Es ist: 15-12-2020, 17:54
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Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
Beitrag #1 |

Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
(…)

Wie wir bereits vor einigen Tagen berichtet haben, sind die meuternden Matrosen der Schiffe Helgoland und Thüringen vom III. Geschwader nach Kiel verbracht worden.

Gestern Abend, am Sonntag, den 03.11.18, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Demonstrierende Matrosen des III. Geschwaders, die unter dem Motto "FRIEDEN UND BROT" durch die Kieler Innenstadt marschierten, trafen um 19 Uhr auf eine Polizeikette unter der Führung von Polizeiwachtmeister Hermann Gittel, die nach einem kurzem Handgemenge flohen. Dahinter befand sich aber eine weitere Postenkette aus 30 Rekruten und Unteroffizieren, kommandiert vom Leutnant der Reserve Oskar Steinhäuser.
Dieser ermahnte die Demonstranten zurückzubleiben. Als diese jedoch weiter vordrangen, kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge sowohl Steinhäuser, Gittel und ein weiterer Offizier verwundet und misshandelt wurden, bis eine Krankenschwester energisch einschritt.
Wenig später fuhr eine Feuerwehrspritze mit hohem Tempo durch die Demonstration und sprengte die Menge auseinander.

22:00 Uhr
Für den Rest der Nacht werden keine weiteren Auseinandersetzungen beobachtet, obwohl weiterhin von vereinzelten Schüssen berichtet wird.

+++++++++++++++++++Wir halten Sie auf dem Laufenden+++++++++++++++++++

Hier nun die Ereignisse in Kiel von Montag, den 04.11.18 im Live-Ticker:

2:00 Uhr
Unruhen unter den Marineangehörigen auf den einzelnen Werften.

4:00 Uhr
Berichte von Unruhen in verschiedenen Truppenunterkünften.

Die Garnison wird in Alarmbereitschaft versetzt und das Gouvernement erneuert die Anforderung von Infanterie. Im Laufe des Vormittags weiten sich die Unruhen weiter aus.

10:00 Uhr
Die Arbeiter der Germaniawerft in Gaarden und der Torpedowerkstatt in Friedrichsort treten in den Streik und werden durch die örtliche Polizei verhaftet.

15:00 Uhr
Die Angehörigen der I. Torpedodivision demonstrieren im Kasernengelände. Die Offiziere ziehen sich zurück, die Arresthauswache wird abgezogen.

16:00 Uhr
Die Aufständischen bewaffnen sich, legen dem Kommandanten ihre Forderungen vor und wählen Soldatenräte. Die Forderungen lauten:

  1. Abdankung des Hohenzollernhauses.
  2. Die Aufhebung des Belagerungszustandes.
  3. Freilassung unserer gemaßregelten Kameraden vom 3. Geschwader.
  4. Freilassung aller seit letztem Jahr im Zuchthaus sitzenden Kameraden
  5. Freilassung sämtlicher politischer Gefangenen.
  6. Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für beide Geschlechter.
13:45 Uhr
Die Aufständischen erhalten weiter Zulauf.
Stadtkommandant Heine hat keine verfügbaren Machtmittel mehr, da die Rendsburger Infanterie mit 180 Mann noch nicht eingetroffen ist.

14:00 Uhr
Der Garnisonskommandant Admiral Souchon entschließt sich, mit den Aufständischen unter Herrn Karl Artelt und Herrn Lothar Popp (beide USPD) zu verhandeln.

17:00 Uhr
Der Admiral trifft sich mit Vertretern der Arbeiterbewegung, die gerade an einer großen Versammlung im Gewerkschaftshaus teilnehmen. Souchon erklärt sich bereit, die Forderungsliste allen Truppenteilen bekannt zu machen.

18:37 Uhr
Karl Artelt und der Kriegsgerichtsrat Eichheim lassen gemeinsam die Verhafteten des III. Geschwaders frei.
Anschließend zieht man weiter zu einer großen Kundgebung auf den Wilhelmplatz.

19:30 Uhr
Artelt holt den Reichstagsabgeordneten Gustav Noske (SPD) vom Bahnhof ab, wo dieser ebenfalls von einer großen Menschenmenge begeistert begrüßt wird, und bringt ihn zum Wilhelmplatz. Dort ruft Noske in einer kurzen Rede dazu auf, Ordnung zu bewahren.

21:00 Uhr
Dritte Verhandlungsrunde zwischen Admiral Souchon, Stadtkommandanten Heine, sowie den Herren Artelt, Popp und Noske.

Der Admiral willigt ein, dass alle von auswärts entsandten Militäreinheiten zurückgezogen werden.

Herr Noske verspricht, die nicht in Kiel zu klärenden Forderungen nach Berlin zu übermitteln.

