Ich bin echt im Arsch, aber mein großes Ego kann es nicht zulassen, dass ich hier nichts tue.
Zeit: 22:15 bis 00:35 Uhr. Fehler tun mir leid, echt. D.
(Januar 1996)
Vor dem Ende war das Nichts - in vielfältiger Form.
Die Nacht bestach durch einen wolkenlosen Himmel, mit einem vollen Mond am Firmament. Dunkle Bäume warfen Schatten auf den grauen Pfad, der mehr wild als zivilisiert war.
Beinahe lautlos, wären da nicht die kleinen Geräusche gewesen. Knirschende Äste, die wie Greifarme in Zeitlupe nach dem Leben gierten. Ab und zu huschte auf Bodenhöhe etwas Weißes am Rand vorbei und versteckte sich zwischen den Bäumen.
Der junge Mann, der den Weg entlang ging, tat dies sehr vorsichtig. Genau wie die hinter ihm liegenden Kilometer, die er nur deswegen gezählt hatte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Es war einfach besser Zahlen im Kopf zu haben als darüber nachzudenken, was da zwischen den Tannen, Eichen, Buchen und Kirschen sonst noch auf ihn wartete. Denn Gehirne spielen sich bei Leerlauf gerne selbst Streiche, besonders wenn sie seit Tagen unter Spannung stehen oder sich der Überlastung bereits ergeben haben.
An dem Punkt war er zwar noch nicht, aber er wollte es nicht soweit kommen lassen. Zusätzlich zu den Kilometerzahlen - er war gerade bei 41 in fünf Tagen - betete er immer wieder sein Mantra herunter.
Bald geschafft, dachte er. Bald. Geschafft.
Und damit meinte er nicht nur, dass er die unselige Krankentrage, die er neben dem schweren Rucksack auf seinen Schultern kaum noch spürte, endlich abgeben konnte. Nein, auch das Gewehr mit seinen stolzem Gewicht wurde von Meter zu Meter schwerer. Genau wie der Stahlhelm auf seinem Kopf, bei dem er sich so manches mal fühlte wie eine Orange in einer Saftpresse.
Es war zwar kalt und die Sachen, die er am Leibe trug waren eigentlich dafür gedacht, seinen Körper genau dagegen zu schützen. Doch jetzt staute sich die Hitze darunter, versuchte an den Lederhandschuhen vorbei zu kommen, am Kragen herauszuflüchten - doch nichts davon gelang.
Warum? Das fragte er sich schon seit Kilometer 22 vor einigen Tagen. Gefolgt von: Wäre Zivildienst nicht besser gewesen?
Jetzt hatte er den Salat. Besser gesagt: Den Gedankensalat. Denn es war eine falsche Vorstellung gewesen, die ihn hierher geführt hatte: Wehrdienst als Abenteuer. Einberufung im letzten Sommer. Nicht wie er sich erhofft hatte bei den Panzerfahrern - weil dort die Betonung auf Fahren lag - sondern bei der Infanterie. Und bei dieser Truppengattung hatten die Fortbewegungsmittel keinen so hohen Stellenwert.
Leider.
Vor fünf Tagen waren sie alle noch munter gewesen. Mit dem Lied 'The final Countdown' aus dem Kassettenradio waren sie in ihre letzte Prüfung gestartet. Morgens, mit dem Alarm und dem hastigen Anziehen, dem schnellen Waffenempfang und dem Ausmarsch aus der Kaserne.
Und jetzt?
Unendliche Kilometer, viel zu lange Tage, noch längere Nächte. Wenig Essen, Zigaretten, Kaffee oder sonst was. Die Bedürfnisse waren eklatant heruntergeschraubt worden. Von Millionär werden, über Abschlussprüfung bestehen hin zu Wie komme ich aus der Scheiße wieder raus?
Seine Beine waren weit hinter ihm müde geworden, noch bevor die anderen Kameraden ihn verlassen hatten. (Denn jeder musste allein zurück marschieren. Taubheit begleitete ihn daher nicht nur auf dem Rücken, sondern auch im Rest des Körpers, der nur noch automatisch weiterging.
