Es ist: 15-12-2020, 17:54
Es ist: 15-12-2020, 17:54 Hallo, Gast! (Registrieren)


Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
Beitrag #21 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
+++++++++++++++Private Aufzeichnungen von Frank Peters+++++++++++++++


(Irgendwo in München, Mitternacht)

Stunden später ist Rilke verschwunden, zurück in seine lyrischen Gefilde, die er nur wegen einer historisch bedeutenden Sache kurz verlassen hat.
Und mir schwirrt nicht nur der Kopf, nein, er droht sich selbständig zu machen.
Ich versuche mir vorzustellen, wie dieses Utopia in den nächsten Jahren, den nächsten Jahrzehnten überleben könnte, wenn all die Nachbarn ums Reich herum nicht so denken würden. Wenn anstelle eines waffenstarrenden Machtblocks im Herzen des Kontinents ein Reich aus Sommerwiese und stets liebenden, friedfertigen Menschen stehen würde.
Es ist schließlich der Gedanke an den Morgen, an all die Morgen, die noch kommen werden, als ich mir vorstelle, wie es in exakt hundert Jahren in diesem Land aussehen wird. Wird man überhaupt an diese Tage denken? Und vor allem, was werden unsere Nachkommen von uns halten?
Das war, bevor ich die Toilette aufsuchen musste. Und jetzt, wo ich wieder da bin, in diesem stickigen, übermütig erhitzten Saal, drängt es mich einfach nur hinaus.
Die Zeit wird wieder greifbar, und die Unendlichkeit verabschiedet sich mit den Schattenstrichen des Morgens.
 
Draußen bleibe ich für einen Moment stehen und genieße die klare, kalte Luft. Dann nehme ich meinen Koffer und gehe über den Platz die Straße hinunter. Mein Hotel wartet auf mich in einer der Seitengassen weiter abwärts.
Mit zunehmenden Schritten werden die Menschen weniger, und es wird friedlicher. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass das alles nur geträumt war. Selbst das Hotel mit seinem, zugegebenermaßen kriegsbedingt, schnörkellosen Eingangsbereich, dem abgelaufenem roten Teppich, dem Mann hinter dem Empfang, der sich sogar zu einem Lächeln hinreißen lässt, als er mir die Schlüssel reicht. Auch der Paternoster ist wider Erwarten spärlich besetzt. Die Menschen, die in ihn steigen oder aus ihm rausspringen, sind normal gekleidet, normal lächelnd oder reserviert.
Und auch als ich mein Zimmer aufschließe, lässt mich nichts daran zweifeln, dass das alles nur ein Traum war, dass ich die ganze Zeit in Berlin gewesen bin und hier nur deswegen, weil die alliierte Friedensdelegation morgen kommt, um über einen Waffenstillstand zu verhandeln.
Weil unsere U-Boote es geschafft haben, wirklich jedes britische Schiff zu versenken. Ich sehe die Schlagzeilen der Hartung'schen Zeitung schon vor mir:
 
Steckrübenwinter in Großbritannien zwingt die Alliierten zu Verhandlungen.
 
Ich kann es nicht verhindern, dass ich lächle, dass ich mich so gut fühle, wie seit Jahren nicht mehr, als ich eintrete und den Koffer abstelle.
Erst als ich die Mündung einer Pistole an meinem Hinterkopf spüre, weiß ich, dass wir den Krieg verloren haben.

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Beitrag #22 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
(04:00 Uhr)

Im Großen Hauptquartier, im Lageraum.