Herr Popp spricht im Anschluss mit unserem Korrespondenten Frank Peters: „Die reden immer von einer Matrosenrevolte. Das war es vielleicht gestern und vorgestern noch, aber heute nicht mehr. Wir befinden uns jetzt hier am Anfang der deutschen Revolution.“

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Beitrag #2 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
++++++++++++++++++Private Aufzeichnungen von Frank Peters:++++++++++++++++++++

Ich komme erst jetzt dazu, alles aufzuschreiben. Was waren das für Stunden!
Im Hotel ‚Hansa‘, in dem ich vor einigen Tagen eingezogen bin, hatte ich vor einigen Stunden noch mit Herrn Artelt ein Interview geführt. Darin erklärte er sich und die Ereignisse.
Sie irren sich“, hatte er – so ungefähr um Mitternacht – zu mir gesagt. „Nicht wir haben revoltiert. Die Marineführung, die Admiräle, und all die Kofferträger von kleinen Ordonanzoffizieren – diese haben sich gegen die Regierung gestellt.“
„Sie sprechen die abgesagte Operation in der Nordsee an?“
Artelt hatte genickt.
„Diese Operation hätte, selbst bei einem positiven Ausgang, nichts geändert“, hatte er gesagt und sich im kargen Sessel zurückgelehnt, die hier überall im Foyer des Hotels einsam und verlassen herumstanden. „Wäre tatsächlich die Royal Navy darauf eingegangen und hätte unsere Flotte abgefangen, und wenn wir in dieser Seeschlacht wieder gewonnen hätten, und – meinetwegen – alle britischen Schiffe versenkt hätten, so würde die US-Amerikanische Flotte bereitstehen, um uns weiterhin in der Nordsee zu blockieren.“
„Trotzdem haben sie Befehle verweigert“, hatte ich ihm entgegengehalten, doch Artelt hatte sein wettergegarbtes Gesicht geschüttelt.
„Die Absicht der Reichsregierung ist es, einen Waffenstillstand mit unseren Gegner einzufädeln.“ Er hatte seine Arme fragend nach oben gestreckt. „Wie soll das funktionieren, wenn wir dem Gegner vorher noch einen derartigen Schaden zufügen?“
Ich schwieg, während Artelt nach seiner Matrosenmütze griff, die auf dem Tisch lag.
„Außerdem, warum sollen wir sterben, wenn der Frieden in greifbare Nähe gerückt ist?“
Kurze Zeit später kam der Admiral, mit bekümmertem Gesicht, aber im Gegensatz zu Artelt in tadelloser schwarzer Uniform. Der große Mann, der vor vier Jahren sein Geschwader durch ein feindliches Mittelmeer ins Osmanische Reich geführt hatte. Der Mann, der furchtlos mit seinen beiden Schiffen gegen die gesamte russische Schwarzmeerflotte gekämpft hatte. Und jetzt saß er hier, nachdenklich, übermüdet, mit zerfaserten Lippen.
„Warum haben Sie die Truppen wieder weggeschickt?“, wollte ich von ihm wissen, während ein Kellner, dessen Kleidung ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte, uns Kaffee brachte.
„Herr Peters“, hatte er irgendwann gesagt, als der lange Blick in seine Tasse langweilig wurde. „Es ist lange her, dass Deutsche auf Deutsche geschossen haben.“
Dann schwiegen wir, tranken langsam nippend, bis plötzlich die Tür aufflog. Matrosen stürmten das Foyer, hielten uns Gewehre, Pistolen, manchmal sogar einfache Küchenmesser entgegen.
„Sie müssen leider mitkommen“, hatte der aus der Menge auftauchende Herr Popp erklärt, und uns auffordernd eine Hand hingehalten. „Bitte leisten sie keinen Widerstand.“
Danach wurden wir vom Hotel ins Bahnhofsgebäude gebracht. Überall Schüsse in der Nacht, mal vereinzelt, mal langgezogen wie ein Maschinengewehr. Ein Lastwagen brannte. Einige Arbeiter saßen vor brennenden Mülltonnen und debattierten lautstark.
Erst jetzt sind wir wieder zurück ins Hotel gebracht worden. Die Dusche ruft nach mir, obwohl es nebensächlich ist. Die Stadt ist unruhig geworden. All das Vertraute bebt, doch es ist kein Erdbeben, eher ein verhaltenes Seebeben. Unter der Oberfläche.
Ich schaue auf die Kaffeetasse, die man mir ins Zimmer gebracht hat. Vorletztes Jahr um diese Zeit schmeckte er noch nach Steckrüben. So wie alles andere auch.
Ich nippe an der Tasse. Besser ist er nicht geworden.

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Beitrag #3 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Hier nun die Ereignisse in Kiel von Dienstag, den 05.11.18 im Live-Ticker:

03:00 Uhr
Schießereien auf der Germaniawerft und auf dem Seekadettenschulschiff SMS Elsaß. Keine Verletzten.

03:30 Uhr
Aufgrund von Gerüchten, dass doch Militäreinheiten im Anmarsch wären, werden Admiral Souchon und unser Korrespondent vor Ort als Geisel genommen und kurzzeitig im Bahnhof festgesetzt

07:30 Uhr
Die Schiffe im Kieler Hafen setzen die rote Fahne. Dabei kommt es zu Auseinandersetzungen auf einigen Einheiten.

Auf dem Linienschiff SMS Schlesien gelingt es den revoltierenden Matrosen nicht, die rote Flagge zu setzen. Dem Schiff gelingt die Flucht in die Ostsee. Es wird begleitet vom Torpedoboot T-19 und dem U-Boot U-141.

Auf dem im Dock liegenden Linienschiff SMS König hat der Kommandant sogar die Kriegsflagge setzen lassen. Nach einer Schießerei mit den Aufständischen wurden dieser und zwei weitere Offiziere lebensgefährlich verletzt.