Schritt für Schritt.
Meter für Meter. Zählen, in Gedanken einen Strich machen wie Daniel Defoes Robinson Crusoe auf seiner gottverlassenen Insel. Die Bäume betrachten, die weißen Hasen, die in Wirklichkeit ein Streich seines Gehirns waren, ignorieren. Den Mond betrachten, der wie ein freundlicher Begleiter erschien und ihm doch nicht helfen konnte.
Schritt für Schritt.
Immer weiter.
Das Leben als endloser Gang durch die Nacht. Allein und verlassen. Nur er, die Trage, der Rucksack und das Gewehr.
Schritt für Schritt.
Mitten im Niemandsland.
Wie lange noch, wusste er nicht. Nur dass irgendwann ein Feld auftauchen würde, eine Kreuzung, danach wäre der Weg zur Kaserne ausgeschildert. Zum Paradies, so wenig einladend der Unterbringungsblock anfangs auch erschien war. Dort gab es Toiletten. Duschen. Ein Bett und eine Decke. Mit Kopfkissen.
Schritt für Schritt.
Die Gedanken starben ab, der Geist legte sich unmerklich zu Bett und ließ die Automatik gewähren. Egal was kommen würde, er würde schießen, rennen, kämpfen - und es nicht mitbekommen. Ein dunkler König setzte sich auf den Thron in seinem Ich und regierte stumm.
Nach dem Ende saßen fünf Personen am Ende eines langen Flurs vor dem Fenster nahe des Aschenbechers. Wie Feuerbestattete, die wieder aus ihren Urnen geklettert waren.
Der bullige Przybulla und der schlanke Scholl links, der Riese Clemens und der Zwerg Heinemann rechts. Am Fenster, wie ein Regisseur, der keiner war: Knopke mit seiner Vokuhila-Frisur.
Sie alle trugen olivgrüne Jacken und Hosen, starrten apathisch auf die Fliesen, auf denen sie saßen. Die Köpfe geknickt, die Blicke genauso stumpf, wie der Boden.
Scholl und Heinemann im Schneidersitz, Przybulla und Clemens lehnten mit den kaum noch spürbaren Rücken an der kalten Wand. Knopke hatte es sich an der warmen Heizung unter dem Fenster bequem gemacht. Zigaretten glühten einsam in den Händen, bevor sie zu Asche zerfielen. Niemand sagte etwas.
Sie hatten ihre Koppeln abgelegt und das grüne Barett mit dem goldenen Eichenlaub auf den Boden geworfen. Direkt daneben die Rucksäcke mit ihren zwanzig Kilogramm, die sie seit Tagen mit sich mit geschleppt hatten. Schmutzig. Dreckig. Vom Grün war nicht mehr viel zu sehen. Eher sah es braun aus und schrie nach einer eindringlichen Pflege.
Stille, in der sie an nichts dachten, nichts denken wollten.
Nachhallende Automatik im Leerlauf. Antriebslos. Wartend darauf, dass der Rest endlich eintrudelte, damit die letzten beiden Punkte auf der Liste abgearbeitet werden konnten: Duschen. Und befohlener Schlaf.
Sie hatten die Stiefel zur Hälfte aufgeschnürt, wodurch der eindringliche Geruch der vergangenen Kilometer langsam an die Oberfläche trudelte, als die Sicherheitstür am Anfang des Flurs, auf dem ihre Stuben lagen, aufgestoßen wurde. Niemand von ihnen wandte den Kopf dorthin, als sie die schlurfenden Schritte hörten, die erst dann aufhörten, als jemand neben Clemens' ausufernden Beinen eine Krankentrage, dann den Rucksack und schließlich sich selbst auf den Boden fallen ließ.
Das erste Entspannen der Muskeln wurde von Stöhnen begleitet, dann von einem Schnaufen und dem Griff in die rechte Beintasche, aus der eine Schachtel Zigaretten herausbefördert wurden.
