Anita gehörte zu keiner dieser Frauen, deren Reize sich auf den ersten Blick erschlossen. Von Natur aus mit einem grimmigen Blick gesegnet, machte sie auch das Interesse derjenigen sofort zunichte, die nicht von ihrer Eierfigur abgeschreckt wurden.
Darum wunderte sie sich, wie es gekommen war, dass der Frauenschwarm des Fitnesscenters, dem sie seit kurzem eine monatliche Spende überwies, gerade sie auf einen Kaffee eingeladen hatte. Der Ausdruck in den neiderblassten Gesichtern der anderen Frauen war reiner Balsam für sie, die selbst mit eingezogenem Bauch kaum an die sanduhrförmigen Kurven ihrer Mitstreiterinnen reichte. In diesem Augenblick, in dem ein Mann ihr den Vorzug gegenüber den Hungergestalten gab, hatte sich sogar der Anflug eines Lächelns in Anitas sonst so starre Miene verirrt.
Der Frauenschwarm des Fitnesscenters stellte sich als Samuel vor, dessen durchtrainierter Körperbau nicht das Einzige war, für das sich zu schwärmen lohnte, wie Anita nach zwei Tassen Kaffee und einem Stück Kuchen feststellen durfte. Er erwies sich als äußerst charmant und kultiviert und schenkte der blonden Bedienung keinerlei Beachtung, gleich, wie sehr diese sich auch verrenkte, um ihr Dekolletee in den richtigen Winkel zu rücken. Statt einen Blick in die Hügellandschaft des Mt. ‚Darf es noch etwas sein?‘ zu riskieren, hörte er ihr fasziniert zu, wie sie eine Anekdote ihres Katers preisgab, der in den letzten Jahren der einzige Mann in ihrem Leben gewesen war. Diese Randinformation sparte sie allerdings aus.
Eines führte zum anderen, aus dem Kaffee wurde ein Abendessen, aus dem Abendessen regelmäßige Treffen, die bald in leidenschaftlichen Abschiedsküssen ihren Ausklang fanden. Zwei Monate später und Anita war im Fitnesscenter nur noch als die Frau bekannt, die sich den Leckerbissen von der Gewichtbank gekrallt hatte. Von ihrem Ruf wusste Anita aber nichts, denn seit sie sich mit Samuel traf, nahm sie es mit ihrer Mitgliedschaft nicht mehr so genau. Samuel meinte nämlich, dass sie so wie sie war, perfekt war.
Bereits da hätte sie alarmiert sein sollen.
Eine temporäre Geschmacksverirrung, die Samuels Interesse an ihr erklärte, lag noch im Bereich des Erklärbaren. Dass ihr eingedellter Sack von einem Körper aber perfekt sein sollte, durfte nicht mehr als Schmeichelei gelten, das grenzte bereits an einer ganz frechen Lüge.
So kam es also, dass Anita nach zwei Monaten ihre erste Nacht bei Samuel verbrachte und sich fragte, was dazu geführt hatte, dass jemand wie er mit jemandem wie ihr zusammen war.
Sie rechnete noch immer jeden Moment damit, dass er ihre gemeinsame Zeit als eingelöste Wettschulden aufdeckte. Doch er blieb stets der hilfsbereite Gentlemen, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas. Cola und Popcorn waren es bis jetzt gewesen, denn sie verbrachten Halloween mit einem schaurigen Filmabend. Die Nachrichten aus dem Vorabendprogramm schienen ganz unter dem Blut- und Horrorstern zu stehen. Sie berichteten überwiegend von Terroranschlägen und anderen Gewaltverbrechen, die sich ebenso in Anitas Nachbarschaft ereignen hätten können. Neuester Vorfall war das Verschwinden einer Verkäuferin in Anitas Alter, das der Polizei Rätsel aufgab. Das Führerscheinfoto einer untersetzten Frau mit etwas schiefsitzenden Augen wurde eingeblendet mit der Bitte um sachdienliche Hinweise.