08:00 Uhr
Verhandlungen zwischen Admiral Souchon und Herrn Popp. Soldaten- und Arbeiterräte werden jetzt offiziell zugelassen. Außerdem werden die vorherigen Punkte auf insgesamt 14 erweitert, die für alle Räte verbindlich sind:
1. Freilassung sämtlicher Inhaftierten und politischen Gefangenen.
2. Vollständige Rede- und Pressefreiheit.
3. Aufhebung der Briefzensur.
4. Sachgemäße Behandlung der Mannschaften durch Vorgesetzte.
5. Straffreie Rückkehr sämtlicher Kameraden an Bord und in die Kasernen.
6. Die Ausfahrt der Flotte hat unter allen Umständen zu unterbleiben.
7. Jegliche Schutzmaßnahmen mit Blutvergießen haben zu unterbleiben.
8. Zurückziehung sämtlicher nicht zur Garnison gehöriger Truppen.
9. Alle Maßnahmen zum Schutze des Privateigentums werden sofort vom Soldatenrat festgesetzt.
10. Es gibt außer Dienst keine Vorgesetzten mehr.
11. Unbeschränkte persönliche Freiheit jedes Mannes von Beendigung des Dienstes bis zum Beginn des nächsten Dienstes.
12. Offiziere, die sich mit den Maßnahmen des jetzt bestehenden Soldatenrates einverstanden erklären, begrüßen wir in unserer Mitte. Alles Übrige hat ohne Anspruch auf Versorgung den Dienst zu quittieren.
13. Jeder Angehörige des Soldatenrates ist von jeglichem Dienst zu befreien.
14. Sämtliche in Zukunft zu treffenden Maßnahmen sind nur mit Zustimmung des Soldatenrates zu treffen.

09:00 Uhr
Eine aggressive Grundstimmung ist in der Innenstadt um den Wilhelmplatz zu spüren. Matrosengruppen durchkämmen die Stadt, die Werften und nehmen - auch auf den Schiffen - den Offizieren Waffen, Säbel, Kokarden und Rangabzeichen ab.

10:00 Uhr
Der Arbeiterrat setzt Beigeordnete für die zivilen Einrichtungen (Stadtverwaltung, Reichsverwaltung, etc.) ein, denen ab jetzt alle wichtigen Vorgänge vorgelegt werden müssen. Die Beigeordneten sind befugt, in die jeweiligen Entscheidungen einzugreifen. Vielfach wird dabei auf politisch erfahrene Stadtverordnete zurückgegriffen, denen der Zugang zu hauptamtlichen Stellen bisher durch das undemokratische Zensuswahlrecht verwehrt war.

Das Ernährungsamt wurde direkt übernommen. Auch auf dem Rathaus wurde die rote Fahne gesetzt.


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Beitrag #4 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
++++++++++++++++++Private Aufzeichnungen von Frank Peters:++++++++++++++++++++