Klicken. Ziehen. Ausatmen.
Rauchwölkchen stiegen beinahe anmutig empor und wanderten zur Decke hinauf, die mit ihrem kalten Licht dem Wetter außerhalb des Gebäudes den Kampf ansagen wollte. Nur interessierte es niemanden.
Rauchen. Schweigen. Erst nach einigen Lungenzügen räusperte sich der Neuankömmling.
"Alle da?", fragte er. Erst war es nur die Stille, die ihm antwortete. Dann Heinemann.
"Nö."
"Wieviele fehlen noch?"
"Keine Ahnung."
"Was los?"
"Halt die Schnauze, Dread", murrte Scholl und versuchte weiterhin, die Fliesen zu hypnotisieren. "Scheiße Mann."
Bevor der Neuankömmling etwas erwidern konnte, wurde die Sicherheitstür wieder aufgestoßen. Und die Schritte, die diesmal näher kamen, waren eindringlicher, steckten voller Leben und Vitalität. Ein Anzeichen dafür, dass sie keine zig Kilometer abgeschrubbt hatten. Ein Hinweis, den man hätte ernst nehmen sollen, denn schließlich stand ihr Gruppenführer - ein Fahnenjunker - vor ihnen. Das Olivgrün nicht dreckig, die Koppel saß perfekt unterhalb des Bauchnabels und auch das Barett hatte kaum Schweiß gesehen. Selbst das goldene Eichenlaub wirkte wie frisch poliert, genau wie die Stiefel.
Unter normalen Umständen hätten sie alle aufspringen, eine Achtung-Stellung einnehmen und eine kernige Meldung abgeben müssen. Schließlich war das ihr Vorgesetzter, wenn auch nur auf eine Zeit von zwölf Monaten begrenzt.
Doch es geschah nichts.
"Alles in Ordnung?", fragte der Fahnenjunker, schaute erst den genauso apathisch wirkenden Dread, und dann den bulligen Kerl neben Scholl an. "Prizibuller?"
"Schybulla, Herr Fahnenjunker."
"Von mir aus auch so." Er ging in die Hocke und versuchte irgendeinen Blick einzufangen, doch er konnte die Verbindung zwischen Augen und Fliesen nicht durchbrechen.
"Die Jagdkampfübung ist vorbei", sagte er. "Es fehlen nur noch drei Kameraden, dann sind wir vollzählig."
Hatte der Fahnenjunker darauf gehofft, damit wenigstens eine Reaktion wie 'Dann können wir ja endlich duschen gehen' auszulösen, so wurde er enttäuscht. Nichts geschah, außer dass keine Lippen mehr an den Zigaretten zogen.
Er schaute seine Untergebenen lange an, dann fuhr er sich nachdenklich über den Mund und rang sich schließlich zu einer Entscheidung durch.
"Ihr seid mir zu sehr im Arsch", sagte er und wandte sich an den Mann an der Heizung. "Knopke?"
"Jawohl Herr Fahnenjunker?", murmelte die Automatik in dessen Kopf.
"Sie haben doch eine Gitarre, nicht wahr?"
"Jawohl, habe eine Gitarre."
"Holen Sie sie."
Und tatsächlich, irgendwas in Knopke, tat ihm den Gefallen. Ob es an dem merkwürdigen Befehl lag oder doch nur an dem dunklen König in ihm - er wusste es nicht.
Als der Soldat wiederkam, trug er seine Gitarre wie ein Gewehr und setzte sich wieder an die Heizung. Der Blick, den er seinem Gruppenführer zuwarf, war geist- und ausdruckslos.
"Knopke", sagte der Fahnenjunker. "Motivation - und zwar schnell."
Unter normalen Umständen hätte Scholl den Kopf geschüttelt, Clemens gelacht und Heinmann einen dummen Spruch über Knopkes Lieder gebracht. Doch jetzt war da nur das monotone Ein- und Ausatmen.
"Motivation?", fragten Knopkes Lippen.