Ein riesiger Tisch mit unendlich vielen Karten. Mit unendlich vielen Linien. Einige in Blau, die sich aus Frankreich gerade zurückziehen und sich dabei immer wieder Rückzugsgefechte liefern. Und die roten Linien, die die blauen gnadenlos jagen, sie förmlich vor sich hertreiben.
Alles untermalt mit verschiedenen Figuren, die die jeweiligen Truppenebenen darstellen: Vom Regiment, über Bataillone bis hin zu den Kompanien – die, wenn man den Zahlen auf einer der Tafel an der Wand glaubt, nur noch Geister ihrerselbst sind. Zusammengeschrumpft auf kleine Trupps, die sich den Weg nach Hause erkämpfen.
An den Wänden beinahe plakatgroße Papiere, auf denen die verschiedenen Einheiten aufgelistet sind, inklusive Stärkemeldungen, Waffenzahl, Munitionsbeständen.
Um den Tisch stehen zwei Unteroffiziere herum und melden einem dritten Mann – einem Oberst mit versteinertem Gesicht in einer tadellosen Uniform – die aktuelle Lage.
Minutenlang.
„Durchbruch bei Sedan“, sagt einer der beiden Unteroffiziere gerade. „Heeresgruppe Kronprinz verzögert und setzt sich ab.“ Und der andere: „Das Pionierregiment 35 hat seine Gasgranaten verschossen. Bestand bei Null.“
Der Oberst blickt ihn fragend an.
„Gestern hatten sie doch noch einen Vorrat für drei Tage?“
„Der S4 vom Regimentsstab hat das gemeldet.“ Er zögert. „Soll ich das als ‚Besonderes Vorkommnis‘ im Stabs-Tagebuch vermerken?“
Der Oberst schüttelt den Kopf.
„Nein“, antwortet er und wendet sich ab. „Ich muss zur Besprechung.“

Raus aus dem Raum, rein in den schmalen Gang, nach einigen Windungen und Treppenhäusern endet der Gang vor einer breiten Tür. Dahinter kann er Stimmen hören: Mal gedämpft, mal vehement, mal laut, mal sogar schreiend – wonach meistens wieder Ruhe herrscht.
Er klopft einmal, dann wird ihm geöffnet.
Es ist beinahe ein Saal, in dem ein Trauerspiel aufgeführt wird. Führende Generäle umringen den Kaiser, der panisch von einem Gesicht zum anderen schaut, beinahe ungläubig.
„DAS IST MEUTEREI!“, schreit er mit bebendem Schnurrbart einen alten General namens Hindenburg an. „UNVERSCHÄMT!“
Der alte General bleibt ausdruckslos.
„Kein Frontkommandeur wird unter Ihrem Kommando weiterkämpfen“, sagt er. „Weder gegen den Feind, noch gegen die eigenen Bürger!“
„Lage?“, fragt der Mann, der ihm geöffnet hat, und zieht die Aufmerksamkeit wieder zurück auf sich.
Ein General namens Groener, der den großen General Ludendorff, die rechte Hand Hindenburgs, ersetzt hat, als dieser zum wiederholten Male mit seinem Rücktritt Druck auf den Kaiser machen wollte. Nur damals war der Druck dann weg, und Ludendorff dann auch.
Schade, denkt der Oberst, dann meldet er: „Im Westen nichts Neues. Teilweise Rückzugsgefechte, bisher vertretbare Verluste an Mensch und Material.“
Groener nickt.
Und der Oberst verlässt das Trauerspiel.

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Beitrag #23 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
(05:00 Uhr)