Zuerst ist alles dunkel.
Dann kommt langsam der Geruch von Infektionsmitteln, abgestandener Luft, Schweiß und Leid durch die Nase. Letzteres sieht beklemmend aus, als ich meine Augen öffnen kann. Die Lider schwer wie Blei, die Knochen schmerzen, als ich mich aufrichten will.
Da ist eine weiße Decke, ein schmutziges Weiß an den Wänden, vor denen Betten stehen, die genauso aussehen, wie das, in dem ich gerade liege.
Ein großer Raum. Viele Betten, insgesamt zehn, als ich wieder zählen kann. Die Vorhänge an den riesigen Fenstern zur Seite geschwungen. Das Licht des Tages kommt nicht mehr hinein, weil der Tag bereits wegdämmert.
Es riecht nach Menschen, nach Leid und Kot, durchsetzt von Erbrochenem, begleitet von Stimmen, die wimmern, flüstern, oder leise sprechen. An den Seiten der Betten Infusionsständer, die die Technik mit den Kranken verbinden.
Die Bettlägrigen: Teilweise Soldaten, die von der Front hierhergebracht worden sind. Sie haben verbundene Köpfe, oder fehlende Gliedmaßen. Bis auf zwei, die irgendwie nicht dazugehören, denn in ihren Gesichtern steht noch nicht die Leere geschrieben, die ich bei den anderen sehe.
Ich will die Bettdecke zur Seite schlagen und aufstehen, doch nach der ersten Bewegung wird mir schwindelig. Ich kann die Beine noch aus dem Bett schwingen, aber sie halten mich nicht mehr und ich stürze zu Boden. Mein Kopf knallt hart auf, und verlorengeglaubte Sterne funkeln durch mein Innerstes, bis jemand nach mir greift, mich packt und zurück ins Bett hievt.
Ein alter Mann, keuchend, mit wallenden grauen Haaren und zerfurchtem Gesicht. Seine Hände allerdings sind eisern, und seine Arme stehen denen in nichts nach.
„Sie müssen ein bisschen besser auf sich aufpassen“, sagt er und seine Stimme hört sich an, als sei sie schon durch alle Wüsten der Welt gewandert. „Sie sind noch jung, mein Freund.“
Ich nicke ihm ein „Danke“ zu, und mein Kopf fällt wie ein Stein zurück aufs Kopfkissen. Das Herz fängt an zu pochen, und der Schmerz hinter den Augen nimmt rasant zu. Daher habe ich den Verband um meinen linken Oberarm gar nicht bemerkt.
„Sie sind von der Hartung'schen Zeitung?“, fragt der alte Mann, und es klingt nicht wie eine Frage.
„Ja.“
„Sie haben wirklich Glück gehabt.“
Ich spürte, wie sich eine meiner Augenbrauen hob.
„Wieso?“
„Ihr Kollege hat es nicht geschafft“, antwortet er, und diesmal schwingt ein Seufzen mit. „Was für eine verdammte Zeit, in der wir leben.“
„Ich habe keinen Kollegen“, sage ich, und überlege doch, was genau geschehen war. Mein Blick bleibt dabei auf der Uhr im Zimmer hängen: 8:11 Uhr abends.
Die letzte Erinnerung habe ich an mein Hotelzimmer, als ich aus der Dusche kam und die Aufzeichnungen bezüglich der Räte-Versammlung nochmal durchgehen wollte. Es war kurz vor 13:oo Uhr. Und da war eine Notiz vom Portier, der herausgekriegt hatte, wohin die Schlesien geflohen war. Angeblich sollte sie zurückkommen, mit Marineinfanterie, bis an die Zähne bewaffnet.
Ich hatte es als Gerüchte abgetan, weil ich nicht glauben konnte, dass der Admiral seine Versprechen brechen würde. Und ab dem Zeitpunkt fehlen mir die Stunden.
„Herr Artelt war vorhin hier“, sagt der alte Mann, und schüttelt beiläufig den Kopf. „Junger Bursche, noch grün hinter den Ohren. Aber er hat ein Ziel, für das er kämpfen will.“
„Was wollte er?“
„Wissen Sie es nicht mehr?“ Er schaut mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Wissen Sie gar nichts mehr?“
„Was soll ich denn wissen?“
Der alte Mann setzt sich aufs Fußende, und schaut mich nachdenklich an.
„Die Matrosen haben ab 13:oo Uhr alles angeschossen, was ihnen suspekt erschien. Sie dachten, da wären Offiziere hinter jedem Fenster. In jedem Haus.“
„Was?“
Er nickt.
„Sie haben die Innenstadt verwüstet. Und zum Glück hatten sie nur Gewehre und Pistolen. Hätten sie die Schiffe dafür eingesetzt ...“ Er unterbricht sich für einen Moment, bevor er fortfährt. „Alleine die König hätte aus dem Dock heraus die Innenstadt aussehen lassen wie Verdun.“
Ich starre ihn an. Ich kann es nicht glauben. Und bevor ich etwas zu sagen vermag, fähr er fort:
„Dieser Artelt hatte sich bei Ihnen entschuldigen wollen, weil die Sache aus dem Ruder gelaufen war.“
„Und wie komme ich hierher?“
„Die Matrosen haben das Hotel unter Feuer genommen, und einige haben es sogar gestürmt und auf alles geschossen, was sich bewegt hatte.“
Der Portier. Der Kellner. Alle tot?
Ich verstehen gar nichts mehr.
„Sie sagten gerade, dass ich einen Kollegen gehabt habe.“
„Ja, ein zweiter Mann wurde bei Ihnen im Zimmer gefunden. Aber im Gegensatz zu Ihnen steckten die Kugeln nicht im Oberarm ...“
Er beendet den Satz nicht, sondern tippt sich nur stumm an den Kopf.
Die Stille wandert durch den Raum, unterschwellig verfolgt vom Stöhnen mancher Bettinsassen, gefolgt von meinem Blick, der herumschweift, und an einem Mann hängen bleibt. Ein Gesicht, dass ich kenne, nur nicht so ramponiert und blau.
„Ist das Gittel, der Polizist, der vorgestern schwer verletzt wurde?“
Der alte Mann nickt.
„Das ist mein Sohn, ja“, antwortet er. Und als ich ihn entschuldigend ansehe, sagt er: „Sie können nichts dafür. Wir leben in Zeiten, in denen alles außer Kontrolle gerät.“
„Wie geht es ihm?“
„Er wird einfach nicht mehr wach“, sagt der alte Gittel, und ich merke, wie eine alternde Träne aus seinem Auge läuft. „Verdammt. Dass ich das nochmal erleben muss.“
Ich lasse ihm einen Augenblick.
„Was meinen Sie damit?“
Er wischt sich das Nass aus dem Gesicht.
„Da war schon Mal eine solche Sache, lange vor Ihrer Zeit. Damals schossen sie die Revolution – oder was auch immer das war – einfach zusammen.“
Ich erinnert mich daran. Eine Passage aus den Geschichtsbüchern, die nur trockenes Wissen aus dem Gestern enthält. Und Tränen sind darin nicht zu finden.

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Beitrag #5 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
13:00 Uhr
Große Versammlung auf dem Wilhelmplatz.
Unter anderem halten die Herren Popp und Noske Reden, die aber wegen des schlechten Wetters nur kurz ausfallen. Herr Noske erklärt, dass es eine straffe Führung brauche, und er bot an, dass er sich der Bewegung annehmen könne. Daraufhin wird er zum vorläufigen Vorsitzenden des Soldatenrats gewählt, da die Reichstagsabgeordneten Haase und Lebedor (beide USPD) bisher nicht eingetroffen sind.

