ Ludger schmunzeln. Sein Bruder war wirklich ein seltsamer Kauz.
Als er die Stufen zur Haustür emporstieg, fühlte er sich schon fast wieder Zuhause.
*
Seufzend wandelte Nassira durch das Labyrinth aus Kisten, das sich unter den Dachschrägen drängte. Seit der Fertigstellung des Bodens war sie bereits einige Male hier oben gewesen, daran gewöhnt, was die Handwerker aus dem Spielplatz ihrer Jugend gemacht hatten, hatte sie sich hingegen noch nicht. Alles wirkte so neu, so trostlos.
Dort unter dem kleinen Fenster in der Ecke hatten einst Staubfeen ihre Bälle abgehalten. Monster waren aus den hölzernen Wänden gekrochen und waren von Schatten zu Schatten gehuscht, um sich in einem unbedachten Moment auf sie zu stürzen. Jeder Schritt auf den vom Alter gebeugten Dielen war ein Abenteuer gewesen.
All dies war nun Vergangenheit, begraben unter Dämmmaterial und dem erstickenden Geruch von frischer Farbe.
Inmitten all dieser Moderne, dort unter der traurigen Glühbirne kam sich Nassira mit einem Mal schrecklich verloren vor, und eine Kälte, die nichts mit der Temperatur des Dachbodens zu tun hatte, ließ sie fröstelnd die Arme um sich schlingen.
„Nassira, bist du dort oben?“
Beim Klang der vollen Stimme, unerwartet und laut in der Stille des Moments, fuhr das Mädchen erschrocken herum. Ein dumpfer Schmerz streifte ihren Ellbogen. Sie sah noch den Schalk in den Augen ihres Onkels aufblitzen, dann stürzte der obere Teil des Kistenstapels zu ihrer Linken auch schon zu Boden und verteilte seinen Inhalt auf den frisch gefliesten Boden.
Ariberth lachte.
„Selbst Schuld“, erklärte er trocken, als sie inmitten des Chaos aus winzigen Zinnsoldaten, kunstvollen Papierfliegern und Schulhefte diverser Abnutzungsstadien in die Knie ging. „Was streifst du auch hier oben durch das Chaos, während unten die Geschenke warten?“
„Ich habe nur noch etwas an meinem Gedicht für den Weihnachtsmann gefeilt“, erwiderte sie grinsend, während sie den lädierten Karton zu sich heran zog und die Papierklappen beiseite schlug, die beim Aufstellen wieder zugefallen waren.
„Soso.“ Ihr Onkel blinzelte verschwörerisch. Sie beide wussten, dass sie ihr letztes Gedicht im Alter von zehn Jahren hatte aufsagen müssen. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre für eine heimliche Zigarette hier herauf gekommen.
„Nun, dann beeil dich mal mit dem Üben. Die Geschenke warten, und ich kann es nicht erwarten, Ludgers Gesicht zu sehen, wenn er meines auspackt.“
Die jugendliche Aufregung in dem Gesicht ihres Onkels ließ Nassira schmunzeln.
„Bin gleich da. Ich räum das nur schnell zur Seite.“
„Gut, aber beeil dich.“
Während ihr Onkel die Treppe herunterpolterte, griff Nassira nach einem Stapel Schulhefte. Sie war in Gedanken so beschäftigt mit der Frage, was er wohl dieses Jahr besorgt haben mochte, dass sie die hölzerne Box am Boden des Kartons erst bemerkte, als sie mit ihren Fingerknöcheln dagegen stieß.
Verwundert packte sie die Hefte beiseite und griff nach der Kiste. Das Holz war bereits stark angelaufen vom Alter, rissig und quer über eine Seite zog sich ein dunkler Spalt. Dennoch war das aufgebrachte Logo auf dem Deckel deutlich zu erkennen.
Neugierig und in Erwartung eines kleinen Schatzes aus der Kindheit ihres Vaters und Onkels, öffnete Nassira die Zigarrenkiste. Nur um im gleichen Moment enttäuscht in sich zusammen zu sinken.
Statt zeitgetrübter Murmeln oder kindlicher Geheimnisse, wölbten sich ihr Zettel entgegen. Vergilbt und etwas angegangen, so als hätte jemand sie immer wieder angesehen.
Als sie das oberste Blatt aus der Kiste entfaltete, fand sie die Skizze einer Taschenuhr, detailgetreu mit Kette und Ziffern auf dem Blatt. In der einen Ecke prangte eine eingekreiste ‚1‘. Mit gerunzelter Stirn legte sie das Blatt beiseite und griff nach dem nächsten. Dieses öffnete sie jedoch nicht, denn unter dem Blatt fand sie ein zusammengeleimtes Päckchen Zettel, handtellergroß, das ihre Aufmerksamkeit erregte.
Ein Daumenkino.
Lächelnd ließ sie das Strichmännchen darin tanzen, einmal vor, dann zurück.
Beim zweiten Durchlauf stieß sie auf das Wort ‚Leben‘ und ein ‚X‘, worauf hin sie jeden Zettel einzeln betrachtete, Vorder- wie Rückseite, doch bis auf die Figur waren die anderen Seiten leer.
„Nassira! Was ist denn nun? Wir wollen die Geschenke auspacken!“
„Ich komme!“, rief das Mädchen zu ihrer Mutter hinunter.
Hektisch griff sie nach den Zetteln, um sie wieder in der Kiste zu verstauen. In der Eile schnitt sie sich jedoch den Finger. Blut tropfte auf das geheimnisumwitterte Papierwerk und sie griff eilig in ihre Hosentasche nach dem Taschentuch. Mit schnellen, aber sorgsamen Bewegungen tupfte sie Zettel für Zettel trocken. Als über den bräunlich verfärbten Boden der Box wischte, verrutschte dieser zu ihrer Überraschung und entpuppte sich als Rückseite einer Fotographie.
Eine Familie war darauf zu sehen. Ihre Familie, bei genauerem Hinsehen. Da das schüchterne Lächeln ihres Vaters, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt, daneben großspurig und in Pose Onkel Ariberth. Dahinter die Großeltern und Omama sowie Opa Lothar, die sie nur von Erzählungen kannte. Lauter vertraute Gesichter. Bis auf eines. Schwarzhäutig, aber ebenso so glücklich und erhitzt wie die anderen, wie sie da standen inmitten des Kornfeldes, das konnte auch der Schleier des Alters nicht verhüllen.
„Nassira!“
„Komme!“
Während die Jüngste der Kriegers geschwind die Treppe heruntereilte, drehte sich ihr Kopf um das gerade Entdeckte. Wer war der dunkle Mann auf dem Bild? Warum hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen, obwohl er doch so offensichtlich zur Familie gehörte? Was hatten diese Zahlen auf den Zetteln und im Daumenkino zu bedeuten?
Eigentlich war sie nur auf den Dachboden geklettert, um von den Diskussionen über Politik wegzukommen, die beim Essen aufgekommen waren. Die Sparmaßnahmen der Stadt, die Umwandlung der Weimarer Reichsverfassung zum Grundgesetz, die allgemeine Lage – die Stimmung hatte sich immer mehr erhitzt.
Sie hatte Ruhe nur gesucht und stattdessen anscheinend ein Familiengeheimnis gefunden.
*
Mit einem leichten Murren zückte Ludger sein Feuerzeug, um der Zigarette in seinem Mund ein weiteres verflixtes Leben einzuhauchen.
„Wie sich sehe, hast du den Kampf noch nicht aufgebeben“, amüsierte sich Ariberth, während er sich in dem großen Ohrensessel ihres Vaters niederließ.
Ludger deutete auf das volle Bierglas, das ein Bruder auf den Tisch zwischen ihnen abgestellt hatte. „Jedem sein Laster.“
Ihre Blicke trafen sich, rangen mehrere abgestimmte Herzschläge im vertrauten Duell, nur der Erinnerungen wegen, dann schmolz das Braun und die beiden Brüder ließen sich zufrieden seufzend in die Polster sinken.
„Ein schönes Fest“, bekundete Ariberth und tätschelte seinen Bauch.
„Ja“, stimmte Ludger zu.
Es war schnell ruhig geworden, nachdem sein Freund Bela Frau und Sohnemann eingepackt und nach Hause gebracht hatte. Nicht, dass sie einen weiten Heimweg hätten - die Chaborskys wohnten direkt gegenüber. Aber all der Trubel war wohl etwas zu viel für den kleinen Luca, der nach dem Essen nur noch quengelig gewesen war. Kurz darauf hatten sich die Mollers von Nebenan zurückgezogen. Nun waren nur noch Ariberth, Lissy, Nassira und er übrig.
Nun, sein Kollege Jamal, Junggeselle und ohne Verwandte in der Gegend, weilte ebenfalls noch im Haus, doch als wirklich anwesend konnte man ihn nicht bezeichnen.
Als wäre sein Bruder den Gang seiner Gedanken gefolgt, deutete er in diesem Moment auf den zusammengesunkenen Gast auf dem Sofa.
„Sag mal, Ludsche, was hast du denn mit dem gemacht?“
„Ah, nur eine Fortbildungsmaßnahme“, erwiderte er gelassen und freute sich insgeheim wie ein Schneehase, als Ariberth ihn irritiert anblinzelte.