Gott sei Dank, ist mir das nicht passiert!, war alles, was Anita dachte und rückte näher an Samuel, der sie mit Sicherheit vor jedem Angreifer beschützen würde.
Wieso eigentlich sie? Wieso keine der anderen Frauen, die viel mehr zu seinem Typ passte? Sexy und tiptop gestylt.
Verdrießlich schnaubte sie. Das ging jetzt schon wochenlang so, dass sie keine fünf Minuten Samuels Nähe genießen konnte, ohne sofort alles in Zweifel zu ziehen.
„Woran denkst du? Du machst wieder diese Schnute“, weckte Samuel sie aus ihrer Abendträumerei und kicherte verspielt, als sie ihn nur mit offenem Mund anstarrte. Jemand anderer hätte ihre Geistesabwesenheit als unhöflich empfunden, Samuel aber amüsierte sie.
Komischer Kauz.
„Ich mache uns etwas zu essen. Was hältst du von Pizza?“, schlug er vor und erhob sich von der Couch. Nach der zweiten Schüssel Popcorn hatte sie sich nicht mehr getraut, nach Nachschlag zu fragen. Ihr Bauch hatte das für sie übernommen und grummelte nun lautstark vor sich hin. Samuel hatte sofort reagiert, ohne sie als Nimmersatt darzustellen.
Sie hatte wirklich Glück mit ihm.
Hungrig blieb sie im Wohnzimmer zurück, auf ihren Freund wartend, der ihr das Abendessen servierte. Sie konnte sich kein besseres Abendprogramm vorstellen.
Ihren Blick zog es durch das Fenster in die klare Nacht hinaus. Der Himmel war genauso sternenarm wie eine ausgeblutete Leiche blutarm. Hoppla, woher hatte sie dieses Bild? Sie schob es auf den Stapel DVDs vor sich, deren Covergestaltung auf Blutflecken und Leichenteilen basierte. Perfekte Auswahl. Bei der einen oder anderen Szene könnte sie sich unauffällig an Samuel schmiegen und Schutz in seinen starken Armen finden. Wie beiläufig überflog sie den Klappentext einer der Filme und verlor sogleich die Lust an einem Schmusemanöver. Da war die Rede von einem Serienmörder, der reihenweise seine Opfer aus der Bar direkt auf seine Schlachtbank führte.
Wer sagte ihr, dass Samuel nicht vom selben Schlag war? Was waren schon zwei Monate? Kannte sie ihn wirklich gut genug, um die Nacht bei ihm zu verbringen?
Wieso brauchte er überhaupt so lange in der Küche? Wetzte er bereits die Messer?
„Kann ich dir helfen, Liebling?“, flötete sie mit ihrer liebreizendsten Stimme, um sich ja nichts anmerken zu lassen.
„Das kannst du tatsächlich.“
Sie wusste nicht, ob das die Antwort war, die sie sich erhofft hatte. Vermutlich wartete er bereits darauf, dass sie ihm in die Falle ging. Sie hätte ihn nicht vorwarnen dürfen, sondern ihn in flagranti erwischen müssen, wie er sein Fünf-Gänge-Menü à la Anita plante.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen, das längst nicht mehr Hunger war, stand sie auf. In ihrem Kopf arbeitete es, irgendetwas von der Einrichtung am Weg zur Küche als Waffe verwenden zu können, doch nichts war zu gebrauchen. Samuel hatte wirklich an alles gedacht, um sich leichtes Spiel zu machen.
Die wievielte Leichtgläubige auf seiner Liste war sie wohl, die seinem Charme erlegen war?
Sie spürte plötzlich etwas Feuchtes an ihrem Socken. Nichts Böses ahnend sah sie zu Boden. Vor ihren Füßen erstreckte sich eine schmale Blutspur, die geradewegs in die Küche führte.
Wenigstens die Zeit zum Saubermachen hätte er sich nehmen können.