13:15 Uhr
In der Innenstadt setzt plötzlich eine wilde Schießerei ein, nachdem sich die Versammlung aufgelöst hat. Angeblich hatten die Matrosen den Eindruck, dass Offiziere auf sie schießen, besonders aus Fenstern höherer Stockwerke. Es liegen bisher nur wenige und unsichere Beweise dafür vor.

Admiral Souchon streitet jede Beteiligung der Marine vehement ab.

Zur gleichen Zeit werden die Insassen des Gefängnisses an der Ringstraße durch massiven Waffeneinsatz befreit.

Es gibt insgesamt zehn Tote, davon einer im Hotel 'Hansa', und mindestens 21 Schwerverletzte.

19:30 Uhr
Der Stadtkommandant Heine wird in seiner Wohnung von einer Patrouille des neugeschaffenen Sicherheitsdienstes erschossen, als er sich der beabsichtigten Festnahme widersetzt. Der Militärpolizeimeister Dr. von Brüning hat sich bereits durch Flucht einer möglichen Verhaftung entzogen.

19:55 Uhr
Prinz Heinrich, der Bruder Kaiser Wilhelms II., der dort residierte, flieht getarnt mit einer roten Fahne am Auto aus der Stadt. Seitdem weht auch auf dem Kieler Schloss eine rote Fahne.

20:57 Uhr
In der Innenstadt wird es langsam ruhiger. Es sind nur noch vereinzelt Schüsse zu hören.

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Beitrag #6 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
++++++++++++++++Mit dem Blick durchs Schlüsselloch++++++++++++++++++++

Marinestation Kiel, (Karlstraße)´

Kurz vor Mitternacht.
Das muffige Zimmer liegt mehr im Schatten, als die Nacht draußen vor den zugehangenen Fenstern. Einige Kerzen brennen im Zimmer, weil der Vorrat an Lampen immer noch bei Null liegt.
Um den mächtigen Schreibtisch befinden sich drei Sessel, die vor vielen Jahren vielleicht mal gepolstert gewesen waren. Jetzt kann man beim Sitzen die Federn spüren, und zwar so, dass diese bleibende Eindrücke hinterlassen. Zumindest einem der drei Männer ist das offensichtlich egal. Er sitzt beinahe lässig im Sessel, rückt nur ab und zu seine kleine Brille zurecht, oder spielt mit den Fingern gedankenverloren am Schnurrbart herum, während er den anderen beiden Männern zusieht, wie diese sich gegenüberstehen. Wie Duellanten, doch anstelle von Pistolen Worte auf den Zungen.
„HEINE IST AUCH TOT?“,schreit der Mann in der Admiralsuniform, und seine Augen wollen beinahe aus den Höhlen springen. Sein Zeigefinger richtet sich drohend auf den anderen Mann. „Ich dachte, wir hätten uns darauf verständigt, dass wenigstens niemand zu schaden kommt!“
Der andere Mann, ein Matrose namens Artelt, einst nur Schiffsheizer, jetzt einer der Anführer der aufsässigen Matrosen, presst die Lippen zusammen, kann damit aber seine Wut damit nicht wirklich bremsen.
„Ach?“, ruft er zurück. „Und was ist mit der Schlesien, die wieder zurückkommen soll? Und all den anderen Einheiten, die die Stadt einkesseln sollen?“
Der Admiral hebt verzweifelt die Hände.
„Die Schlesien liegt in Danzig am Kai und die Kessel sind kalt!“
„Sie lügen doch wie gedruckt!“
„Und Sie morden sich mit ihrer Bande durch die ganze Stadt!“
„Das ist keine Bande!“
Der dritte Mann schüttelt den Kopf, nimmmt sich eine Zigarette aus seinem Etui und zündet sie sich mit einem Streichholz an, bevor er sich räuspert.
„Das bringt nichts, meine Herren“, sagt er und schaute Artelt scharf an. „Die Reichsregierung wird Morde nicht tollerieren.“
„Meine Männer und alle, die der Bewegung angehören, handeln in bester Absicht“, sagt der ehemalige Matrose. „Wenn Heine tot ist, dann nur, weil er sich mit Sicherheit gewehrt hat.“
„Und seit wann sind Sie hier das Gesetz, das Menschen willkürlich verhaftet?“
Artelts Gesicht wird rot.
„Sie und Ihresgleichen haben doch aus diesem Land ein riesiges Gefängnis gemacht“, ruft er. „Jede Fabrikhalle, eine militärisch gedrillte Einheit. Jede Stadt eine Festung. Und dennoch saßen sie alle, mit ihren schicken Uniformen, in ihren Messen und haben mit goldenen Löffeln gespeist, während wir mit Blechzangen fressen mussten!“
„Es ist Krieg!“, antwortet der Admiral, und seine bis dahin straffe Haltung schien sich unter bebendem Zorn aufzulösen. „Ohne solche Maßnahmen hätten wir den Krieg schon längst verloren!“
„Ohne solche Maßnahmen würden tausende Menschen aber noch leben!“, knurrt Artelt. „Und verloren ist sowieso alles.“
„Das ist Defätismus!“
„Und wie nennen Sie es, wenn selbst Frauen dazu aufgefordert werden, ihre Haare für die Kriegsindustrie zu spenden? Etwa eine Notwendigkeit?“
„Meine Herren ...“, versucht es der dritte Mann, der immer noch relativ entspannt im Sessel saß, doch er kommt nicht weit.
„Das ist die gleiche Entmenschlichung, wie bei den Kameraden in Frankreich!“, zischt der Matrose, bevor er sich an den Sitzenden wendet. „Sie sind von der SPD, Herr Noske. Ich und alle anderen von der USPD. Aber das U sollte keinen Unterschied mehr machen. Das ist der Anfang des Sozialismus, wie er einst von Bebel gefordert worden war. Wir stehen auf derselben Seite.“
Noske schweigt.
Der Admiral schweigt.
Und für einen Moment kann man einen der vereinzelten Schüsse hören, die abseits der Marinestation abgegeben werden. Der letzte liegt bereits einige Stunden zurück.
Artelt schaut grimmig zum Admiral.
Wir haben am Skagerrak den Engländern ihre - ach so schönen - Schiffe einzeln unter den Hintern weggeschossen“, sagt er. „Wir, die Männer in den Geschütztürmen. Wir, die Männer mit den schwarzen Gesichtern aus den Kesselräumen. Nicht die – ach so piekfeinen – Offiziere.“ Er nimmt seine Matrosenmütze, die auf dem Tisch liegt. „Und genauso werden WIR diesen Weg weitergehen.“
Dann wendet er sich ab und verlässt den Raum. Die Tür knallt laut, dann ist wieder Ruhe.
Der Admiral setzt sich.
„Mord“, flüstert er. „Was mit Mord beginnt, kann nicht gut enden.“
„Liegt die Schlesien wirklich noch in Danzig?“
„Das wissen Sie doch.“
„Ich bin mir bei der Marine bei vielen Dingen gerade nicht mehr so sicher.“
Der Admiral seufzt.
„Ich habe mein Ehrenwort gegeben“, sagt er. „Im Gegensatz zu den Mordbuben halte ich es.“
Sie schweigen sich noch einige Minuten an, dann steht der Admiral auf und verlässt wortlos den Raum.
Noske lehnt sich gerade wieder zurück, als das Telephon auf dem Tisch klingelt.
„Ja?“, sagt er, und hört seinem unbekannten Gesprächspartner aufmerksam zu. „Ich weiß, dass die Leitung nicht sicher ist.“ Dann: „Nein, es sind 40.000 Aufständische. Die Stadt zu belagern, sich mit denen einen Straßenkampf zu liefern, halte ich für keine gute Idee.“
Wieder Schweigen.
„Nein“, sagt er dann. „Jedenfalls nicht ganz.“
Wieder eine unverständliche Frage.
„Er ist angekommen, ja. Aber er wurde im Hotel erschossen.“