Natürlich könnte er seinem Bruder vom dem ‚Fall‘ erzählen, der Jamal so zugesetzt hatte, aber da Nassira in Hörweite war und Lissy jederzeit den Raum betreten konnte, verzichtete er lieber darauf über seinen Arbeitsalltag ins Detail zu gehen. Menschen auszuweisen war nicht so einfach, wie das Wort es vermuten ließe.
„Du hast mir immer noch nicht erzählt, was es mit deinem Geschenk auf sich hat“, lenkte er daher seinen Bruder ab.
Ariberth war sofort Feuer und Flamme. „Ist das nicht offensichtlich“, rief er und sprang auf „Das ist ein echter SOKOL KV-2 von 1991.“ Strahlend hielt er den voluminösen Raumanzug vor sich, als wollte er ihn anpassen. „Er wurde wegen eines Defektes ausgemustert, und ich habe sofort die Gelegenheit ergriffen.“
„Das sehe ich“, schmunzelte Ludger. Was er mit einem echten Raumanzug samt Helm und Ausstattung sollte, war ihm jedoch nicht klar. Sein Bruder, der Testpilot war bei der Zuse-Siemens AG, mochte solch einen Anzug gewiss brauchen. Wenn er damit im Fremdenamt auftauchte, würden ihn die Kollegen auslachen.
„Ich finde ihn cool“, versicherte Nassira vom Baum her. Sie hatte aufgehört in dem Wälzer über Medizin zu blättern, den Bela ihr mitgebracht hatte, und ging zu ihrem Onkel, um den Anzug noch ein weiteres Mal aus der Nähe zu bewundern.
„ Cool“, murmelte Ludger, beschloss aber an diesem Tag einmal nichts zu diesen neumodischen Ausdrücken seiner Tochter zu sagen. Das Mädchen war heute seltsam still gewesen. Da freute er sich, wenn sie nun wieder etwas auftaute.
Außerdem war heute Weihnachten.
Der Rehbraten ruhte in ihren gerundeten Bäuchen, im Kamin knisterte munter ein Feuer und der Baum erstrahlte im Glanze Dutzender Lichter und der Dekoration, die drei Generationen Krieger aus aller Welt herangetragen hatten. Kugel, Strohsterne und dort, nahe bei der beglockten Spitze hingen die beiden kleinen gläsernen Skiläufer, die Joseph 1978 von seiner Wanderung durch die Alpen mitgebracht hatte.
Bevor die Sehnsucht nach dem alten Mann, der immer so voller Geschichten gesteckt hatte, und den Rest seiner Familie Ludger vollends überwältigen konnte, betrat Lissy den Raum, und er erinnerte sich, das er noch etwas gut zu machen hatte.
„Dein Braten war ausgezeichnet“, lobte er.
Seine Worte ernteten einen schiefen Blick, der besagte, dass sie genau wusste, was er plante, aber nicht vorhatte, zu schnell nachzugeben. Demonstrativ wandte sie sich auch sofort wieder ab und fuhr fort, das antike Geschirr zurück an seinen angestammten Platz in der Glasvitrine zu räumen.
„Ich wolle dich überraschen“, fuhr er fort und tat angemessen zerknirscht. Natürlich war das Auto eher ein Spontankauf allerletzter Minute gewesen. Aber wenn er das zugab, durfte er sich wieder Tiraden über Impulsivkäufe und Automanien von Männern anhören. Frauen waren da natürlich ganz anders. Wenn es um Schuhe ging, zum Beispiel.
Er beschloss, dass es wohl das Beste wäre, das Thema fürs erste Totzuschweigen, stand auf und ging zu der Stelle unter dem Baum, an der seine Geschenke lagen. Eine Krawatte mit bellenden Dobermännern lag da – ein Humorgeschenk von Jamal. Daneben die DVD, die er von Nassira bekommen hatte. 'Star Trek: Countdown', las er. Ihrer Meinung nach, ein wahrer Geheimtipp. Etwas weiter rechts fand er das rote Büchlein, das er gesucht hatte.
Z. Ack – Nemesis
„Schmetterlingstränen, die trübe Blicke verwandelt spiegeln. Zerronnen bin ich und kalt tropft mir schwarzer Lavendel – wie Palladium – ins stumme Herz“, las er aus ihrem Geschenk, und als er sah, wie Lissy leicht den Kopf wandte noch etwas mehr.
„Du eisgeschmolz’ne, schwarz erstarrte Himbeerblüte; vergiss dein funkelnd’ Dornenkleid, düsterroter Rosenfalter.“
Er warf ihr ein Lächeln hinüber, sah dass es erwidert wurde, teilten sie doch die Leidenschaft für Acks wilde Worte.
So setzte sich Ludger, las mal hier, mal dort einen Vers für seine kleine Familie, aber eigentlich nur für seine Lissy. Sie würde über das Auto hinwegkommen, wie sie gemeinsam schon so vieles Überstanden hatten, und sollte sie ihm später immer noch grollen, würde er ihr von dem Brief erzählen, den er am Abend heimlich von Ariberth zugesteckt bekommen hatte – die lang erwartete Zusage der Zuse-Siemens AG über die Kostenübernahme der Hausmodernisierung.
"I wish a car would just come and fucking hit me!"
"Want me to hail a cab?"
"No, I'm talking bus!" (The four faced liar)
Da baumelt die kleine Doktorspinne in ihrem Seidenreich und träumt von ihren Silberfäden.
12-01-2012, 22:27
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 12-01-2012, 22:36 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Countdown: Eingedeutet 1
(1988) 'Besluite'
Draußen hatte sich die erste Morgensonne des Jahres in den Himmel gestohlen, tastete sich langsam von der Rückseite des Hauses durch die Erdgeschosswohnung und jagte die Schatten der letzten Nacht davon.
Auf dem Festungsdamm vor der Tür lagen noch verkohlte Sektflaschen und die Überreste der Feuerwerksbatterien herum, umgeben von plattgefahrenen Böllern und zweckentfremdeten Zigarren. Und gegenüber schliefen die Nachbarshäuser noch den Rausch unter ihren Dächern aus.
Elisabeth schaute vorsichtig durch den Türspalt um die Ecke ins Wohnzimmer und beobachtete Ludger, der stocksteif auf der Couch saß. Er hielt das kleine in Tüchern eingewickelte Würmchen namens Nassira im Arm und konnte seine großen Augen nicht von ihrem Gesicht lösen. Manchmal ertappte er sich selbst dabei, wie er mit seinem zitternden Finger ganz vorsichtig die dunkle Nasenspitze berührte.
Lissy trat auf Zehenspitzen von der Tür zurück und ging kopfschüttelnd durch den Flur in den Wintergarten links neben dem Badezimmer.
"Und?" Ariberth saß mit seiner Mutter am Esstisch und schaute fragend auf. "Wie siehts im Wohnzimmer aus?"
"Er ist hellwach - Sie schläft", antwortete Lissy. "Und er bewegt sich keinen Millimeter."
Schweigen sickerte wieder von der Decke herab. Ariberth starrte in seine Tasse mit kaltem Kaffee und Luise rieb sich die müden Augen, während Elisabeth durch die schiefen Fenster in den Garten hinaus schaute.
"Was machen wir jetzt?"
Die Frage hing wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. Schon oft wurde sie in den letzten Stunden geäußert: am alten Flughafen, im Porsche auf der Rückfahrt, im Krankenhaus der Barmherzigkeit, auf der Fahrt nach Hause - und jetzt wieder.
Mit der gleichen Antwort.
"Ich weiß es nicht."
Welche Farbe haben eigentlich ihre Augen?, dachte Ludger. Ob ich ..., nein, lieber nicht.
Er saß noch immer angespannt auf der Couch und wagte es nicht, sich zu bewegen. Alle Geräusche um ihn herum gerieten mehr und mehr an den Rand des Bewusstseins. Das monotone gleichmäßige Schlagen der Standuhr, das Gluckern der Heizung, das Gespräch aus dem Wintergarten, das nur als Gemurmel zu ihm durch drang. Seine Augen fokussierten sich auf Nassiras Gesicht und erforschten akribisch jeden Zentimeter, jede Pore ihrer Haut.
Sie sieht ihm verblüffend ähnlich. Bis auf die Stupsnase. Und die kleinen Fingerchen, der Daumen, an dem ihr Mund nuckelt.
Schmatzende Geräusche, der kleine Brustkorb hob und senkte sich ruhig. Ein schlafendes kleines Baby mit dunklem Haut.
Wie alt Sie wohl ist? Ist Sie schon ein Jahr alt? Der Namibier hatte nichts davon gesagt.
Ein Auto fuhr auf der Straße entlang. Langsam und vorsichtig, dennoch konnte man eine der Sektflaschen hören, die klirrend unter den Reifen zerplatzte.
Himmel, nicht so l-!
Sie schlug die Augen so abrupt auf, als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet. Der Mund hörte auf zu nuckeln, der Daumen glitt langsam hinaus und sie starrte Ludger mit großen Augen an.
Großen braunen Augen mit ein wenig Ocker drin und einigen kleinen schwarzen Punkten, die eher wie Linien wirkten. Die Pupillen weiteten sich und drängten die Iriden zurück.
Hundeaug- ..., Sie hat Hundeaugen!
Sein Herz schlug schneller, als die kleine Hand mit dem nassen Daumen sich langsam seinem Kopf näherte. Die Finger schwebten unsicher unter seinem Gesicht und legten sich schließlich auf seine Nasenspitze.