„Was brauchst du denn so lange?“
Mit einem spitzen Schrei wich sie vor ihm zurück und schnappte sich den erstbesten Gegenstand, mit dem sie auf ihn einprügeln konnte. Auch wenn es nur die Tageszeitung war.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid!“, beschwichtigte er sie, erkannte da ihre roten Socken, „du bist ja in die Tomatensauce getreten! Ich hab wohl etwas gepatzt.“
„Tomatensauce?“, wiederholte sie lahm. Skeptisch beäugte sie ihre Sohle, während sie noch immer die Zeitung gegen ihn gestreckt hielt. Tatsächlich entpuppte sich das klebrige Rot als nichts anderes als Grundzutat einer Pizza. Samuel war fürs Erste entlastet.
„Ich wisch das auf, dann bringe ich dir Hausschuhe. Willst du inzwischen ins Bad und die Socken auswaschen?“
Zuvorkommend und aufmerksam, Anita konnte sich wirklich glücklich schätzen. Wobei zu zuvorkommend auch wieder verdächtig war.
„Gut, du musst mir nur noch das Badezimmer zeigen“, erwiderte sie zuckersüß und lies sich zur Tür am Ende des Flurs schicken. Samuel wohnte in einem einstöckigen Reihenhaus. Mit Keller. Genügend Türen also, die entweder seine Unschuld bekräftigen oder ihn als Besitzer einer Schlachtbank enttarnen könnten.
Den Anfang machte sie mit seinem Badezimmer, das erstaunlich rein für einen Junggesellen gehalten war. Reiner als ihr eigenes. Außer ein schlechtes Gewissen ob ihrer mangelhaften Fähigkeiten im Haushalt fand sie hier nichts.
Samuel hatte die Hausschuhe auf den Gang gestellt und war nun mit dem Belegen der Pizza beschäftigt, also hätte sie noch etwas Zeit, das Haus auszukundschaften. Im Erdgeschoß befanden sich nur noch eine Abstellkammer und sein Arbeitszimmer. Sie musste sich schnell entscheiden, in welchem Stockwerk sie ihre Suche fortsetzen sollte. Wo würde ein Serienkiller am ehesten belastendes Material aufbewahren? Im Schlafzimmer oder im Keller?
Jeder Horrorfilm gab die Antwort auf diese Frage.
Anders als in den gängigen Klassikern war der Weg in den Keller gut beleuchtet und hatte nichts von einer modrigen Folterkammer.
Na gut, wenn Samuel wirklich ein Serienkiller war, der seine Opfer hierher verschleppte, wäre er auch dumm gewesen, nicht dafür zu sorgen, dass die Beleuchtung funktionierte. Immerhin wäre er es gewesen, der sich den Kopf im Dunkeln anschlug oder die Treppe hinunterfiel, wenn er dabei war eine seiner Geiseln auf der Flucht wieder einzufangen. Dass hier kein Staubkorn zu finden war, war auf seinen Putzfimmel zurückzuführen, der daher rühren könnte, jede DNA-Spur seiner Opfer zu vernichten.
Mit angehaltenem Atem schob sie sich die Mauer entlang, die zur einzigen Tür im Keller führte.
Was sich dahinter wohl verbarg? Anita hatte eine vage Ahnung.
Sie wusste viel zu wenig von Samuel, von dem sie nicht behaupten konnte, ihn nach zwei Monaten gut zu kennen. Dabei war ihr Verlangen nach ihm so groß, dass sie manchmal daran drohte zu verbrennen. Ob er sie auch bald dazu brachte, um ihr Leben zu rennen? Der nächste Schritt wäre dann, ihre Kehle zu durchtrennen.
„Hör auf zu denken!“, befahl sie sich mit eiserner Entschlossenheit und versuchte die Gänsehaut wegzurubbeln, die ihr der kalte Beton und ihr sehr makabres Kopfkino beschert hatten.