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Beitrag #7 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Es ist noch früh. Die Welt liegt noch im Bett und schläft mit ihren Alpträumen, als ich aus dem Hospital ins Freie trete.
Zuerst ist es ein mulmiges Gefühl, draußen auf der Straße zu stehen, nicht wissend, was auf den Wegen vor mir passieren wird. Früher, gefühlt ein Leben her, konnte man gedankenschwanger durch die Straßen und Gassen gehen, durch die Gärten und Parks wandeln, oder einfach nach schwer durchzechten Nächten nach Hause torkeln.
Jetzt ist alles anders. Die Straßen sind erstaunlich leer, wenn man von vereinzelten Trupps aus drei, vier Mann absieht, die den neuen Sicherheitsdienst darstellen. Sie gehen langsam über die Kopfsteinpflaster, an den wenigen Wagen vorbei, die nie eingezogen worden sind und ihr Dasein nun als rostende Exponate fristen.
Ich werde kontrolliert, mit starrenden Augen, mit zuckenden Fingern an den Abzugbügeln der Gewehre und Pistolen. Nebenbei fällt mir die Matrosenuniform auf, die nicht mehr vorzeigbar aussieht: Anstelle von Ruhm und Glorie sind Flecken getreten, Risse im Soff und hastig aufgenähte Reste anderer Kleidungsstücke.
Die Matrosen nicken nur und geben mir meine Ausweispapiere zurück. Dann gehen sie an mir vorbei, lassen mich stumm zurück. Ich sehe ihnen hinterher, und erstmals fällt mir auf, dass es keinen Unterscheid macht zwischen dem Jetzt, den Aufständischen, und dem Gestern mit den Polizeistreifen.
Ich gehe weiter. An den dunklen Parks, an den leblosen Laternen vorbei, an den Litfaßsäulen, die auf Veranstaltungen aus einer anderen Zeit hinweisen. Einfach drübergeklebt sehe ich Plakate, die unter anderem dazu auffordern, dass Frauen ihre Haare der Kriegsindustrie spenden sollen. Das große Hindenburg-Programm. Das große Spar-Programm. Mehr Effektivität, mehr Effizienz. Die totale Umfassung aller industriellen Kräfte, um den Krieg aller Kriege zu gewinnen.
Ein Zitat des Kaisers fällt mir ein, oder zumindest schreibe ich es ihm zu: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen jetzt auch einen Platz an der Sonne.“
Ist das der ersehnte Platz an der Sonne?, denke ich. Oder war das alles letztlich hoffnungslos? Und was bedeutet das Jetzt? Was denken die Matrosen? Und was denkt der Kaiser jetzt darüber?
Ein bisschen Wehmut überfällt mich, wenn ich an die Jahre vor dem Krieg denke. Lässigkeit sehe ich in Gedanken, Sommerwiesen und Ausgelassenheit. Aber auch Überheblichkeit, Egoismus, schrille Töne, und manchmal militante Gebärden, als wenn man mit Kanonen auf Spatzen schießen würde.
All das scheint nicht nur weg zu sein. Es ist fort.
Unwiederbringlich.
Genauso, wie der Unrat auf den Straßen und Gehwegen immer zahlreicher wird. Vielleicht fahren bald endlich die städtischen Fuhrwerke, aber ich bezweifle es sofort wieder.
Mir fällt ein, dass ich die Nachrichtenliste aktualisieren sollte. Zuviel ist passiert, und die Redaktion in Berlin hat schon so manchen Korrespondenten fallen gelassen, der seiner Arbeit nicht nachgegangen ist.
Ich schaue mir die Fassaden links und rechts an, sehe einen steinernen Kobold oben am First. Das rechte Ohr fehlt, beim linken ist die Spitze weggebrochen. Das Mauerwerk hat seine Farbe verloren. Die Fenster haben Einschusslöcher, und die fehlenden Gardinen dahinter zeugen von der Leblosigkeit im Inneren.
In den Schaufenstern einiger Lebensmittelläden sehe ich Schilder, auf denen in krakeliger Schrift steht, dass ab heute wieder geöffnet wird. Aus den Schornsteinen einer Bäckerei wirbelt leichter Rauch in den jungfräulichen Tag hinaus.
Es beruhigt. Ein bisschen. Auch wenn sonst keine Menschenseele zu sehen ist.
Das Hotel ‚Hansa‘ taucht in der Nebengasse auf. Der Eingang schmucklos. Die Scheiben im ersten Stock zerschossen, im zweiten sehen alle unversehrt aus.
Als ich eintrete, sehe ich den Portier am Empfang. Sein Arm in einer Schlinge, mit derselben Farbe, wie sein verblichenes Rot am Jackett. Er schaut auf, nickt, und wirkt erleichtert.
„Es tut gut zu sehen, dass es Ihnen besser geht, Herr Peters“, sagt er und reicht mir einen Schlüssel. „Ihr Zimmer sieht leider immer noch verwüstet aus. Und die Tür musste erneuert werden. Aber wie man mir versichert hat, sind alle Ihre Sachen noch da.“
„Die Polizei?“, frage ich. „Oder war es dieser Sicherheitsdienst?“
Er seufzt.
„Polizei habe ich schon lange nicht mehr gesehen“, antwortet er.
Und mehr braucht er auch nicht zu sagen. Ich stelle mich schon darauf ein, mit Nichts im Gepäck nach Hause zu fahren.