Stille.
Nur eine Berührung. Ein pochendes Herz. Kleine Finger gegen große Nase.
Und dann lächelte sie ihn an.
"Vielleicht sollten wir warten, bis Herr Mbinga nachher vorbeikommt."
"Und dann? Soll er Sie wieder mitnehmen? In den Bürgerkrieg?"
"Nein, aber ..."
"Wenn Sie in Deutschland bleibt, wird das Jugendamt Sie in ein Waisenheim überstellen."
"Joseph schrieb, dass wir jetzt dran sind", sagte Ariberth und tippte auf den handgeschriebenen Zettel, der zwischen den Kaffeetassen auf dem Tisch lag.
"Ist ja gut", meinte Lissy und hob beschwichtigend die Hände. "Es ist ein Teufelskreis ..."
Ariberth nickte entschuldigend, dann schaute er Luise an.
"Mutter?" Er fasste nach ihrer Hand neben der Tasse. "Du sagst nichts ..."
"Ariberth!", rief Lissy verärgert. "Mensch ..."
Luise winkte ab.
"Schon gut, Elisabeth", flüsterte sie und versuchte sich an einem Lächeln. "Es war abzusehen, dass dieser Fall eintreten könnte." Luise blickte abwechselnd von Lissy zu ihrem ältesten Sohn. "Wisst ihr, ..., für Hendrik und seine Eltern war es ihr Leben lang nie einfach. Stets kam etwas in ihr trautes Familienglück hinein." Sie schaute in ihre leere Tasse. "Aber was es auch war - der Krieg, dieses Land - sie haben sich nie unterkriegen lassen. Und Joseph ..., Joseph war immer für sie da."
Stille. Dann seufzte Ariberth und drückte die Hand seiner Mutter.
"Wir sind alle müde und sollten vielleicht erstmal eine Mütze voll Schlaf nehmen", sagte er und schaute erwartungsvoll in die kleine Runde. "Mit wachem Geist sieht man viele Dinge ganz anders ..."
Lissy nickte und streckte sich, während Luise wieder in den sonnigen Morgen hinausschaute, der es sich im Garten bequem gemacht hatte.
"Hendrik ...", murmelte sie. "Ein Leben gegen ein anderes." Dann nickte sie ihrem Ältesten zu. "Du hast Recht - lass uns erstmal ruhen."
Die Tür zum Wohnzimmer wurde aufgerissen. Hastige Schritte in die Küche. Lissy runzelte die Stirn, trat einen Schritt zurück und schaute in den Flur.
"Nanu?", murmelte sie.
Aus der Küche hörte sie, wie der Kühlschrank geöffnet wurde. Erst vernahm man das Klackern einer Tasse auf der Anrichte, dann das Röhren der Mikrowelle.
Sie standen zu dritt vor dem Kücheneingang und starrten Ludger verblüfft an, der eine dampfende Tasse mit Milch aus der Mikrowelle nahm und hektisch in den Schubladen nach etwas suchte.
"Ludger?", fragte seine Mutter. "Was suchst Du?"
Er schüttelte den Kopf und lächelte triumphierend, als er einen Strohhalm hochhielt, ihn in die Tasse steckte und sich an ihnen vorbeiquetschte.
"Ludsche?", rief Lissy. "Hallo?" Sie folgte ihm ins Wohnzimmer und nahm ihre Worte mit. "Du kannst doch nicht ..."
Ariberth blickte verwirrt zu Luise, auf deren Gesicht sich Zufriedenheit ausbreitete.
"Mutter?"
"Ein Leben ist gegangen, ein Leben hat sich entschieden zu bleiben."
"Bitte was?"
"Vielleicht sollten wir das Problem anders angehen."
"Ich versteh' Dich nicht."
Sie schmunzelte.
"Adoption, Ariberth."
***
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RE: Countdown
Countdown: Eingedeutet 2
(1991) 'Wider Erwarten'
"Ich wünsche Dir viel Glück, mein Schatz."
"Das sagst Du sonst nie, Lissy. Was ist los?"
"Du kannst alles gebrauchen, Ludger. Und warum soll ich meinen Mann nicht einmal im Jahr 'Schatz' nennen dürfen?"
"Danke."
Schweigen.
"Wenn ich es wider Erwarten bestehen sollte, muss ich erst den Ausbildungsleiter anrufen, den Peters. Wegen Urkunde unterschreiben."
"Wider Erwarten?" Ihr Schmunzeln war durchs Mobiltelefon zu hören. "Geh da rein, Ludger. Stell Dich den Leuten. Nassira und ich drücken Dir hier die Daumen."
"Ich mach das für uns Drei, Lissy."
"Ich weiß."
Er drückte auf den roten Knopf, schaltete das Mobiltelefon aus und steckte es in die Innentasche seiner feinen Jacke. Dann ein Blick zur Drehtür, hinter dem die große Herausforderung lauerte. In den großen Scheiben sah er seinen Doppelgänger aus einer Parallelwelt, der heute auch seinen Sonntagsanzug angezogen hatte. Ebenfalls schwarze glatte Haare, die mit viel Gel ordentlich zurück gekämmt waren. Auf Köpfen bereits die ersten Anzeichen von verlorenen Haaren.
Es ist für Lissy, dachte er und starrte seinen scharf gezeichneten Zwilling an. Nur die braunen Augen verschwammen im Milch der Scheiben. Und Nassira.
Ein viel zu großer Raum. Die vielen Fenster an der linken Seite ließ den Sommer unverblümt herein, während er sich drei Personen gegenüber sah.
Ein Mann mit gepflegtem schwarzen Scheitel, eine etwas molligere Frau mit blonden Haaren und eine dürrere mit braunem Pagenschnitt. Alle Drei in ebenfalls dem Anlass entsprechender Kleidung.
Ludger hinter seinem Tisch, die Drei hinter ihren. Die letzte Grenze, der Teppich dazwischen ein Niemandsland voller Minen und versteckten Fallen.
Die mollige Frau in der Mitte räusperte sich.
"Ich begrüße Sie zur mündlichen Staatsprüfung", sagte sie und schaute ihn mit einem honigsüßen Lächeln an. "Können wir anfangen, Herr Krieger?"
So hat mich selbst Lissy noch nie angeschaut!, dachte Ludger, dann nickte er. "Ja, ich bin bereit."
"Gut." Sie zeigte auf den Mann links von ihm. "Herr Stepanowitsch, zuständig für das allgemeine Themengebiet."
Der Mann nickte Ludger freundlich zu.
"Neben mir Frau Masuch; Sie ist für das bürgerliche Recht zuständig."
Kein Nicken, kein Aufschauen.
Angenehm, dachte Ludger. Na, das kann ja heiter werden.
"Mein Name ist Kleinfeller, ich prüfe das Themengebiet des internen Rechnungswesens."
Nach den Worten folgte eine kleine ewige Stille, nur unterbrochen von raschelndem Papier und Flüstern zwischen den drei Prüfern. Dann schaute Frau Kleinfeller wieder zu ihm hin.
"Fangen wir einfach an, Herr Krieger", sagte sie und strahlte ihn an, als wäre dies ihr gemeinsamer Hochzeitstag. "Wie wird die Stelle des internen Rechnungswesens heutzutage genannt?"
Ludger schmunzelte.
Wenn das so einfach bleibt, bin ich gleich hier raus ...
" Comptroller, Frau Kleinfeller."
"Das ist richtig", sagte sie. "Kommen wir zu den Kennzahlen: wofür steht MTBF?"
Es waren lange 45 Minuten, die immer schwieriger wurden. Sie legte ihm Betriebsabrechnungsbögen vor und ließ ihn für die Königsberger Fuhrgesellschaft m.b.H. eine Plankostenrechnung über den Salzverbrauch des letzten Winters aufstellen. Zum Schluss forderte sie eine betriebswirtschaftliche Entscheidung mittels Deckungsbeiträgen des Konzerthauses, ob die Programme ' Nigel-Kennedy' und ' Isaac Stern' noch angeboten werden sollten.
"Gut, ich denke, ich habe erst einmal genug gehört, Herr Krieger" sagte Frau Kleinfeller schließlich und grinste nicht mehr.
Waren wohl zuviele Aufgaben, die ich korrekt gelöst habe - oder?, dachte Ludger und unterdrückte ein Schmunzeln. Du bist ein zahnloser Löwe, alte Dame.
Sie schaute zu ihrer Nachbarin herüber.
"Frau Masuch, Sie dürfen."
Runde 2 ...
Die dürre Dame stand auf, trat um ihren Tisch herum und legte ein Blatt vor Ludger auf den Tisch - alles ohne ihn anzuschauen. Dann setzte sie sich, hielt sich die Hand vor den Mund und räusperte sich.
Ludger starrte verblüfft auf das maschinengeschriebene Blatt.
"Vor Ihnen liegt ein Fall", sagte Masuch mit brechender Stimme. "Bitte lesen."
Ludger hob fragend eine Augenbraue, dann las er den kurzen Text, in dem es um zwei Personen ging, die einen Vertrag um einen Kaufgegenstand abschließen wollten.
Als er fertig war, hob er den Kopf.
"Und jetzt, Frau Masuch?", fragte er. "Es steht keine Aufgabenstellung darunter."
"Fangen Sie zuerst allgemein mit dem üblichen Schema an, Herr Krieger."