Was tat sie hier eigentlich? Sie war einer haltlosen Eingebung gefolgt und machte sich nun auf die Suche nach Beweisen, die ihren Freund als Psychopathen überführten, nur weil sie nicht wahrhaben wollte, dass sich jemand in sie verlieben könnte?
War sie nicht vielmehr die Verrückte?
„Was tust du denn hier unten?“, ertönte Samuels Stimme hinter ihr. Wieder entfuhr ihr ein Schrei, diesmal fehlte ihr aber die Zeitung als Verteidigung.
Sie musterte ihn skeptisch von oben bis unten und sprang schließlich über ihren Schatten. Die ganze Aktion war lächerlich gewesen. Sie musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass sie einen netten und aufrichtigen Mann gefunden hatte, der sie mochte.
„Ach weißt du ...“, fing sie seufzend an und erzählte ihm von ihren haltlosen Unterstellungen, damit er auch genau wusste, auf wen er sich einließ. Zwar riskierte sie damit, ihn wieder in die Flucht zu schlagen, doch von nun an spielte sie mit offenen Karten. Samuel hatte ihr beigebracht, zu ihrem Körper zu stehen, also konnte sie auch zugeben, dass sie eine leidenschaftliche Dramaqueen mit einem latenten Hang zur Paranoia war.
„Du bist unglaublich, Anita“, lachte er herzlich auf und war zu ihrem Erstaunen kein bisschen verletzt oder wütend, „du bist einzigartig. Das ist einer der Gründe, wieso ich dich angesprochen habe. Stellt dich diese Antwort etwas zufrieden? Können wir nun endlich den Filmabend genießen?“
Er verstand es, sie sich gut fühlen zu lassen, dennoch war da noch eine gewisse Unruhe, die unbedingt aus der Welt geschafft werden musste.
„Wir können gleich mit dem Filmabend beginnen. Sei mir aber bitte nicht böse, wenn ich noch eine kleine letzte Bitte an dich habe“, wandte sie kleinlaut ein.
„Für dich alles“, erwiderte er überschwänglich.
„Zeigst du mir, was hinter dieser Tür ist?“, fragte sie zögernd und deutete zu dem Punkt, der ihrer Fantasie die letzte Viertelstunde genügend Futter für einen zentnerschweren Wälzer gegeben hatte.
„Wenn es weiter nichts ist“, erklärte sich Samuel sofort bereit und ging zum Ende des Ganges. Er drückte die Klinke hinunter, ein lautes Knacken ertönte, die Tür federte nach hinten und gab die Sicht auf einen voll geräumten Trainingsraum frei. Da war weit und breit keine Schlachtbank, dafür eine Gewichtbank, ein Laufband und noch allerhand Gerätschaften, deren Namen sie nicht kannte.
Erleichtert atmete sie auf und schalt sich ein weiteres Mal ob ihrer Paranoia.
„Ab auf die Couch?“, zwinkerte Samuel ihr zu.
„Ab auf die Couch!“ Noch nie war sie glücklicher gewesen, sie hatte auch allen Grund dazu. Eine Frau in den besten Jahren, einen Job, in dem sie gut verdiente und einen Freund, der geduldig ihre Marotten ertrug.
Der Abend gestaltete sich um einiges ruhiger und angenehmer, als er begonnen hatte. Anita nützte die Gruselmomente, um daraus unvergessliche Momente der Zweisamkeit zu machen. Die schrillen Hilfeschreie und das spritzende Kunstblut nahm sie gar nicht wahr, sie hatte nur Augen für Samuel, der auch längst auf die Horrorstreifen vergessen hatte.
Weil Anita auch keine dieser Frauen war, die bei der erstbesten Gelegenheit mit dem Mann ins Bett hüpften, zog sie es vor die Nacht auf der Couch zu verbringen. So würde Anita nie den Führerschein zu Gesicht bekommen, der flüchtig im Nachttisch neben der Schlafzimmertür verstaut war. Auf dem Lichtbild, das zur Hälfte aus der Schublade ragte, lächelte eine leicht schielende Frau, die genau wusste, welches Glück Anita mit Samuel hatte.