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Beitrag #8 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Hier nun die Ereignisse in Kiel von Mittwoch, den 06.11.18 im Live-Ticker:

02:00 Uhr
In der Innenstadt ist es ruhig geworden. Schüsse sind nicht mehr zu hören, dafür patrouillieren verstärkt Trupps des neuen Sicherheitsdienstes. Diese wurden vom Soldatenrat autorisiert, sollen aber nicht die regulären Polizeikräfte ersetzen, die noch nicht wieder im Dienst sein dürfen.
 

05:00 Uhr
Der Bahnhof bleibt gesperrt. Zugverbindungen sind immer noch eingestellt.

06:30 Uhr
Die ersten Bäckereien öffnen wieder. Auch die meisten Lebensmittelläden haben ihre Auslagen wieder ins Schaufenster gestellt.

07:00 Uhr
Für den notwendigen Bargeldaustausch hat die Bank am Wilhelmplatz seine Schalter geöffnet. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass ausstehende Solde der Matrosen erst durch das Reichsfinanzministerium freigegeben werde müssen. Bis dahin werden Gut- und Zahlscheine ausgegeben.

08:22 Uhr
Aus den Telegraphenämtern kommen immer noch keine Meldungen. Wie erst jetzt bekannt wird, hat das XI. Armeekorps, das die Stadt nach Süden hin abgesperrt hat, sich mit den Matrosen verbündet. Mit Fahrzeugen aus dem Kraftfahrpark sind Abordnungen in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt.

09:55 Uhr

Der SPD-Politiker Noske verurteilt dies und kündigt für Nachmittag eine große Kundgebung an.