Er legte den Kopf schief, starrte auf den Text und überlegte.
"Laut Schema wäre zuerst zu prüfen, ob ein Anspruch entstanden wäre. Danach ob er zwar entstanden, aber untergegangen sein könnte - beispielsweise durch Erfüllung des Vertrages."
Stille.
"Wäre der Anspruch entstanden und nicht untergegangen, wäre als letzter Punkt zu prüfen, ob er durchsetzbar ist. Damit ist Verjährung gemeint ..."
"Herr Krieger!", unterbrach ihn die dürre Masuch. "Sie sehen doch ganz klar, dass zwischen A und B ein Vertrag geschlossen wurde. Aufgrund eines Irrtums hat B seine Zustimmung zurückgezogen - warum nennen Sie nicht sofort den dafür einschlägigen Paragraphen?"
Ludger schaute sie stirnrunzelnd an.
"Sie wollten, dass ich mit dem allgemeinen Schema anfange", sagte er. "Sonst hätten Sie sagen können, dass ich m-"
Frau Kleinfeller unterbrach ihn.
"Ich glaube, wir machen eine fünfminütige Pause."
Er stand kopfschüttelnd in der Toilette am Waschbecken und starrte in den Spiegel.
"Blöde Zippe", flüsterte er seinem Doppelgänger zu. "Und? Wie läufts bei Dir?"
Keine Antwort, stattdessen schauten sie sich schweigend an.
"Wenn Du mir zufällig einen Wunsch erfüllen könntest", murmelte er in den Spiegel, "dann sorge doch bitte dafür, dass ich nie wieder irgendwas mit Recht zu tun haben werde. Betriebswirtschaftliches - ja. Aber ..., ach."
Dann wusch sich Ludger die Hände und hielt sie unter den Heißlufttrockner.
"Wenn man nicht weiß, was man gerade noch gefragt hat ...", murmelte er und verließ das stille Örtchen.
Im Prüfungsraum.
Frau Kleinfeller nickte zu ihrem Nachbarn herüber.
"Herr Stepanowitsch, Sie dürfen!"
Der Mann schaute zu Ludger hinüber, der über den Ausgang der ersten Runden sichtlich erleichtert auf seinem Stuhl saß - auch wenn er es selbst nicht mitbekam, dass er die Hände unter dem Tisch zum Gebet gefaltet hatte.
"Nun, Herr Krieger", begann er, "können Sie mir den amtierenden Reichspräsidenten nennen?"
"Das ist zum zweiten Mal Richard von Weizsäcker."
"Korrekt." Er kritzelte mit dem Stift auf einem Blatt herum. "Die Gewaltenteilung in der Verfassung besteht aus welchen Elementen?"
"Der Legislative, also der Gesetzgebung. Der Judikative, der Rechtsprechung und der Exekutive, die vollziehende Gewalt."
"Gut, und wer hat es ' erfunden'?"
" Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, 1748."
"Gut." Stepanowitsch nickte. "Bleiben wir noch einen Moment in der Historie, Herr Krieger." Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. "Können Sie sich an die DDR erinnern?"
"War zwar lange vor meiner Zeit ..."
"Auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik wurde in den kurzen Jahren ihres Bestehens eine neue Verfassung ausgearbeitet."
"Worauf wollen Sie hinaus, Herr Stepanowitsch?"
Er beugte sich vor.
"Die damalige Reichspräsidentin hatte dies legal initiiert. Kann das der heutige Reichspräsident ebenfalls tun?"
Ludger schüttelte den Kopf.
"Nein", sagte er. "Das steht glaube ich im Artikel 20 der Verfassung."
"Und wie nennt sich das?"
"Also, ..., ich meine, ..., es heißt Unveränderlichkeitsgrundsatz. Ja, genau."
"Sie heißt Ewigkeitsklausel - und steht im Übrigen in Artikel 182."
"Das ..., ja."
"Und was besagt diese Klausel, Herr Krieger?"
Ludger wurde langsam rot, dann verzog er den Mund.
Schweigende Peinlichkeit, auf kälterem Fuß erwischt.
"Von Änderungen sind ausgeschlossen", sagte der Mann und hielt nacheinander seine Finger hoch, "die Grundrechte, die Staatsform, das Demokratieprinzip, die Bindung der Gewalten an die Verfassung sowie das Prinzip der Volkssouveränität."
Stille.
Dann schaute Frau Kleinfeller auf ihre Armbanduhr.
"Die Zeit ist um, Herr Stepanowitsch", sagte sie und wandte sich wieder an Ludger. "Ich würde Sie bitten, für einen Moment draußen Platz zu nehmen, Herr Krieger."
"Und? Wie ist es gelaufen?"
"Keine Ahnung. Ich muss da gleich nochmal rein."
"Ludger!"
"Ach, ..., die Rechtsgebiete waren noch nie meine Stärke, Lissy. Ich arbeite lieber mit Zahlen und Statistiken."
"Also waren drei Jahre Studium für nichts?"
"Kann ich mir nicht vorstellen."
Sie seufzte.
"Ludsche, Ludsche ..."
"Hör auf damit!", knurrte er und drehte sich um, als sich die Tür wieder öffnete und die Kleinfeller ihn hereinwinkte. "Ich muss los."
Sie saßen vor ihm, wie drei Richter des jüngsten Gerichts.
Der kopfschüttelnde Stepanowitsch, die leblose Masuch und die honigsüß lächelnde Kleinfeller.
"Herr Krieger, wie Sie sicher bemerkt haben, waren wir nicht ganz zufrieden mit Ihren Prüfungsleistungen." Sie blätterte durch ihre Aufzeichnungen. "Ihre guten betriebswirtschaftlichen Leistungen stehen leider den schlechten juristischen entgegen."
Oh oh ..., dachte er, machte aber ein erstauntes Gesicht. Daumen drücken Nassira!
"Wir haben lange diskutiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, ..."
Daumen drücken, Lissy!
"..., dass Sie mit einem Punkt mehr als nötig knapp bestanden haben."
Einatmen. Ausatmen.
Geschafft?
Der zahnlose Löwe lächelte wieder.
"Ich gratuliere Ihnen zur bestandenen Prüfung des gehobenen nichttechnischen Dienstes, Herr Inspektor."
(Fünf Minuten später)
"Ja? Herr Peters? Guten Tag auch Ihnen. ... Ja, ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich die Prüfung bestanden habe. ... Das Ergebnis? ... Nunja, ..., mit Ach und Krach'. ... Ja, da haben Sie Recht: In 50 Jahren kräht kein Hahn mehr danach. ... Meine neue Stelle? ... Aber Sie sagten doch, dass ...
Mein Schwerpunkt im Studium war aber doch Betriebswirtsch- ... Wo soll ich hin? ... Ins FREMDENAMT?"
13-01-2012, 20:02
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 22-12-2014, 00:14 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Countdown: Eingedeutet 3
(2005) 'Buon natale'
09. November
Fast hätte man meinen können, dass die Sonne es noch einmal allen beweisen wollte. Warm und munter strahlte sie vom wolkenlosen Himmel herab und schenkte dem milden Herbsttag ein Sommerkleid.
Kein Wind, der die Servietten von den Tischchen des Wrangel-Cafés wehen konnte, auf denen in der Mitte ein Rauchverbotsschild mit vier Kreuz-Schrauben montiert war.
Lissy und Ludger hatten sich an einen Platz unter den großen beigen Schirmen hingesetzt und schlürften ihre Getränke. Er seinen Kaffee aus einem riesigen Pott, sie dagegen zog langsam den Teebeutel aus der Tasse, legte ihn auf den Untersetzer und griff nach dem Kandis-Schälchen.
"Trotzdem versteh ich es immer noch nicht, Ludger", murmelte Lissy und ließ zwei der Zuckersteinchen in den Tee gleiten. "Warum um alles in der Welt brauchst Du ein Auto?"
Er goss sich die Kondensmilch in den Kaffee und verfolgte die weißen Wirbel im dunklen Gebräu.
"Das habe ich Dir doch schon erklärt", meinte er und griff nach dem Löffel. "Die Verwaltung im ganzen Bundesland wird abgebaut und ich werde dann wahrscheinlich auch für die Kreise Samland, Preußisch-Eylau und Heiligenbeil zuständig sein."
"Ich dachte, das würde dann zentral von hier erfolgen."
Ludger schüttelte den Kopf und schaute zu den geöffneten Türen des Turmeingangs, der aussah, wie ein geöffneter Mund, dessen Rachen im Dunkeln lag.
"Das wäre zu einfach", murrte er und schaufelte dreimal Zucker in seinen Kaffee. "Der glorreiche Magistrat hat entschieden - und wir müssen gehorchen."
Lissy strich sich eine ihrer braunen Strähnen hinters Ohr und trank einen Schluck.
"Gut, aber muss es unbedingt ein Diesel sein?"
"Bei den täglichen Fahrten? Weißt Du, wieviel Kilometer das wöchentlich sind? Morgen zum Beispiel müssen Jamal und ich erst nach Palmnicken, dann in die Abschiebehaftanstalt Charlottenburg. Und übermorgen gehts nach Pillau."
"Das gefällt mir gar nicht."
"Frag mal Ja mal." Er grinste. "Für den ist es das erste Mal."
"Ludger!"
Sie schaute ihn mit einem ernsten Blick an, während er in ihrem Gesicht von einer Sommersprosse zu anderen sprang und schließlich an ihren braunen Bernsteinaugen hängen blieb.