"Was haben Sie daran nicht verstanden?", knurrte der Fahnenjunker. "Das M?"
"Wie ... Motivation?"
"Spielen Sie, singen Sie. Irgendwas wird Ihnen doch einfallen."
"Und was?"
Der Fahnenjunker überlegte, dann schmunzelte er, als er in seine rechte Brusttasche griff, einen Meldezettel herausnahm und etwas darauf schrieb. Danach reichte er es mit einem Grinsen dem Mann an der Heizung.
Kopke starrte fragend auf den Zettel, zum Gruppenführer, dann wieder auf das Geschriebene.
"Das?"
"Genau das!"
Knopkes Automatik nickte. Er setzte sich richtig hin, hielt die Gitarre erst wie einen Fremdkörper, starrte die Saiten an, als wären sie Runen, die er nicht entziffern konnte. Nur langsam versuchten sich die Finger an altbekannten Gewohnheiten. Sie klimperten langsam vor sich hin, bis sie schließlich einen Rhythmus fanden.
"Der triste Himmel macht mich krank", begann er mit krächzender Stimme. "Ein schweres graues Tuch das die Sinne fast erstickt. Die Gewohnheit zu Besuch ..."
Bei den ersten Zeilen war noch keine Reaktion zu sehen.
"Lange nichts mehr aufgetankt, die Batterien sind leer."
Aber mehr und mehr wanderten die Blicke von den Fliesen zu dem Mann mit der Gitarre.
"In ein Labyrinth verstrickt. Ich seh den Weg nicht mehr."
Die Fingerbewegungen wurden flüssiger. Und die Stimme geschmeidiger.
"Ich will weg, ich will raus, ich will - wünsch mir was!"
Irgendwann beim Refrain schließlich begannen nicht nur die dreckigen, stinkenden Stiefel im Takt zu wippen, sondern sie sangen alle. Erst leise, murmelnd, dann lauter werdend, während der dunkle König in ihren Köpfen abtrat.
"Komm mit. Komm mit mir ins Abenteuerland ..."
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* Dreadnoughts ist raus.
Zeit: 22:15 bis 00:35 Uhr. Fehler tun mir leid, echt. D.
Der dunkle König
(Januar 1996)
Vor dem Ende war das Nichts - in vielfältiger Form.
Die Nacht bestach durch einen wolkenlosen Himmel, mit einem vollen Mond am Firmament. Dunkle Bäume warfen Schatten auf den grauen Pfad, der mehr wild als zivilisiert war.
Beinahe lautlos, wären da nicht die kleinen Geräusche gewesen. Knirschende Äste, die wie Greifarme in Zeitlupe nach dem Leben gierten. Ab und zu huschte auf Bodenhöhe etwas Weißes am Rand vorbei und versteckte sich zwischen den Bäumen.
Der junge Mann, der den Weg entlang ging, tat dies sehr vorsichtig. Genau wie die hinter ihm liegenden Kilometer, die er nur deswegen gezählt hatte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Es war einfach besser Zahlen im Kopf zu haben als darüber nachzudenken, was da zwischen den Tannen, Eichen, Buchen und Kirschen sonst noch auf ihn wartete. Denn Gehirne spielen sich bei Leerlauf gerne selbst Streiche, besonders wenn sie seit Tagen unter Spannung stehen oder sich der Überlastung bereits ergeben haben.
An dem Punkt war er zwar noch nicht, aber er wollte es nicht soweit kommen lassen. Zusätzlich zu den Kilometerzahlen - er war gerade bei 41 in fünf Tagen - betete er immer wieder sein Mantra herunter.
Bald geschafft, dachte er. Bald. Geschafft.
Und damit meinte er nicht nur, dass er die unselige Krankentrage, die er neben dem schweren Rucksack auf seinen Schultern kaum noch spürte, endlich abgeben konnte. Nein, auch das Gewehr mit seinen stolzem Gewicht wurde von Meter zu Meter schwerer. Genau wie der Stahlhelm auf seinem Kopf, bei dem er sich so manches mal fühlte wie eine Orange in einer Saftpresse.