Darum wunderte sie sich, wie es gekommen war, dass der Frauenschwarm des Fitnesscenters, dem sie seit kurzem eine monatliche Spende überwies, gerade sie auf einen Kaffee eingeladen hatte. Der Ausdruck in den neiderblassten Gesichtern der anderen Frauen war reiner Balsam für sie, die selbst mit eingezogenem Bauch kaum an die sanduhrförmigen Kurven ihrer Mitstreiterinnen reichte. In diesem Augenblick, in dem ein Mann ihr den Vorzug gegenüber den Hungergestalten gab, hatte sich sogar der Anflug eines Lächelns in Anitas sonst so starre Miene verirrt.
Der Frauenschwarm des Fitnesscenters stellte sich als Samuel vor, dessen durchtrainierter Körperbau nicht das Einzige war, für das sich zu schwärmen lohnte, wie Anita nach zwei Tassen Kaffee und einem Stück Kuchen feststellen durfte. Er erwies sich als äußerst charmant und kultiviert und schenkte der blonden Bedienung keinerlei Beachtung, gleich, wie sehr diese sich auch verrenkte, um ihr Dekolletee in den richtigen Winkel zu rücken. Statt einen Blick in die Hügellandschaft des Mt. ‚Darf es noch etwas sein?‘ zu riskieren, hörte er ihr fasziniert zu, wie sie eine Anekdote ihres Katers preisgab, der in den letzten Jahren der einzige Mann in ihrem Leben gewesen war. Diese Randinformation sparte sie allerdings aus.
Eines führte zum anderen, aus dem Kaffee wurde ein Abendessen, aus dem Abendessen regelmäßige Treffen, die bald in leidenschaftlichen Abschiedsküssen ihren Ausklang fanden. Zwei Monate später und Anita war im Fitnesscenter nur noch als die Frau bekannt, die sich den Leckerbissen von der Gewichtbank gekrallt hatte. Von ihrem Ruf wusste Anita aber nichts, denn seit sie sich mit Samuel traf, nahm sie es mit ihrer Mitgliedschaft nicht mehr so genau. Samuel meinte nämlich, dass sie so wie sie war, perfekt war.
Bereits da hätte sie alarmiert sein sollen.
Eine temporäre Geschmacksverirrung, die Samuels Interesse an ihr erklärte, lag noch im Bereich des Erklärbaren. Dass ihr eingedellter Sack von einem Körper aber perfekt sein sollte, durfte nicht mehr als Schmeichelei gelten, das grenzte bereits an einer ganz frechen Lüge.
So kam es also, dass Anita nach zwei Monaten ihre erste Nacht bei Samuel verbrachte und sich fragte, was dazu geführt hatte, dass jemand wie er mit jemandem wie ihr zusammen war.
Sie rechnete noch immer jeden Moment damit, dass er ihre gemeinsame Zeit als eingelöste Wettschulden aufdeckte. Doch er blieb stets der hilfsbereite Gentlemen, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas. Cola und Popcorn waren es bis jetzt gewesen, denn sie verbrachten Halloween mit einem schaurigen Filmabend. Die Nachrichten aus dem Vorabendprogramm schienen ganz unter dem Blut- und Horrorstern zu stehen. Sie berichteten überwiegend von Terroranschlägen und anderen Gewaltverbrechen, die sich ebenso in Anitas Nachbarschaft ereignen hätten können. Neuester Vorfall war das Verschwinden einer Verkäuferin in Anitas Alter, das der Polizei Rätsel aufgab. Das Führerscheinfoto einer untersetzten Frau mit etwas schiefsitzenden Augen wurde eingeblendet mit der Bitte um sachdienliche Hinweise.
Gott sei Dank, ist mir das nicht passiert!, war alles, was Anita dachte und rückte näher an Samuel, der sie mit Sicherheit vor jedem Angreifer beschützen würde.