Zuerst war da das Nichts.
Eine Ewigkeit später.
Dann kam der lautlose Urknall in mehreren Farben, bevor die Augen wieder sehen konnten.
Und der Kopf sich in einem Meer aus pochendem Schmerz wiederfand.
Ich liege mit dem Rücken auf dem Boden, und eine verschwommene Gestalt beugt sich über mich, verpasst mir eine Backpfeife und sagt irgendwas, das ich noch nicht genau hören kann.
Erst als der Blick klarer wird, erkenne ich Hundeaugen.
„Kommen Sie zu sich“, flüstert der falsche Heidkamp. „Wir müssen hier weg. So schnell wie möglich.“
Mühsam richte ich mich auf.
Mein Blick schwirrt umher, sieht eine Couch, ein Bett, einen anderen Mann am Boden, die Tür zum Badezimmer, eine umgeworfene Lampe – und Heidkamp. Mit besorgtem Gesicht. Er reicht mir eine Hand, die ich dankbar ergreife und lasse mich von ihm hochziehen, stehe schließlich mit schwankenden Beinen auf dem blutigen Teppich neben dem reglosen anderen Mann. Unbewaffnet, dafür hält Heidkamp die Pistole jetzt fest in der Hand. Nebenbei bemerke ich, dass auch sein sauberer Mantel etwas abgekriegt hat, genau wie sein Gesicht.
„Wird ein hübsches Veilchen“, meine ich und denke an einen Garten voller Blumen. „Schick.“
Heidkamp seufzt.
„Ein Danke wäre vielleicht nicht verkehrt“, knurrt er und es hört sich auch enttäuscht an. „Wenn ich mir schon die Hände für Sie schmutzig machen muss.“
„Ein richtiger Name wäre vielleicht auch nicht verkehrt“, entgegne ich. „So für den Anfang.“
Heidkamp beugt sich zu mir.
„Das ist alles unwichtig“, sagt er und zeigt mit der Pistole auf die Tür. „Wichtig sind nur zwei Sachen.“
Ich halte mir den pochenden Kopf, und meine schwankenden Beine halten mich.
„Und was?“
„Dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden!“
„Wohin?“
„Berlin.“
„Warum?“
Heidkamp presst die Lippen zusammen, bevor er mir eine Antwort gibt, die mich durchzuckt und meinen Herzschlag verdoppelt.
„Was sagt Ihnen der Begriff ‚Tau des Todes‘?.“

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Beitrag #24 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
(06:00 Uhr)

Berlin (Lindenhof, Parteizentrale der SPD)

Er steht am Fenster und schaut vom vierten Stock auf die breite Hauptstraße hinunter. Es hat etwas Erhabenes, von oben zu schauen, die Dinge kleiner zu machen oder dadurch umfassender betrachten zu können.
Seit einigen Minuten fahren wieder einige Lastwagen, kleinere Fahrzeuge und eine Kutsche prescht auch vorbei. Beinahe normal, allerdings ist dieses ‚normal‘ eher mit der Zeit von vor vier Jahren vergleichbar. Es ist da draußen friedlich, obwohl noch Krieg herrscht.
Er weiß, dass das nicht lange so bleiben würde. Vielleicht ein paar Stunden, vielleicht weniger.
„Du bist nervös, Friedrich“, sagt eine Stimme hinter ihm, und er wendet sich vom Fenster ab.
Friedrich. Freunde nennen ihn Fritz, vielleicht. Andere, die nicht dazugehören, lassen unpässliche Bezeichnungen über seinen dicken Bauch im Raume stehen.
Er schaut auf den Schreibtisch in der Mitte, auf das Gemälde von August Bebel an der Wand, auf den Teppich, die Regale mit den Büchern an der Seite. Und sein Blick bleibt bei dem anderen Mann hängen, der im Sessel vor dem Tisch sitzt.
Dunkle Weste, aus der die Kette einer Taschenuhr herausschaut. Die Haare auf der Rückseite des Kopfes versteckt. Ein längliches Gesicht, alt und ehrwürdig, garniert mit einem Brillengestell aus runden Gläsern. Er hält eine Tasse mit frischem Ersatzkaffee in den Händen, und schaut Friedrich müde an.
„Du musst ruhiger werden“, meint er. „Die Jäger sind nicht wegen uns hier, sondern zur Aufrechterhaltung der Ordnung.“
„Da bin ich mir nicht mehr so sicher, Phillipp.“
„Besser die, als eine Volksarmee, wie sie der Spartakus fordert.“
"Hm."
„Setz Dich doch endlich“, sagt Phillipp und deutet auf den größeren Sessel hinter dem Schreibtisch. „Was machst Du denn erst, wenn Du Kanzler wirst?“
„Was denkst Du denn, was ich dann mache?“
Phillipp schaut ihn nachdenklich an.
„Du könntest Lenin nacheifern“, antwortet er und schlürft an seinem Kaffee.