Es war zwar kalt und die Sachen, die er am Leibe trug waren eigentlich dafür gedacht, seinen Körper genau dagegen zu schützen. Doch jetzt staute sich die Hitze darunter, versuchte an den Lederhandschuhen vorbei zu kommen, am Kragen herauszuflüchten - doch nichts davon gelang.
Warum? Das fragte er sich schon seit Kilometer 22 vor einigen Tagen. Gefolgt von: Wäre Zivildienst nicht besser gewesen?
Jetzt hatte er den Salat. Besser gesagt: Den Gedankensalat. Denn es war eine falsche Vorstellung gewesen, die ihn hierher geführt hatte: Wehrdienst als Abenteuer. Einberufung im letzten Sommer. Nicht wie er sich erhofft hatte bei den Panzerfahrern - weil dort die Betonung auf Fahren lag - sondern bei der Infanterie. Und bei dieser Truppengattung hatten die Fortbewegungsmittel keinen so hohen Stellenwert.
Leider.
Vor fünf Tagen waren sie alle noch munter gewesen. Mit dem Lied 'The final Countdown' aus dem Kassettenradio waren sie in ihre letzte Prüfung gestartet. Morgens, mit dem Alarm und dem hastigen Anziehen, dem schnellen Waffenempfang und dem Ausmarsch aus der Kaserne.
Und jetzt?
Unendliche Kilometer, viel zu lange Tage, noch längere Nächte. Wenig Essen, Zigaretten, Kaffee oder sonst was. Die Bedürfnisse waren eklatant heruntergeschraubt worden. Von Millionär werden, über Abschlussprüfung bestehen hin zu Wie komme ich aus der Scheiße wieder raus?
Seine Beine waren weit hinter ihm müde geworden, noch bevor die anderen Kameraden ihn verlassen hatten. (Denn jeder musste allein zurück marschieren. Taubheit begleitete ihn daher nicht nur auf dem Rücken, sondern auch im Rest des Körpers, der nur noch automatisch weiterging.
Schritt für Schritt.
Meter für Meter. Zählen, in Gedanken einen Strich machen wie Daniel Defoes Robinson Crusoe auf seiner gottverlassenen Insel. Die Bäume betrachten, die weißen Hasen, die in Wirklichkeit ein Streich seines Gehirns waren, ignorieren. Den Mond betrachten, der wie ein freundlicher Begleiter erschien und ihm doch nicht helfen konnte.
Schritt für Schritt.
Immer weiter.
Das Leben als endloser Gang durch die Nacht. Allein und verlassen. Nur er, die Trage, der Rucksack und das Gewehr.
Schritt für Schritt.
Mitten im Niemandsland.
Wie lange noch, wusste er nicht. Nur dass irgendwann ein Feld auftauchen würde, eine Kreuzung, danach wäre der Weg zur Kaserne ausgeschildert. Zum Paradies, so wenig einladend der Unterbringungsblock anfangs auch erschien war. Dort gab es Toiletten. Duschen. Ein Bett und eine Decke. Mit Kopfkissen.
Schritt für Schritt.
Die Gedanken starben ab, der Geist legte sich unmerklich zu Bett und ließ die Automatik gewähren. Egal was kommen würde, er würde schießen, rennen, kämpfen - und es nicht mitbekommen. Ein dunkler König setzte sich auf den Thron in seinem Ich und regierte stumm.
Nach dem Ende saßen fünf Personen am Ende eines langen Flurs vor dem Fenster nahe des Aschenbechers. Wie Feuerbestattete, die wieder aus ihren Urnen geklettert waren.
Der bullige Przybulla und der schlanke Scholl links, der Riese Clemens und der Zwerg Heinemann rechts. Am Fenster, wie ein Regisseur, der keiner war: Knopke mit seiner Vokuhila-Frisur.
Sie alle trugen olivgrüne Jacken und Hosen, starrten apathisch auf die Fliesen, auf denen sie saßen. Die Köpfe geknickt, die Blicke genauso stumpf, wie der Boden.