Wieso eigentlich sie? Wieso keine der anderen Frauen, die viel mehr zu seinem Typ passte? Sexy und tiptop gestylt.
Verdrießlich schnaubte sie. Das ging jetzt schon wochenlang so, dass sie keine fünf Minuten Samuels Nähe genießen konnte, ohne sofort alles in Zweifel zu ziehen.
„Woran denkst du? Du machst wieder diese Schnute“, weckte Samuel sie aus ihrer Abendträumerei und kicherte verspielt, als sie ihn nur mit offenem Mund anstarrte. Jemand anderer hätte ihre Geistesabwesenheit als unhöflich empfunden, Samuel aber amüsierte sie.
Komischer Kauz.
„Ich mache uns etwas zu essen. Was hältst du von Pizza?“, schlug er vor und erhob sich von der Couch. Nach der zweiten Schüssel Popcorn hatte sie sich nicht mehr getraut, nach Nachschlag zu fragen. Ihr Bauch hatte das für sie übernommen und grummelte nun lautstark vor sich hin. Samuel hatte sofort reagiert, ohne sie als Nimmersatt darzustellen.
Sie hatte wirklich Glück mit ihm.
Hungrig blieb sie im Wohnzimmer zurück, auf ihren Freund wartend, der ihr das Abendessen servierte. Sie konnte sich kein besseres Abendprogramm vorstellen.
Ihren Blick zog es durch das Fenster in die klare Nacht hinaus. Der Himmel war genauso sternenarm wie eine ausgeblutete Leiche blutarm. Hoppla, woher hatte sie dieses Bild? Sie schob es auf den Stapel DVDs vor sich, deren Covergestaltung auf Blutflecken und Leichenteilen basierte. Perfekte Auswahl. Bei der einen oder anderen Szene könnte sie sich unauffällig an Samuel schmiegen und Schutz in seinen starken Armen finden. Wie beiläufig überflog sie den Klappentext einer der Filme und verlor sogleich die Lust an einem Schmusemanöver. Da war die Rede von einem Serienmörder, der reihenweise seine Opfer aus der Bar direkt auf seine Schlachtbank führte.
Wer sagte ihr, dass Samuel nicht vom selben Schlag war? Was waren schon zwei Monate? Kannte sie ihn wirklich gut genug, um die Nacht bei ihm zu verbringen?
Wieso brauchte er überhaupt so lange in der Küche? Wetzte er bereits die Messer?
„Kann ich dir helfen, Liebling?“, flötete sie mit ihrer liebreizendsten Stimme, um sich ja nichts anmerken zu lassen.
„Das kannst du tatsächlich.“
Sie wusste nicht, ob das die Antwort war, die sie sich erhofft hatte. Vermutlich wartete er bereits darauf, dass sie ihm in die Falle ging. Sie hätte ihn nicht vorwarnen dürfen, sondern ihn in flagranti erwischen müssen, wie er sein Fünf-Gänge-Menü à la Anita plante.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen, das längst nicht mehr Hunger war, stand sie auf. In ihrem Kopf arbeitete es, irgendetwas von der Einrichtung am Weg zur Küche als Waffe verwenden zu können, doch nichts war zu gebrauchen. Samuel hatte wirklich an alles gedacht, um sich leichtes Spiel zu machen.
Die wievielte Leichtgläubige auf seiner Liste war sie wohl, die seinem Charme erlegen war?
Sie spürte plötzlich etwas Feuchtes an ihrem Socken. Nichts Böses ahnend sah sie zu Boden. Vor ihren Füßen erstreckte sich eine schmale Blutspur, die geradewegs in die Küche führte.
Wenigstens die Zeit zum Saubermachen hätte er sich nehmen können.