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Beitrag #25 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
(07:00 Uhr)

Berlin (Alexanderkaserne, Jägerregiment 4)

Wie ein Uhrwerk, nur schneller. Und ohne Fehler.
In der großen Kaserne mitten in Berlin, auf dem Antrete-Platz. Aus den Unterkunftsgebäuden kommen die Soldaten gerannt. Kampferprobt, noch zuversichtlich, teilweise euphorisch, aber nirgends zeigt sich Defätismus oder Ermüdungserscheinungen. Tadellose Uniform, kein Dreck an den glänzenden Stiefeln. Immer noch im Kopf: Das Reich und alles darin zu schützen, um jeden Preis. Gegen wen auch immer.
In langen Linien kommen sie auf den Platz und reihen sich zu kleinen Karrees auf. Es wird durchgezählt, überall. Von der 1. bis zur letzten Kompanie. Dann kommen die Chefs aus den Gebäuden, lassen sich Stärke und Zustand der Einheit melden.
Dann Stille, bevor jeder Einheitsführer seine jeweilige Ansprache hält, besonders, was am heutigen Tage ansteht. Kurz, knapp und bündig.
Zuhörende Ohren in Uniformen.
Dann:
„Der Sicherungsbestand an Munition verbleibt bei jedem am Mann“, sagt ein Kompaniechef gerade, und meint damit die Patronen, die jeder Soldat ständig bei sich trägt. „Waffenempfang nach dem Antreten.“ Und nach einer kurzen Pause. „Danach sammeln an den Munitionsbunkern und bereithalten für Empfang von Handgranaten.“
Stille.
Der Blick in den Augen der Soldaten weicht etwas auf.
„Noch Fragen?“, ruft der Kompaniechef, und will die Formation schon wegtreten lassen, als sich eine Hand hebt.
„Ja?“, fragt der Chef.
„Gefreiter Voigt, Herr Hauptmann“, sagt er. „Gestern hieß es, wir sollten auf den Truppenübungsplatz, um uns für den Einsatz vorzubereiten.“
„Das ist keine Frage.“
„Bei allem Respekt“, sagt Voigt. „Warum Handgranaten?“ Er wartete einen Moment, bevor er fortfährt. „Die Schießbahnen sind für Gewehre und Pistolen gedacht. Wurfstände sind dort keine.“
Der Hauptmann schaut ihn tadelnd an.
„Das ist ein Befehl, Gefreiter“, antwortet er. „Und wenn Sie denken, dass dieser Befehl unrechtmäßig ergeht, sollten Sie am besten die Reichsregierung fragen, warum und wieso.“
„Jawohl, Herr Hauptmann.“

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Beitrag #26 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
(09:00 Uhr)

Berlin (Reichskanzlei)

Max steht vor den Fenstern und schaut dem Laub beim Fallen zu. Der Tag geht auf, aber nicht sein Herz. Ein merkwürdiges Gefühl, am Ende zu stehen und zu beobachten, wie altes Leben vergeht. Nirgends ein Frühling, der wieder alles zum Leben erwecken kann.
Die Türen öffnen sich und lassen die Gedanken versiegen.
Schritte kündigen jemanden an, der sich als sein Adjutant entpuppt.
„Hat Spa sich gemeldet?“, fragt Max.
„Hindenburg hat dem Kaiser eröffnet, dass sich kein Kommandeur für ihn verwenden wird.“
„Er hat bestimmt getobt.“
„Das hat er.“
Schweigen.
„Hat er sich entschieden?“
„Er will nicht zurücktreten, und wenn, dann nur als Deutscher Kaiser. König von Preußen will er unbedingt bleiben.“
„Klebt an der kleinen Krone.“
„Sieht so aus.“
Max schaut auf die Uhr in seiner Hand, denkt an die Mutter der Nation, die eines ihrer Kinder mit Hass übersät hat.
Dann nickt er.
 „Hoheit?“, fragt der Adjutant.
„Geben Sie folgende Meldung an die Zeitungen“, sagt Max. „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amte, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind.“
Stille.
Dann schauen sich beide Männer an.
„Sind Sie sicher?“, fragt der Adjutant.
Max nickt.
„Es wird Zeit, dass das Haus Baden dem Haus Hohenzollern zeigt, wer hier Entscheidungen treffen kann.“