"Ehrlich, wir sind beide am Arbeiten, Lissy. Mit Bus und Bahn sind das Ewigkeiten bis nach Hause - und so bin ich nachmittags zeitig wieder bei Dir und Nassira."
"Ich finde aber die Lösung mit Bus und Bahn gar nicht so verkehrt", meinte sie. "Und auch mal ehrlich: Die paar Minuten, die Du eher Zuhause bist, stehen einer Mehrausgabe von wieviel ECU entgegen?"
"Dann sieh es nicht als mein Geburtstags-, sondern als Weihnachtsgeschenk für uns alle an, in Ordn-?"
Lissy schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
"Ist schon gut." Sie nickte genervt zum Ausgang. "Aber wenn wir gleich nichts finden, dann wars das - Compris?"
Einige Minuten später, als sie gezahlt hatten, standen sie mit dem Rücken zum Wrangel-Café.
Vor ihnen eine breite Straße, noch mit Kopfsteinpflaster aus der Zeit vor dem Krieg. Reger Verkehr, mancherorts stehende Wagen, hupende Geräusche, genervte Stadtfahrer.
Auf der gegenüberliegenden Seite eine gelbe Telephonzelle mit zersprungenem Glas und einem großen runden Verbotsschild, auf dem eine Zigarette durchgestrichen war. Daneben eine Bushaltestelle mit eingeschlagenen Scheiben und herausgerissenen Sitzflächen, die hinter den Wartenden achtlos auf dem Boden lagen. Rechts davon eine Lifasssäule, an der die Werbeplakate größtenteils angebrannt waren. 'Das 55. Königsberger Hallenfußballturnier', 'Bundes-Party im Schloss am 31.12.' und 'Weihnachtsmarkt auf dem Europa-Platz vom 24.11. - 23.12.05'.
Die wenigen Leute, die an der Haltestelle standen, verschwanden hinter dem ankommenden Bus, der sich vor ihre Augen schob. Auf der linken Seite ein geöffneter Mund mit zahlreichen schwarzen Stellen auf den Zähnen, darunter das Wort: 'So sehen Raucher wirklich aus!"
Ludger schüttelte den Kopf und war innerlich froh, als das Bild mitsamt dem Bus verschwand. Hinter der nun leeren Haltestelle war ein Gebrauchtwagenhändler mit einem großen Platz zu sehen, auf dem unzählige Autos auf ihre neuen Besitzer warteten. Im Hintergrund schimmerte das Wasser des Oberteichs durch die Bäume.
"Und wo wir gerade dabei sind, Ludger", meinte Lissy. "Ich schwöre Dir, dass ist das letzte Mal, dass wir nach einem EMW, wie Bela ihn fährt, schauen!"
Ludger grinste.
"Es ist eben ein Klasse Auto. Gute Verarbeitung, guter Motor, lange Lebensdauer - was will man mehr?"
"Genau, Mann."
Ludger rollte mit den Augen und zog seine Frau auf die Straße, bevor sich der Autokorso langsam weiter nach rechts bewegte.
Der erste leichte Herbstwind des Tages fuhr durch ihre Haare und ließen Sie beinahe wie eine Furie aussehen, während sie sich zwischen den wieder hupenden Autos zum begrünten Mittelstreifen hindurch quetschten.
"Du und Bela",knurrte Elisabeth. "Nur zwei Kinder im Körper von erwachsenen Männern."
"Süße!", rief Ludger und schaute auf die gegenüberliegende Seite, auf der ihn das Autohaus förmlich zu rufen schien. Zwischen den draußen stehenden Fahrzeugen und ihm lag nur noch die Gegenfahrbahn in Richtung Stadtmitte.
"Wenn Du noch einmal Süße sagst ..."
"Sag mal, hast Du gerade Deine Tage bekommen?"
"Ludger!"
Er schüttelte den Kopf und zog Sie über die Gegenfahrbahn.
"Herr?"
"Krieger, Ludger Krieger", sagte er und schüttelte die angebotene Hand des Verkäufers. Ein scheinbar ewiges Grinsen hatte sich in seinem Gesicht festgesetzt, als er sein künstliches Lächeln aufsetzte.
Der Mann im feinen Zwirn schaute zu Elisabeth.
"Frau Krieger, nehme ich an?"
"Sieht man doch", brummte Sie.
Der Mann zwinkerte ihr belustigt zu und breitete seine Arme aus, die alle Autos vor, neben und hinter ihm einschlossen.
"Nun, mein Name ist Müller. Willkommen bei ' DAS Autohaus', dem einzigen Händler Königsbergs, das alle gängigen Marken führt", rief er. "Suchen sie ein bestimmtes Fahrzeug?"
Ludgers Herz schlug schneller.
"Ja", sagte er und holte einen sorgsam gefaltetes weißes Papier aus seiner Lederjacke. "Im Netz fand ich auf ihrer Seite einen gebrauchten EMW 330 XD." Der Verkäufer nahm das Blatt aus Ludgers Hand und faltete es langsam auseinander.
"Nun", fing er an, "wir hatten tatsächlich noch ein solches Fahrzeug. Sehr gut gepflegt, Baujahr 2001, Allradgetriebe, viertürig ..."
"Schwarz?"
Der Verkäufer nickte, während seine Hände mit Ludgers Ausdruck verharrten.
"Genau!"
"Leider ist der Wagen gerade auf einer Probefahrt nach Pillau. Aber ... ganz ehrlich, Herr Krieger", meinte Müller, "wofür brauchen Sie einen solchen Wagen?"
"Bitte was?"
Elisabeth lachte.
"Ja, eine sehr gute Fra-", meinte Sie, als ein leichter Stoß an ihren Arm Sie unterbrach.
"Sei ruhig!", zischte Ludger und lächelte den Verkäufer an. "Nun, die Marke wurde mir von einem Nachbarn empfohlen, der wöchentlich geschäftlich zwischen Königsberg und Sylt pendelt."
Der Verkäufer nickte bedächtig.
"Sicherlich eine gute Wahl - aber ein solches Fahrzeug ..., verzeihen Sie mir, steht Ihnen nicht gut zu Gesicht, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Ludger schüttelte den Kopf.
"Bitte?"
"Nun, abgesehen von den finanziellen Aspekten ein solch gutes Fabrikat zu unterhalten, würde ich ihnen ...", meinte Müller, drehte sich um und zeigte auf ein Fahrzeug einige Reihen entfernt, "... eher zu einem Golf VII von Wanderer empfehlen."
Stille, nur die Geräusche der hupenden Autos waren zu hören - dann hoben sich Ludgers Augenbrauen fragend in die Höhe.
"Ein Wanderer Golf VII?"
"Hochmodern, technisch gesehen eine ungemeine Verbesserung zum Vorgängermodell - und erst knappe 100.000 Kilometer gefahren."
"Ein ... Wanderer?"
Der Verkäufer schaute ihn verdutzt.
"Ja, ein Wanderer. Sie wissen schon, von den gleichen Autoherstellern, die auch den legendären Käfer gebaut haben."
"Ach, diese alte Knutschkugel!" Ludger lachte. "Nein, kein Interesse."
"Lass ihn doch ausreden!", rief Lissy. "Sei doch offen für Alternativen!"
"Da haben Sie völlig Recht, Frau Krieger!" Der Verkäufer nickte ihr zu und wandte sich wieder an Ludger. "Zwei-Liter-Hybrid-Motor mit 115 PS? Automatische Klimaanlage? Nichtraucherfahrzeug? Geringer Co2-Verbrauch? Sportsitze? Schiebedach?"
"Vielen Dank, nein."
"Es hat sogar die grüne EG-4-Plakette - damit können Sie sogar auf die Dominsel fahren."
"Wirklich nicht."
"Hilft es Ihnen, wenn ich betone, dass der Motor ursprünglich von der Porsche AG für eben diese Serie konzipiert wurde?"
"Was hat denn Porsche damit zu tun?"
Der Verkäufer schmunzelte.
"Wissen wirklich die wenigsten Kunden", meinte Müller. "Wanderer hat damals in den Fünfzigern die Motorenpalette von Porsche in Lizenz nachgebaut. Es bestehen immer noch sehr viele Bande zwischen der Volkswagen AG, dem Nachfolger, und Porsche."
Ludger presste die Lippen aufeinander.
"Der Preis?", fragte er, während seine Hände im herbstlichen Wind zu schwitzen begannen.
"Unselige 29.950,- ECU. Ein Schnäpp-"
"Haben Sie vielen Dank!", unterbrach ihn Ludger und zog zu Elisabeths Erstaunen an ihrem
Arm. "Ich werde mir Ihr Angebot durch den Kopf gehen lassen."
"Aber ..."
"Schönen Tag noch!"
In der ruckelnden überfüllten Straßenbahn Richtung Westfalenheim.
Elisabeth und Ludger saßen sich auf einem Zweierplatz gegenüber. Er mit einem betrübten Blick durch die milchige Scheibe neben dem großen Nichtraucherschild auf den ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Platz, der nun Europa-Platz hieß. Sie dagegen verfolgte mit einem glücklichen Gesichtsausdruck die - für diese Jahreszeit untypisch vielen - asiatischen Besucher, die aus der Westseite des Schlosses strömten und ständig mit ihren Kameras am Knipsen waren.