Scholl und Heinemann im Schneidersitz, Przybulla und Clemens lehnten mit den kaum noch spürbaren Rücken an der kalten Wand. Knopke hatte es sich an der warmen Heizung unter dem Fenster bequem gemacht. Zigaretten glühten einsam in den Händen, bevor sie zu Asche zerfielen. Niemand sagte etwas.
Sie hatten ihre Koppeln abgelegt und das grüne Barett mit dem goldenen Eichenlaub auf den Boden geworfen. Direkt daneben die Rucksäcke mit ihren zwanzig Kilogramm, die sie seit Tagen mit sich mit geschleppt hatten. Schmutzig. Dreckig. Vom Grün war nicht mehr viel zu sehen. Eher sah es braun aus und schrie nach einer eindringlichen Pflege.
Stille, in der sie an nichts dachten, nichts denken wollten.
Nachhallende Automatik im Leerlauf. Antriebslos. Wartend darauf, dass der Rest endlich eintrudelte, damit die letzten beiden Punkte auf der Liste abgearbeitet werden konnten: Duschen. Und befohlener Schlaf.
Sie hatten die Stiefel zur Hälfte aufgeschnürt, wodurch der eindringliche Geruch der vergangenen Kilometer langsam an die Oberfläche trudelte, als die Sicherheitstür am Anfang des Flurs, auf dem ihre Stuben lagen, aufgestoßen wurde. Niemand von ihnen wandte den Kopf dorthin, als sie die schlurfenden Schritte hörten, die erst dann aufhörten, als jemand neben Clemens' ausufernden Beinen eine Krankentrage, dann den Rucksack und schließlich sich selbst auf den Boden fallen ließ.
Das erste Entspannen der Muskeln wurde von Stöhnen begleitet, dann von einem Schnaufen und dem Griff in die rechte Beintasche, aus der eine Schachtel Zigaretten herausbefördert wurden.
Klicken. Ziehen. Ausatmen.
Rauchwölkchen stiegen beinahe anmutig empor und wanderten zur Decke hinauf, die mit ihrem kalten Licht dem Wetter außerhalb des Gebäudes den Kampf ansagen wollte. Nur interessierte es niemanden.
Rauchen. Schweigen. Erst nach einigen Lungenzügen räusperte sich der Neuankömmling.
"Alle da?", fragte er. Erst war es nur die Stille, die ihm antwortete. Dann Heinemann.
"Nö."
"Wieviele fehlen noch?"
"Keine Ahnung."
"Was los?"
"Halt die Schnauze, Dread", murrte Scholl und versuchte weiterhin, die Fliesen zu hypnotisieren. "Scheiße Mann."
Bevor der Neuankömmling etwas erwidern konnte, wurde die Sicherheitstür wieder aufgestoßen. Und die Schritte, die diesmal näher kamen, waren eindringlicher, steckten voller Leben und Vitalität. Ein Anzeichen dafür, dass sie keine zig Kilometer abgeschrubbt hatten. Ein Hinweis, den man hätte ernst nehmen sollen, denn schließlich stand ihr Gruppenführer - ein Fahnenjunker - vor ihnen. Das Olivgrün nicht dreckig, die Koppel saß perfekt unterhalb des Bauchnabels und auch das Barett hatte kaum Schweiß gesehen. Selbst das goldene Eichenlaub wirkte wie frisch poliert, genau wie die Stiefel.
Unter normalen Umständen hätten sie alle aufspringen, eine Achtung-Stellung einnehmen und eine kernige Meldung abgeben müssen. Schließlich war das ihr Vorgesetzter, wenn auch nur auf eine Zeit von zwölf Monaten begrenzt.
Doch es geschah nichts.
"Alles in Ordnung?", fragte der Fahnenjunker, schaute erst den genauso apathisch wirkenden Dread, und dann den bulligen Kerl neben Scholl an. "Prizibuller?"
"Schybulla, Herr Fahnenjunker."