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Beitrag #27 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
10:00 Uhr

Berlin (Lindenhof)
SPD-Zeitung 'Vorwärts',
Druck- und Vertriebsräume

Es ist laut.
Ein immer wiederkehrendes Klackern und Klickern zieht sich durch die Ohren.
Männer mit Druckerschwärze an den Fingern sitzen vor den Maschinen. Massenweise kommen bedruckte Blätter heraus, unendlich viele.
Im Raum selbst ist es stickig, es riecht nach Farbe, etwas verbrannt, und durch die Anwesenheit weiterer Männer, den Vorsitzenden der einzelnen Betriebsräte in Berlin, wird es zunehmends wärmer, auch wenn die erhitzten Gemüter nichts damit zu tun haben.
„Hat er jetzt endlich abgedankt?“, fragt einer in die Runde.
„Wir sollten losschlagen“, sagt ein anderer. „So schnell wie möglich.“
Und ein Dritter: „Je länger wir warten, desto mehr kann Spartakus agieren. Und Liebknechts Leute sind radikaler. Die wollt ihr doch nicht in der Regierung haben, oder?“
Gemurmel, bejahend. Dann wieder zweifelnd, bis eine Stimme dazwischenfährt.
„Wartet es doch einfach mal ab“, knurrt der stämmige Mann mit den stierenden Augen. „Auch das ist eine Tugend.“ Er kommt gerade herein und legt einen Stapel Flugblätter auf den großen Tisch, wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, als die Tür plötzlich aufgestoßen wird.
Alles verharrt im Stillstand, selbst die Wörter auf den Zungen krabbeln wieder zurück in den Kopf.
Soldaten stehen da, selbstbewusst, mit den Gewehren in den Händen. Ihr Blick ist fordernd und unnachgiebig.
„Gefreiter Voigt, Jägerregiment 4“, sagt einer der Soldaten. „Es muss sofort jemand mitkommen!“
Niemand räuspert sich, oder hebt die Hand. Niemand, außer einer.
„Gut“, sagt der stämmige Mann. „Dann mach ich das.“
„Sie sind?“
„Otto Wels. Und worum geht es?“
„Das erklären wir Ihnen unterwegs.“

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Beitrag #28 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
11:30 Uhr

Berlin (Reichskanzlei)

Zuerst sind es nur ein Dutzend, dann werden es minütlich mehr.
Jetzt sind alle Straßen voll mit Menschen, die Plakate mit 'FRIEDEN' oder 'KAISER WEG' hochhalten. Andere schwenken begeistert rote Fahnen. Ein ganzes Meer davon.
Man kann sie sehen, auch hier von der Reichskanzlei aus.
„Hiermit übertrage ich Ihnen die Geschäfte des Reichskanzlers“, sagt Max von Baden, so knapp wie möglich.
Ebert nickt dankbar.
„Ich würde es begrüßen, wenn Sie als Reichsverweser hier bleiben würden“, sagt er.
Max schüttelt den Kopf.
„Sie sind jetzt am Zug“, antwortet er. „Ich nehme gleich den Zug.“
„Das können Sie doch nicht machen!“
„Ich habe ehrlich genug von alldem. Es liegt mir fern, Geschicke zu leiten, die anderen obliegen.“
„Dann ist das dann aber das Ende der Monarchie!“
Max lächelt.
„Fragen Sie doch den Kronprinz, ob er Lust hat, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.“
Eberts Gesicht verwandelt sich in eine traurige Landschaft.
„Ich fürchte, dass die Spartakisten und die Revolutionäre das Land ruinieren werden, wenn wir uns auch nur an einen Tisch mit denen setzen.“
Max klopft ihm auf die Schulter.
„Verzeihen Sie es mir“, meint er. „Aber das ist nicht mehr mein Problem.“
Schweigen.
„Und wohin fahren Sie?“, fragt Ebert.
Prinz Max von Baden lächelt.
„Raus aus der Geschichte.“