"Ich hoffe, das war es jetzt zu dem Thema?" Sie stupste ihn ans Bein. "Ludger? Ich rede mit Dir?"
Er hörte sie nicht. Draußen auf der Straße neben der Haltestelle in der Mitte. Hupende Autos, grau und monoton. Und mittendrin ein unscheinbarer viertüriger Wagen. Schwarzes Blechkleid mit silbernem Kühlergrill. Darauf der rot-weiße Propeller der Eisenacher Motorenwerke. An den Seiten das Firmenlogo ' DAS Autohaus'.
Das ist er!, dachte Ludger und bemerkte die Scheinwerferabdeckungen, die erhaben und mit einem fiesen Blick die Hecks der anderen Autos anvisierten. Wie schön ...
Die Arme des Probefahrers hingen gelangweilt aus dem offenen Fenster, während sich auf dem Gesicht ein einziger Ausdruck von Missfallen ausgebreitet hatte. Seine Blicke kreisten über den Platz, fanden die Augen des Mannes in der Straßenbahn.
Zwei Männer, die sich durch die Scheiben musterten.
Ich hoffe, Du bringst ihn zurück und meldest, dass er Dir nicht zusagt, dachte Ludger und legte eine Extraportion Grimmigkeit in seinen Blick.
"Ludger?"
Dir gefällt er wirklich nicht, Dir gefällt er nicht, Dir ...
Elisabeth stöhnte, als Sie wieder den eigenartigen Glanz in den Augen ihres Ehegatten bemerkte.
"Nur ein kleines Kind", murmelte Sie, schüttelte den Kopf und tippte ihm ans Bein. "Herr Krieger?"
Er wandte sich überrascht von der Scheibe ab und musterte seine Frau.
"Was ist los?"
"Du willst diesen Wagen unbedingt - oder?"
Erst nachdenken, dann reden, Ludger!
Er schwieg, versuchte sich noch an einer politisch korrekten Antwort, als sie sich schließlich zu ihm hin beugte.
"Ich werde diesen Wagen als Weihnachtsgeschenk nur unter einer Bedingung akzeptieren."
"Die da wäre?"
"Du sagtest doch, Du würdest ihn für uns - Nassira und mir - kaufen, richtig?"
Er runzelte die Stirn.
Worauf will Sie hinaus?
"Ja?"
Ein fieses Lächeln breitete sich wie eine Welle in Lissys Gesicht aus.
"Finde ein anderes Weihnachtsgeschenk für uns, dass den Wagen in den Schatten stellt."
***
24. Dezember
Der Morgen tat sich schwer an diesem Wintertag. Seine goldenen Strahlen brandeten gegen die dichten weißen Wolken, die wie Klötze am Himmel hingen. Bedrohlich und unheilverkündend, während sich ein grünlicher T4-Kastenwagen der Marke Wanderer durch die noch menschenleeren Straßen nordöstlich der Stadt bewegte. Ab und zu verirrten sich die Reifen in kleine Dimpel und scheuchten das Brackwasser verschreckt auf.
Zwei Männer saßen auf den vorderen Plätzen. Ein weißer Vierzigjähriger als Fahrer, der andere dunkler und einige Jahre jünger. Beide starrten durch die Windschutzscheibe nach vorn, lasen jedes Straßenschild doppelt, während aus dem veralteten Lautsprecher eine nasale Stimme die Neuigkeiten verlas.
'... nur noch wenige Tage und die Uhr tickt für die große Verfassungsreformfeier vor dem Brandenburger Tor in Berlin. ARD 2 überträgt die Ansprache des Alt-Neu-Reichs-Bundeskanzlers am 31.12. ab 20:00 Uhr live vor Ort. Und nun aktuelle Meldungen des ODR aus Ostpreußen ...'
"Verdammt, das muss doch hier irgendwo sein", brummte Ludger vom Fahrersitz und fuhr noch ein bisschen langsamer, während Jamal in die seitliche Ablage griff und eine alte Straßenkarte hervorholte.
'Die Volksabstimmung vom vergangenen Sonntag hat folgendes Ergebnis erbracht: Bei einer Wahlbeteiligung von 30% stimmten 61% für das Gesetz. Somit gilt es als sicher, das Ostpreußen als erstes Bundesland das totale Rauchverbot einführen wird, ...'
"Gib es zu, Du hast Dich verfahren, Ludger", schmunzelte der Beifahrer.
"Bestimmt nicht, Jamal", knurrte der Vierzigjährige. "Die Stresemannallee fast bis zum Ende durch, dann kommt irgendwo ein großer alter Platz mit Kopfsteinpflaster."
'Der Initiator der Anti-Rauch-Kampagne - Daniel Rednards - äußerte sich wie folgt: Das Ergebnis spiegelt den ohnmächtigen Zorn der Menschen wider, die seit Jahrhunderten nicht länger gewillt sind, sich dem stickigen, lebensgefährlichen Qualm weiterhin aussetzen zu müssen.'
Jamal faltete die Karte erst auseinander, dann akribisch wieder so zusammen, dass ein kleiner Ausschnitt mit ihrem wahrscheinlichsten Standort übrig blieb.
"Kohlhof - oder?"
'Außerdem sei das Ergebnis ein repräsentatives Spiegelbild der Verhältnisse im übrigen Deutschland. "60% aller Deutschen begrüßen das Verbot, so sagte er. Ostpreußen hat sich entschieden - und Berlin sollte es au-.'
"Was?" Ludger schaltete das Radio aus und zündete sich zufrieden eine Zigarette an. "So, nochmal."
"Ich meinte den Stadtteil."
"Ach so." Er schaute fragend zu Jamal hinüber, während er die Asche aus dem halboffenen Fenster schnippte. "Was ist?"
Der Beifahrer grinste.
"Die letzte?", meinte er und deutete auf die Zigarette. "Die Mehrheit hat entschieden: Bald darf man im ganzen Land nicht mehr rauchen."
"Die Mehrheit", murmelte Ludger und rollte mit den Augen. "Schon klar ..."
Jamal lachte.
"Kannst ja den Weihnachtsmann um eine Revision bitten."
"Der könnte mir bei meinen Geschenken helfen - stattdessen müssen wir wieder mit diesem vermaledeiten Wagen durch die Gegend tuckern!"
"Oha."
Ludger winkte ab und Jamal verstummte, als sie das verblasste Schild einer Seitenstraße musterten.
"Hier", murmelte er plötzlich und bog mit dem alten Kastenwagen ab. "Hier müsste es doch sein ..."
Alte Häuser, die den Krieg überlebt hatten und dennoch schäbig ihr Dasein fristeten, tauchten links und rechts auf. Viele Fenster milchig, an einigen waren die Rolladen heruntergezogen, bei anderen die Hauseingänge mit dicken Brettern vernagelt. Auf dem Bürgersteig verrostete Automobile, deren Fahrtüchtigkeit keine Dekra-Werkstatt Königsbergs mehr überprüfen würde.
"Meine Güte!", meinte Jamal und schaute kopfschüttelnd auf den Unrat, der sich nicht nur neben den Mülleimern angesammelt hatte. "Zum Erholen genau der richtige Ort."
***
13-01-2012, 21:03
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 14-08-2012, 13:02 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Das Antlitz der Häuser verbesserte sich nicht, als die asphaltierte Straße dem alten Kopfsteinpflaster wich. Der Wagen ruckelte sich durch die traurigen alten Autos zu einem großen Platz durch.
Verfallene Geschäfte, vergammelte Schilder mit einst großen Namen wie E.d.K. oder DeFaKa-Filiale Kohlhof hingen traurig herunter. Die Schaufenster warenlos, stattdessen Spinnweben, die sich wie der erstarrte Hauch der Zeit im Inneren ausgebreitet hatte. Selbst die stählernen Kassen hatten seit langer Zeit keine Geldstücke mehr gesehen und rosteten vor sich hin.
"Da ist es doch", knurrte Ludger, schmiss die aufgerauchte Zigarette hinaus und zeigte auf ein einzelnes Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes - das halb verwachsene Denkmal eines Kaisers zu Pferde dazwischen.
"Sollten wir nicht lieber den Reichsgrenzschutz zur Verstärkung anfordern?"
" Bundesgrenzschutz - gewöhn' Dich schon mal dran."
"Dann eben Bundesgrenzschutz." Jamal rollte mit den Augen. "Ist doch nur ein Wort - soviel Unterschied ist da doch nicht."
"Wir brauchen sie nicht", murmelte Ludger und schielte zu seinem Mobiltelephon auf der Ablage.. "Wir machen das selbst."
"Na gut."
Jamal starrte auf die Karte, dann auf die Hausnummer, die nur noch an einer seidenen Schraube hing.
"Stresemannallee 161", nickte er, holte seine Taschenuhr unter der Weste mit der Aufschrift 'Fremdenamt' hervor und schaute auf die beiden Zeiger. "Kurz vor sechs - pünktlich, wie die Stauer."
"Und das heute!" Ludger parkte den Transporter direkt vor der Haustür und drehte den Zündschlüssel in die Ausgangsposition zurück. Der Motor starb einen rasselnden Tod. "Verdammter Mist!"
"Ich frage mich immer noch, wann wir endlich einen neuen Wagen bekommen", meinte Jamal, drehte sich um und schaute durch das kleine Guckloch in den Arrestbereich der Fahrzeugs.