„Was brauchst du denn so lange?“
Mit einem spitzen Schrei wich sie vor ihm zurück und schnappte sich den erstbesten Gegenstand, mit dem sie auf ihn einprügeln konnte. Auch wenn es nur die Tageszeitung war.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid!“, beschwichtigte er sie, erkannte da ihre roten Socken, „du bist ja in die Tomatensauce getreten! Ich hab wohl etwas gepatzt.“
„Tomatensauce?“, wiederholte sie lahm. Skeptisch beäugte sie ihre Sohle, während sie noch immer die Zeitung gegen ihn gestreckt hielt. Tatsächlich entpuppte sich das klebrige Rot als nichts anderes als Grundzutat einer Pizza. Samuel war fürs Erste entlastet.
„Ich wisch das auf, dann bringe ich dir Hausschuhe. Willst du inzwischen ins Bad und die Socken auswaschen?“
Zuvorkommend und aufmerksam, Anita konnte sich wirklich glücklich schätzen. Wobei zu zuvorkommend auch wieder verdächtig war.
„Gut, du musst mir nur noch das Badezimmer zeigen“, erwiderte sie zuckersüß und lies sich zur Tür am Ende des Flurs schicken. Samuel wohnte in einem einstöckigen Reihenhaus. Mit Keller. Genügend Türen also, die entweder seine Unschuld bekräftigen oder ihn als Besitzer einer Schlachtbank enttarnen könnten.
Den Anfang machte sie mit seinem Badezimmer, das erstaunlich rein für einen Junggesellen gehalten war. Reiner als ihr eigenes. Außer ein schlechtes Gewissen ob ihrer mangelhaften Fähigkeiten im Haushalt fand sie hier nichts.
Samuel hatte die Hausschuhe auf den Gang gestellt und war nun mit dem Belegen der Pizza beschäftigt, also hätte sie noch etwas Zeit, das Haus auszukundschaften. Im Erdgeschoß befanden sich nur noch eine Abstellkammer und sein Arbeitszimmer. Sie musste sich schnell entscheiden, in welchem Stockwerk sie ihre Suche fortsetzen sollte. Wo würde ein Serienkiller am ehesten belastendes Material aufbewahren? Im Schlafzimmer oder im Keller?
Jeder Horrorfilm gab die Antwort auf diese Frage.
Anders als in den gängigen Klassikern war der Weg in den Keller gut beleuchtet und hatte nichts von einer modrigen Folterkammer.
Na gut, wenn Samuel wirklich ein Serienkiller war, der seine Opfer hierher verschleppte, wäre er auch dumm gewesen, nicht dafür zu sorgen, dass die Beleuchtung funktionierte. Immerhin wäre er es gewesen, der sich den Kopf im Dunkeln anschlug oder die Treppe hinunterfiel, wenn er dabei war eine seiner Geiseln auf der Flucht wieder einzufangen. Dass hier kein Staubkorn zu finden war, war auf seinen Putzfimmel zurückzuführen, der daher rühren könnte, jede DNA-Spur seiner Opfer zu vernichten.
Mit angehaltenem Atem schob sie sich die Mauer entlang, die zur einzigen Tür im Keller führte.
Was sich dahinter wohl verbarg? Anita hatte eine vage Ahnung.
Sie wusste viel zu wenig von Samuel, von dem sie nicht behaupten konnte, ihn nach zwei Monaten gut zu kennen. Dabei war ihr Verlangen nach ihm so groß, dass sie manchmal daran drohte zu verbrennen. Ob er sie auch bald dazu brachte, um ihr Leben zu rennen? Der nächste Schritt wäre dann, ihre Kehle zu durchtrennen.
„Hör auf zu denken!“, befahl sie sich mit eiserner Entschlossenheit und versuchte die Gänsehaut wegzurubbeln, die ihr der kalte Beton und ihr sehr makabres Kopfkino beschert hatten.
Was tat sie hier eigentlich? Sie war einer haltlosen Eingebung gefolgt und machte sich nun auf die Suche nach Beweisen, die ihren Freund als Psychopathen überführten, nur weil sie nicht wahrhaben wollte, dass sich jemand in sie verlieben könnte?