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Beitrag #29 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
12:00 Uhr

Berlin (Alexanderkaserne)

Und dann steht er da. In der Höhle hungriger Löwen.
Otto, im Grunde nur ein Mensch. Aber hier, im Mittelpunkt des Antrete-Platzes der Kaserne, während hunderte von uniformierten Augen ihn ansehen, fühlt er sich noch kleiner.
Es ist eine eigenartige Stimmung. Es ist zwar still und friedlich, aber es liegt etwas in der Luft. Etwas, was man nicht greifen kann. Etwas, was im ungünstigsten Moment das Schlimmste sein kann, was je passieren könnte. Und es liegt an ihm, ob es so kommt.
Er mustert die Karrees, die genauso stehen, wie beim Morgenappell. Drei Soldaten hintereinander, mehrere nebeneinander. Davor die Leutnante und Hauptleute.
Sie hatten ihm gesagt, dass es um die Lage ging. Um die Lage in Berlin, und um die im Reich selbst. Sie hatten die Handgranaten erwähnt, hatten gemeint, dass das eventuell rechtswidrige Befehle wären, denen sie nicht Folge leisten müssen. Und jetzt wollten sie wissen, was genau los sei.
Nun gut, dachte Otto.
„Soldaten, hört mich an“, begann er. „Ich bin traurig, dass alles so gekommen ist. Dass der große Kampf vergebens war, den ihr alle, den wir alle, ausgefochten haben ohne je eine blühende Ernte dafür einfahren zu können.“
Noch blieb alles ruhig. Er kannte ihre Grundstimmung nicht, und versuchte es intuitiv.
„Es war der amerikanische Präsident, der uns – als wir um Frieden baten – derart harte Forderungen übermittelt hat, die jeder anständige Mensch in diesem Land zur Verzweiflung bringen musste. Und es war der Kaiser, der uneinsichtig war, den richtigen Zeitpunkt für eben dieses Friedensangebot zu machen.“
Noch nichts. Kein Griff zu den Waffen. Kein heimliches Zeichen. Und einen baumelnden Strick an irgendeinem Galgen sieht man auch nicht.
„Ich, wie auch alle anderen, hoffen auf Frieden. So sehr, dass es schon weh tut. Damit endlich das Reich wieder aufgebaut werden kann. Und damit ihr alle auch endlich nach Hause zu euren Familien gehen könnt.“
Er spürt allmählich eine gewisse Zustimmung bei den unteren und mttleren Rängen. Die Offiziere scheinen verunsichert zu sein.
„Das wollen wir alle. Deshalb haben sich alle zu Demonstrationen zusammengeschlossen, um ihr Wort für den Frieden, und zum Ende des Krieges aller Kriege zu erheben“, ruft er. „Und man hat euch hierher beordert, damit ihr genau das verhindert. Mit Gewalt, wo keine Gewalt sein kann.“
Es scheint so, als atme das ganze Regiment gleichzeitig ein.
„Ich sage euch: Ein Deutscher erschießt keinen Deutschen. Und es ist eure Pflicht, einen solchen Bürgerkrieg zu verhindern!“
Und plötzlich geht alles ganz schnell:
Die ersten Reihen der Kompanien jubeln, die nächsten recken die Arme in die Höhe. Kein Offizier schießt – sie sind selbst am Nicken. Zustimmend.