"Ein neuer Wagen?", fragte Ludger, steckte die Handschellen ein, dann stieg er aus. "Von welchem Geld?"
Die Haustür brauchten sie nur aufdrücken - und beinahe wäre sie direkt vor Schreck aus den Angeln gefallen. Dahinter ein Flur und eine Treppe, die seit Jahrzehnten keinen Wischkodder mehr gesehen hatten. Im hinteren Bereich eine Klete, die nicht so aussah, als wären in ihr haltbare Vorräte gelagert. Überall totgetretenes Holz, abgestumpfte Wände. An den Wohnungstüren keine Namensschilder.
"Na, das wird lustig", flüsterte Jamal.
Ludger überlegte.
"Hier soll er sein", murmelte er und klopfte an die Tür links. "Sedar Lavant? Aufmachen, Fremdenamt Königsberg!"
Nichts.
"Sollten wir nicht doch den Reichs- ..., Bundesgrenzschutz rufen?", fragte Jamal.
"Hast Du die Papiere?"
Jamal schaute Ludger erst irritiert an, dann klopfte er auf seine Weste und nickte.
"Alles da."
"Dann mal los."
Ein Tritt, ein Krachen und die Tür flog mit einigen morschen Splittern ins Innere der dunklen Wohnung, aus der ihnen ein muffiger Geruch entgegenströmte.
"Meine Güte ...", rief Jamal und hielt sich die Hände vors Gesicht. "Riecht nach Kuttelfleck - nur ungekocht."
"Noch nie probiert - oder?"
Jamal schüttelte den Kopf.
"Tja", meinte Ludger und trat langsam ins Dunkel. "Irgendwann gewöhnst Du Dich dran."
Der dunkle Flur wirkte wie das Maul eines Drachen mit Mundgeruch, nur ohne Zähne am Boden und der Flurdecke.
"Sedar Lavant?", rief Ludger wieder, während Jamal ihm langsam folgte und flüchtige Blicke in die Zimmer links und rechts warf.
"Wieso haben wir eigentlich keine Waffen?", flüsterte er.
Schlunziges Wohnzimmer, zerwühltes Sofa. Die Küche siechte in einem schimmeligen Duft vor sich hin, während sich Türme von schmaddrigen Töpfen im Waschbecken stapelten.
"Sed-?"
Weiter kam Ludger nicht, aus dem Dunkel vor ihm tauchte eine Gestalt auf, die mit einem Messer in der Hand auf ihn zu rannte.
"IHR KRIEGT MICH NICHT!"
Ludger hob beschwichtigend die Hände, reckte den Kopf zurück als das Messer einen gefährlichen Bogen nahe seines Gesichtes beschrieb - und auf dem Weg zurück zischend die Luft zerteilte.
"IHR ELENDIGEN ...!"
"Herr Lavant ..."
Bevor Sedar erneut Schwung holen wollte, schossen Ludgers Hände vor. Die Linke an Sedars Unterarm, die rechte am schmierigen Nacken. Dann wammste sein rechtes Knie dreimal in den feindlichen Magen und zum Schluss schoss das Bein in Sedars Schritt.
"Herr Lavant, Sie wurden mit Verfügung vom 02.09.2005 aus dem Reichsgebiet ausgewiesen", keuchte Ludger, während seine linke Hand den bebenden Unterarm losließ und blitzschnell am Hinterkopf vorbei Sedars bebende Nase ergriff. "Ihre Möglichkeit der Anhörung haben Sie nicht wahrgenommen."
Ein Ruck zur Seite, das Gesicht flog nach hinten weg und Sedar landete auf dem Bauch.
"Ihr ... verd- AH!", schrie er, als Ludger Sedars linken Arm auf das rechten Bein drückte und überspannte.
"Machen Sie keine Dummheiten, Herr Lavant", knurrte Ludger, presste ihm das linke Knie in den Hals und nickte befriedigend, als Jamal mit den Handschellen nach dem anderen Arm griff. "Ihre Ausweisung ist im Übrigen begründet auf den Handel mit Berauschungsmitteln und Ihrer Verurteilung wegen schwerer unsittlicher Belästigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren."
"Ihr verschissenen kleinen miesen ..."
"Ganz schön widerspenstig ...", murrte Jamal und versuchte die Handschellen einrasten zu lassen.
"Ich verweise auf §36a Absatz 1 des Fremdengesetzes in der Fassung vom 23.11.1956." Ludger ignorierte den zuckenden Körper unter ihm. "Natürlich in Verbindung zu Ihrem Untertauchen, Herr Lavant."
Die Handschellen klickten zweimal, dann griffen beide Beamte unter Sedars Arme und zogen den widerspenstigen Mann vom dreckigen Boden hoch.
"Das können sie nicht machen!", schrie Sedar, während sie ihn ins Freie zerrten. "Ich bin politischer Flüchtling!"
"Das sagen alle Syrer!", rief Jamal. "Außerdem sind wir nicht zum Plaudern hier ..."
"Sie können mich nicht wieder zurückschicken - die bringen mich um!"
"Auch wenn Syrien von israelischen Truppen besetzt ist", keuchte Ludger und öffnete mit der freien Hand die Seitentür des alten Transporters, "ist Israel immer noch ein demokratisch regiertes Land mit fest verankerten Menschenrechten."
"Verdammte Mussolinis!", fauchte Sedar,
"Wir sind keine Faschisten, Herr Lavant!", rief Jamal empört und schubste ihn unsanft in den Wagen.
"WAS DENN DANN?", schrie Sedar. "ETWA FASCHINGSPINGUINE?"
Ludger ließ die Tür wieder geräuschvoll einrasten.
"Wir sind die Weihnachtsmänner."
Einige Minuten später hatte der Transporter mit dem tobenden Sedar Kolthoff verlassen und näherte sich den ersten Ausläufern der Stadt.
"Warum in Gottes Namen müssen wir eigentlich Abschiebungen durchführen?", fragte Jamal.
"Der ist doch harmlos", meinte Ludger. "Und theoretisch dürfen wir uns immer vertrauensvoll an den Reichsgrenzschutz wenden."
Jamal starrte den Fahrer fragend an.
"Was meinst Du mit 'theoretisch'?"
Ludger schmunzelte.
"Der Reichsgrenzschutz ist genauso pleite, wie die Stadt."
"Na, frohe Weihnachten auch." Jamal schaute auf seine Armbanduhr. "Hm."
"Was 'Hm'?"
"Gerichtsanhörung 07:30 Uhr", murmelte der dunkelhäutige Beifahrer. "Abschiebehaftanstalt Charlottenburg Stunde später. Zurück im Rathaus halb zehn."
"Was murmelst Du in Deinen nichtvorhandenen Bart?"
Jamal seufzte.
"Kann ich mir den Wagen ausleihen?", fragte er. "Ich muss noch ein paar dringende Besorgungen machen. Und der VfB-Fanshop wird wieder voll sein."
Ludger schaute ihn mit einem skeptischen Blick von der Seite an.
"Ich dachte, Du hast eine Dauerkarte?"
"Ja, schon", meinte Jamal und stöhnte. "Aber seitdem sie Herbstmeister geworden sind, will jetzt jeder nächstes Jahr ins Stadion."
"Ich bin der letzte, der jemanden vom Fußball abhält", brummte Ludger und hob die Hand, als sein Gegenüber sich bedanken wollte. "Schon gut, aber sag den Jungs vom Fahrdienst Bescheid - nicht, dass es nachher wieder Ärger gibt."
"Soll ich Dich irgendwo absetzen?"
Ludger schmunzelte als sein Mobiltelephon vibrierte.
"Jetzt nicht mehr", sagte er zufrieden, als er die neue Nachricht gelesen hatte.
Die Stadt schien noch zu schlafen, als der Nordbahnhof mit dem Eingang der Ostmesse im Hintergrund auf der linken Seite auftauchte. Der Vorplatz vor den kantigen Säulen des Haupteingangs verwaist. Rechts in der Bäckerei wurden die nächsten Brötchen hinter dem Schaufenster platziert, links im Kiosk blickte der Besitzer traurig von seiner Hartungschen Zeitung mit der Überschrift ' Endlich Rauchfrei!' auf, als sie mit ihrem alten Kastenwagen vorbeifuhren.
"Das hat aber gedauert", meinte Jamal und gähnte. "Dass die Leute den Richter immer derart zusetzen müssen."
"Es geht ja schließlich um ihr Lotterleben", knurrte Ludger. "In ihrem Heimatland können sie nicht die Füße hochlegen. Und für Nichtstun werden sie da auch nicht 'belohnt'."
Sie bogen am großen grauen Gebäude der Stadtverwaltung nach rechts ab und folgten dem Hinweisschild zum Parkplatz.
"Naja, bei den Vorstrafen hatte er sowieso keine guten Karten", meinte Jamal und beobachtete die dunklen Fenster. "Wieso sind wir eigentlich die einzigen Deppen, die Heiligabend arbeiten müssen?"
"Daran gewöhnst Du Dich noch", antwortete Ludger, als er auf den Parkplatz fuhr. Nur ein einziges Auto wartete vor dem Hintereingang des Gebäudes. Ein Mann saß auf dem linken Kotflügel und schien zu warten.
"Das ist doch Dein Bruder", meinte Jamal, als sie neben einem schwarzen EMW anhielten. "Schickes Auto."