"Von mir aus auch so." Er ging in die Hocke und versuchte irgendeinen Blick einzufangen, doch er konnte die Verbindung zwischen Augen und Fliesen nicht durchbrechen.
"Die Jagdkampfübung ist vorbei", sagte er. "Es fehlen nur noch drei Kameraden, dann sind wir vollzählig."
Hatte der Fahnenjunker darauf gehofft, damit wenigstens eine Reaktion wie 'Dann können wir ja endlich duschen gehen' auszulösen, so wurde er enttäuscht. Nichts geschah, außer dass keine Lippen mehr an den Zigaretten zogen.
Er schaute seine Untergebenen lange an, dann fuhr er sich nachdenklich über den Mund und rang sich schließlich zu einer Entscheidung durch.
"Ihr seid mir zu sehr im Arsch", sagte er und wandte sich an den Mann an der Heizung. "Knopke?"
"Jawohl Herr Fahnenjunker?", murmelte die Automatik in dessen Kopf.
"Sie haben doch eine Gitarre, nicht wahr?"
"Jawohl, habe eine Gitarre."
"Holen Sie sie."
Und tatsächlich, irgendwas in Knopke, tat ihm den Gefallen. Ob es an dem merkwürdigen Befehl lag oder doch nur an dem dunklen König in ihm - er wusste es nicht.
Als der Soldat wiederkam, trug er seine Gitarre wie ein Gewehr und setzte sich wieder an die Heizung. Der Blick, den er seinem Gruppenführer zuwarf, war geist- und ausdruckslos.
"Knopke", sagte der Fahnenjunker. "Motivation - und zwar schnell."
Unter normalen Umständen hätte Scholl den Kopf geschüttelt, Clemens gelacht und Heinmann einen dummen Spruch über Knopkes Lieder gebracht. Doch jetzt war da nur das monotone Ein- und Ausatmen.
"Motivation?", fragten Knopkes Lippen.
"Was haben Sie daran nicht verstanden?", knurrte der Fahnenjunker. "Das M?"
"Wie ... Motivation?"
"Spielen Sie, singen Sie. Irgendwas wird Ihnen doch einfallen."
"Und was?"
Der Fahnenjunker überlegte, dann schmunzelte er, als er in seine rechte Brusttasche griff, einen Meldezettel herausnahm und etwas darauf schrieb. Danach reichte er es mit einem Grinsen dem Mann an der Heizung.
Kopke starrte fragend auf den Zettel, zum Gruppenführer, dann wieder auf das Geschriebene.
"Das?"
"Genau das!"
Knopkes Automatik nickte. Er setzte sich richtig hin, hielt die Gitarre erst wie einen Fremdkörper, starrte die Saiten an, als wären sie Runen, die er nicht entziffern konnte. Nur langsam versuchten sich die Finger an altbekannten Gewohnheiten. Sie klimperten langsam vor sich hin, bis sie schließlich einen Rhythmus fanden.
"Der triste Himmel macht mich krank", begann er mit krächzender Stimme. "Ein schweres graues Tuch das die Sinne fast erstickt. Die Gewohnheit zu Besuch ..."
Bei den ersten Zeilen war noch keine Reaktion zu sehen.
"Lange nichts mehr aufgetankt, die Batterien sind leer."
Aber mehr und mehr wanderten die Blicke von den Fliesen zu dem Mann mit der Gitarre.
"In ein Labyrinth verstrickt. Ich seh den Weg nicht mehr."
Die Fingerbewegungen wurden flüssiger. Und die Stimme geschmeidiger.
"Ich will weg, ich will raus, ich will - wünsch mir was!"
Irgendwann beim Refrain schließlich begannen nicht nur die dreckigen, stinkenden Stiefel im Takt zu wippen, sondern sie sangen alle. Erst leise, murmelnd, dann lauter werdend, während der dunkle König in ihren Köpfen abtrat.
"Komm mit. Komm mit mir ins Abenteuerland ..."
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* Dreadnoughts ist raus.