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Beitrag #30 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
13:30 Uhr

Berlin (Reichstag)

Es ist keine Männerfreundschaft, wie man sie kennt. Eher das Akzeptieren wie bei alten Eheleuten, die nach zwanzig Jahren nicht mehr den Mut aufbringen können, sich einvernehmlich zu trennen.
So dachte Friedrich über Phillipp. Und dieser dachte ähnlich.
Aber es sind nicht diese Gedanken, die den beiden Männern durch den Kopf gehen, als sie in der Kantine des Reichstages sitzen und ihren Teller mit Wassersuppe löffeln. Der eine, Friedrich, abwesend in Gedanken versunken: Dieser Karl Liebknecht, der viel zu schnell aus der Festungshaft gekommen war. Und der gerade noch schneller dabei ist, den verhassten Spartakusbund wieder aufzubauen, um die letzten Reste des Reiches – die noch geblieben sind – zum Einsturz zu bringen. Daneben noch die Frage, wie man Matrosen, die mancherorts auch eine Volksarmee proklamieren, den Wind aus den Segeln nehmen kann.
Bei diesem Vergleich muss er grinsen und verschluckt sich.
Der andere, Philipp, mustert dagegen die Anwesenden und versucht zu ergründen, was sie gerade bewegt. Oder wem sie vertrauen. Denn die drohende Gefahr, dass die Massen dort draußen weglaufen, wenn sie der SPD-Regierung nicht mehr trauen würden, war groß. Genauso groß wie die Angst, dass sie sich den radikalen Kräften um Liebknecht anschließen.
Plötzlich Tumult. Ein Abgeordneter stürzt herein. Er wirkt gehetzt, als draußen vor den Fenstern des Reichstages Sprechchöre „NIEDER MIT DEM KAISER“; „NIEDER MIT DEM KRIEG!“ und  „HOCH DIE REPUBLIK!“
Der Abgeordnete steht aufgeregt am Tisch von Friedrich und Philipp. Er wird von anderen flankiert, die alle auf die beiden Männer einreden.
„Sie müssen zur Menge reden!“; „Bitte Herr Ebert! Sie müssen was tun!“
Doch Friedrich löffelt nur weiter seine Suppe, verärgert darüber, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
„Ich denke nicht daran“, antwortet er schließlich, ist aber verblüfft, als Philipp plötzlich aufsteht.
„Gut“, sagt dieser und lächelt. „Kein Problem.“
Er eilt aus der Kantine, rennt fast durch die langen Korridore, tritt an ein Fenster, öffnet es und steigt aufs Fensterbrett.
Unter ihm steht die riesige Menge, ein Meer aus Menschen. Abgemagert, verhärmt, aber gläubige Gesichter in Ekstase.
Selbst bei der letzten Kaiserkrönung aus dem letzten Jahrhundert waren sie nicht so zahlreich erschienen.
Die Menschen sehen ihn, die Schreie verenden. Alle sehen ihn an, wartend darauf, was er sagen würde. Es ist einer der Momente, die man noch in hundert Jahren wissen wird, die den Sprung ins Geschichtsbuch schaffen.
Stille. Und dann:
„Das Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt!“, ruft er, dann wird er lauter: „ES LEBE DIE DEUTSCHE REPUBLIK!“
Die Menge jubelt. Die Menschen wirken über alle Maßen glücklich, und für einen Moment fragt er sich, ob sie genauso gejubelt hätten, wenn der Krieg gewonnen worden wäre.

Mit sich selbst völlig zufrieden, geht Philipp in die Kantine. Alle Abgeordneten strahlen, lachen, klopfen ihm auf die Schulter oder wollen unbedingt seine Hand schütteln. Bis auf Friedrich, der mit hochrotem Kopf am Tisch steht.
„Ist das wahr?“, fragt er und man kann das Knurren eines Raubtieres heraushören.
Der Angesprochene sagt nichts, vereist seine Gesichtszüge und fragt sich, was das soll.
„Herr Scheidemann!“ Friedrich schlägt mit der Faust auf den Tisch, so fest, dass der Löffel aus der Suppe fliegt. „IST DAS WAHR?“
Philipp nickt verstört.
„Ja, es ist wahr. Und es ist selbstverständlich.“
Stille in der Kantine.
Friedrichs Zeigefinger richtet sich drohend auf Philipp.
„Du. Hast. Kein. Recht. Die Republik. Auszurufen!“, zischt er zornig. „Was aus diesem Land wird, entscheidest nicht DU!“

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