"Nicht vergessen", meinte Ludger und tippte auf das Glas seiner Armbanduhr. "Heute Abend 20 Uhr - compris?"
Ludger stand neben Ariberth und grinste den EMW an, als Jamal mit dem alten Kastenwagen stotternd um die Ecke verschwand.
"Wunderschön", hauchte er. Hinten am Kofferraum prangte der rot-weiße Propeller der Eisenacher Motorenwerke, darunter das amtliche Kennzeichen ' KP-LK 1965'. Über der rechten Heckleuchte war ein silbernes '330 xd' angebracht.
Der schwarze Lack glänzte im morgendlichen Licht, als er langsam um den Wagen herumging und sich alles genau anschaute. Der silberne Kühlergrill, die Scheinwerfer, die aussahen wie müde Augen.
"Es ist genau der, den Du wolltest", meinte Ariberth und schmunzelte. "Mittelarmlehne, Sitzheizung, der ganze Schnickschnack. Bezahlt hab ich ihn schon; reden wir aber nachher drüber."
"Mein erstes eigenes Auto." Ludger öffnete die Fahrertür und warf einen Blick hinein. Schwarzer Stoffbezug, die Mittelarmlehne, der zum Glück noch eingebaute Aschenbecher, die Klimaanlage. "Außerdem weiß ich nicht, was Du willst - Du hattest sogar einen Porsche am Anfang!", meinte Ludger, strich erst vorsichtig über den dunklen Stoff, dann schaltete er das Radio ein.
'... ben wurde bestätigt, dass sich der Arbeitsgemeinschaft 'Neues Eden' nun auch die Zuse-Siemens AG angeschlossen hat, die unter anderem die technischen Komponenten entwickeln wird.'
Ariberth winkte ab.
"Unwichtig", meinte er und beugte sich zu Ludger. "Wichtiger ist, dass es mit Lissy Weihnachtsbedingung geklappt hat."
'Der Sprecher der Sarynischen Schiffswerften bestätigte, dass dadurch der vorgesehene Baubeginn des ersten interstellaren Raumschiffs der Menschheit planmäßig eingehalten werden könnte.'
Ludger starrte ihn an.
"Es hat geklappt?"
'Weiterhin gilt es als gesichert, dass das Schiff den Namen Daniel Defoe erhalten wird.'
Sein Bruder lachte.
"Ja, Du brauchst den Wagen nicht verstecken. Sie wird jetzt bestimmt nichts mehr dazu sagen können!"
'Und nun das Wetter für Ostpreußen ...'
Ludger strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
"Danke!"
"Bedank Dich beim richtigen Weihnachtsmann", schmunzelte Ariberth. "Der ist garantiert EMW-Fan und hat ein Faible für Dich, ansonsten kann ich es mir nicht erklären, dass alles so reibungslos funktioniert hat."
***
Fernab des sterbenden Jahres ...
Die Vorhänge vor den Fenstern ließen das Tageslicht kaum herein; Stille beherrschte den Raum und die Landschaftsbilder an der weißen Wand, während das Zwielicht sich von der Decke herab senkte und die Gesichter der zwölf Männer verdeckte, die angespannt auf ihren Stühlen saßen.
Volle Wassergläser neben Papierbergen auf dem Tisch vor ihnen, doch niemand wagte einen Schluck.
"Der nächste!", bellte der Mann am Kopfende und tippte nervös mit dem Stift auf seiner Armlehne.
Eine Stimme am anderen Ende räusperte sich und beugte seinen Kopf über die Akten vor ihm.
"Die ..., die Umsetzung der Verfassungsreform ist planmäßig verlaufen", nuschelte er. "Alle vorgeschlagenen Punkte wurden soweit eingearbeitet."
"Soweit? Gab es Probleme?"
"Nein, unsere Mitarbeiter in den Ministerien sind über jeden Zweifel erhaben."
"Aber?"
"Es ... war trotz allem schwer, den Ausschuss ... zu überzeugen."
Der Stift hörte für einen Moment auf, an die Armlehne zu tippen.
"Dann sollten Sie Ihre Überzeugungskünste überdenken, verstanden?"
Stille, umgeben von Schweiß und unsicherer Angst.
"Weiter!", sagte der Mann am Kopfende und schaute zum Nächsten. "Herr Berksin, wenn ich mich nicht täusche?"
"Ja, ..." Ein Mann mit einer kleinen Brille schreckte hoch. "Einen Moment ..."
"Heute noch!"
Zittrige Finger griffen nervös nach den Papieren.
"Das, ..., das Projekt, ja." Er seufzte, als er das fragliche Schriftstück gefunden hatte. "Es ist bereits öffentlich, dass die Zuse-Siemens AG sich an der Arbeitsgemeinschaft 'Neues Eden' beteiligen wird."
"Berksin!"
"Ja, nun ... Unseren Entwicklungsteams ist es gelungen, bauähnliche Generatoren herzustellen, aber die Resultate sind nicht zufriedenstellend."
Arstroms Stift hörte wieder auf zu tippen.
"Wir brauchen diese Technologie, und zwar zwingend."
"Zuse-Siemens ist leider sehr erfolgreich darin, Ihre Errungenschaften unseren Blicken zu entziehen."
"Das ist inakzeptabel", knurrte er, dann zog sich ein künstliches Lächeln durch sein Gesicht. "Sie hatten jetzt lange genug Zeit, Berksin."
"Nein ... Herr Arstrom!" Der Mann mit der Brille schüttelte fassungslos den Kopf. "Ich werde die Probleme in den Griff bekom-!"
Arstrom hob die Hand und unterbrach Berksin.
"Raus!", zischte er und zeigte auf die Tür, die sich bereits öffnete. Dahinter zwei grimmig dreinschauende Männer in schwarzen Anzügen, die grußlos hereintraten und Berksin hinausführten.
"Wer ist der Nächste?", fragte Arstrom und fing mit dem Stift wieder an zu tippen.
Schweigende Mienen, die den verwaisten Stuhl in ihrer Mitte ignorierten und stumm auf den Tisch blickten. Dann hob ein hagerer dünnlippiger Mann die Hand.
"Das bin ich."
"Fein. Wie sieht mit unserer Gesundheit aus, Rijkaard?"
Der Mann presste die Lippen zusammen.
"Das Reichsforschungszentrum hat die statistischen Auswertungen abgeschlossen."
"Besser."
"Wir haben eine gesicherte Aussagekraft über 3000 Todesfälle pro Jahr in Deutschland."
Stille, dann beugte sich Arstrom vor.
"Wieviel?", zischte er. "3000 auf über 80 Millionen Einwohner ist ein Witz, Rijkaard!"
"Wir haben akribisch gearbeitet, das versichere ich Ihnen."
"Rednards hätte das besser hinbekommen!"
"Wir sind schon am Lim-"
Rijkaard verstummte, als Arstrom plötzlich seinen Stuhl nach hinten rückte und aufstand. Niemand wagte es aufzuschauen, als er zu dem dünnlippigen Mann trat und sich zu den Papieren herunterbeugte.
Für eine Sekunde starb jeder Gedanke, dann senkte sich der Stift auf das Papier und schrieb hinter die Zahl 3000 noch drei weitere Nullen.
" Das Ergebnis will ich haben, verstanden Rijkaard?", zischte er ihm ins Ohr, dann erhob er sich und nickte zu den anderen.
"Es reicht mir für heute - sie können gehen."
Einige Sekunden später stand nur noch Arstrom im Raum. Der Tisch leer, die Stühle hastig zurückgeschoben. Er schüttelte wütend den Kopf, trat an die Wand und schob eines der Landschaftsbilder zur Seite. Dahinter ein eingeschalteter Monitor, der mit der Mauer verbunden war. Im Bild war ein ein riesiger Ledersessel von hinten zu erkennen, der in einem ebenfalls dunklen Raum stand. Davor eine weite Leinwand, auf der die unterschiedlichsten Fernsehprogramme zu sehen waren.
"Signore?", fragte Arstrom. "Sind Sie da?"
"Ich bin immer da", rauschte eine alte Stimme aus dem Monitor.
"Es tut mir Leid ..."
"Das braucht es nicht. Berksin wird im Gulag viel Zeit haben, über seine Fehler nachzudenken." Die Stimme lachte hämisch. "Obwohl es das dort nicht gibt: viel und Zeit."
"Aber die Generatoren ..."
Das Lachen erstarb.
"Gehen Sie zu Plan 21 über", murmelte die Stimme. "Ich warte schon so lange, da kommt es auf ein paar Jahre nicht an."
"Sind Sie sicher?"
Ein Kichern schwappte aus dem Monitor.
"Vorfreude ist schließlich die schönste Freude", sagte die Stimme. "Freuen Sie sich darüber, dass die glorreiche Gesellschaft gerade damit beginnt, sich selbst zu zerfleischen." Ein gackerndes Lachen schoss aus dem Lautsprecher. "Und dann, wenn sie nichts mehr hat, wenn sie am Boden liegt, wehrlos, unfähig sich wieder zu erheben - dann, Arstrom, dann zerfleischen WIR sie."
"Ich kann es kaum erwarten."
"Geduld ist eine Tugend. Jetzt sind erstmal die Raucher dran. Nächstes Jahr geht es planmäßig weiter. Und bis dahin: Frohe Weihnachten."
"Das wünsche ich Ihnen auch, Signore."
Ende
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