War sie nicht vielmehr die Verrückte?
„Was tust du denn hier unten?“, ertönte Samuels Stimme hinter ihr. Wieder entfuhr ihr ein Schrei, diesmal fehlte ihr aber die Zeitung als Verteidigung.
Sie musterte ihn skeptisch von oben bis unten und sprang schließlich über ihren Schatten. Die ganze Aktion war lächerlich gewesen. Sie musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass sie einen netten und aufrichtigen Mann gefunden hatte, der sie mochte.
„Ach weißt du ...“, fing sie seufzend an und erzählte ihm von ihren haltlosen Unterstellungen, damit er auch genau wusste, auf wen er sich einließ. Zwar riskierte sie damit, ihn wieder in die Flucht zu schlagen, doch von nun an spielte sie mit offenen Karten. Samuel hatte ihr beigebracht, zu ihrem Körper zu stehen, also konnte sie auch zugeben, dass sie eine leidenschaftliche Dramaqueen mit einem latenten Hang zur Paranoia war.
„Du bist unglaublich, Anita“, lachte er herzlich auf und war zu ihrem Erstaunen kein bisschen verletzt oder wütend, „du bist einzigartig. Das ist einer der Gründe, wieso ich dich angesprochen habe. Stellt dich diese Antwort etwas zufrieden? Können wir nun endlich den Filmabend genießen?“
Er verstand es, sie sich gut fühlen zu lassen, dennoch war da noch eine gewisse Unruhe, die unbedingt aus der Welt geschafft werden musste.
„Wir können gleich mit dem Filmabend beginnen. Sei mir aber bitte nicht böse, wenn ich noch eine kleine letzte Bitte an dich habe“, wandte sie kleinlaut ein.
„Für dich alles“, erwiderte er überschwänglich.
„Zeigst du mir, was hinter dieser Tür ist?“, fragte sie zögernd und deutete zu dem Punkt, der ihrer Fantasie die letzte Viertelstunde genügend Futter für einen zentnerschweren Wälzer gegeben hatte.
„Wenn es weiter nichts ist“, erklärte sich Samuel sofort bereit und ging zum Ende des Ganges. Er drückte die Klinke hinunter, ein lautes Knacken ertönte, die Tür federte nach hinten und gab die Sicht auf einen voll geräumten Trainingsraum frei. Da war weit und breit keine Schlachtbank, dafür eine Gewichtbank, ein Laufband und noch allerhand Gerätschaften, deren Namen sie nicht kannte.
Erleichtert atmete sie auf und schalt sich ein weiteres Mal ob ihrer Paranoia.
„Ab auf die Couch?“, zwinkerte Samuel ihr zu.
„Ab auf die Couch!“ Noch nie war sie glücklicher gewesen, sie hatte auch allen Grund dazu. Eine Frau in den besten Jahren, einen Job, in dem sie gut verdiente und einen Freund, der geduldig ihre Marotten ertrug.
Der Abend gestaltete sich um einiges ruhiger und angenehmer, als er begonnen hatte. Anita nützte die Gruselmomente, um daraus unvergessliche Momente der Zweisamkeit zu machen. Die schrillen Hilfeschreie und das spritzende Kunstblut nahm sie gar nicht wahr, sie hatte nur Augen für Samuel, der auch längst auf die Horrorstreifen vergessen hatte.
Weil Anita auch keine dieser Frauen war, die bei der erstbesten Gelegenheit mit dem Mann ins Bett hüpften, zog sie es vor die Nacht auf der Couch zu verbringen. So würde Anita nie den Führerschein zu Gesicht bekommen, der flüchtig im Nachttisch neben der Schlafzimmertür verstaut war. Auf dem Lichtbild, das zur Hälfte aus der Schublade ragte, lächelte eine leicht schielende Frau, die genau wusste, welches Glück Anita mit Samuel hatte.
Eine kleine Sniffu-Dröhnung