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Beitrag #9 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Ich weiß nicht, wieso ich nicht daran gedacht habe.
Es ist eine Information, die sich unter normalen Umständen ins Gehirn brennen sollte. Aber wahrscheinlich war ich im Hospital noch völlig neben der Spur. Als sich der alte Gittel an den Kopf getippt hatte.
Und dann stehe ich, mit dem Schlüssel in der Hand, beinahe verkrampft im Türrahmen und schaut auf den dicken Teppich in der Mitte meines Zimmers.
Dass der kleine Tisch noch steht, nehme ich wahr. Dass das Bett zerwühlt ist, auch. Dass meine Kleidungsstücke, mein Koffer, und auch das Bettzeug überall im Raum verteilt sind, ist fast nebensächlich. Ich bin im ersten Augenblick nur froh, dass nichts davon auch nur in der Nähe vom Teppich liegt. Dort, wo die Überreste eines Gehirns in einem ausgetrockneten Blutmeer zu sehen ist.
Die Leiche des Mannes ist weg, nur der letzte Rest seiner Gedanken liegt dort auf dem Boden.
Irgendwann kann ich meine Beine wieder bewegen, den Teppich meiden und meine Sachen einsammeln, sie im Schrank verstauen, ohne auch nur irgendwie hinzuschauen.
Dann, als ich fertig bin und die Stimmen draußen auf der Straße wieder lauter werden, setzte ich mich einfach aufs Bett.
Verharrend. Abwartend. Mein Blick wieder auf den Teppich und das rote Meer gerichtet. In meinen eigenen Gedanken versunken, in eine Zeit, die nur verwüstete Landstriche kannte, ausgemergelte Gesichter, Schatten von anderen Gestalten, Blitzen am Himmel und ohrenbetäubendem Gedonner. Erinnerungen an eine menschengemachte Hölle auf Erden, die ich vor zwei Jahren verlassen konnte. Auf einer Bahre, auf der eigentlich nur die Toten vom Schlachtfeld getragen wurden.
Weder die Arbeit, der Chef im fernen Berlin, noch das alles, was hier in Kiel gerade geschah, hat einen Platz in meinem Kopf, der kilometerweit entfernt ist.
Ich weiß nicht, ob es die plötzlich auftauchenden Stimmen von Kindern und Frauen draußen auf der Straße sind, die mich wieder in die Gegenwart holen. Oder die fremde Gestalt, die plötzlich vor meiner immer noch offenen Zimmertür steht.
Schlapphut. Langer Mantel. Sauber, kein Dreck, auch nicht an seinen schwarzen Schuhen.
Er tippt zum Gruß an den Rand seines Hutes.
„Guten Tag“, sagt er, und mir fallen seine Hundeaugen auf, seine beinahe anmutige Nase. „Ist alles in Ordnung?“
Seine Stimme ist sanft, ein bisschen rau manchmal, aber vertrauenswürdig.
„Nicht ganz“, antworte ich und nicke zum Teppich hin. „Aber im Gegensatz zu ihm lebe ich.“
Der Mann tritt ein. Und erst jetzt sehe ich einen verwaisten Koffer im Flur stehen.
„Ich bin vor wenigen Minuten angekommen“, sagt der Mann und lächelt. „Wahrscheinlich zum Glück, ansonsten würde ich da vielleicht liegen.“
Er hält mir seine Hand hin, die ich schüttel.
„Peters“, sage ich.
„Angenehm“, erwidert er. „Wilhelm Heidkamp.“
„Sind Sie freiwillig hier?“
„Ich arbeite beim 'Vorwärts' als freier Mitarbeiter.“ Er sieht mich nachdenklich an, dann leuchteten seine Hundeaugen kurz auf. „Stimmt, Sie sind Frank Peters von der Hartung'schen Zeitung aus Berlin, richtig?“
Ich nicke.
„Fein, aber sollten wir dann nicht woanders sein?“
„Was meinen Sie?“
„Herr Noske hat zu einer Versammlung aufgerufen. Im Kino im Schlosshof.“ Er schaut auf seine Taschenuhr, die er unter seinem Mantel hervorholt. „In einer Viertelstunde.“

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Beitrag #10 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
++++++++++++++++Private Aufzeichnungen von Frank Peters:++++++++++++++++++

Der Tag war schon auf der anderen Seite des Planeten.
Und überließ uns der Nacht.
Es ist kalt. Und es fängt leicht an zu regnen.
Ich stehe mit Heidkamp vor dem Kino, das vor wenigen Leben noch als Lichtspieltheater betitelt worden war. Die Matrosen des Sicherheitsdienstes mustern unsere Ausweise, mustern unsere Gesichter, und scheinen skeptisch zu sein. Aber sie lassen ihre Waffen gesenkt, mit der Mündungsspitze nach unten. Und uns lassen sie hinein, in ein Tollhaus, wo die Masse noch in verdreckten Uniformen steckt. Nur wenige haben zivile Kleidung an.
Alles drängt sich Leib an Leib in den großen Saal, der jetzt bereits schon aus allen Nähten zu platzen scheint. Und als wir drin sind, sehen wir, wie die Sitzgelegenheiten, wie alle Reihen, teilweise sogar mit zwei oder drei Personen besetzt sind.
Es ist ohrenbetäubend laut. Alle reden hektisch durcheinander, gestikulieren wie wild und die Gebärden lassen nicht erkennen, dass sich die Stimmung je abkühlen wird. Zum Glück sitzt hier niemand mit einer Pistole im Hosenbund.
Heidkamp tippt mich von der Seite an und zeigt nach vorn.
„Da“, sagt er. „Er kommt.“
Und tatsächlich, vor der Leinwand, die von den schweren Vorhängen verborgen war, tritt ein großer Mann. Er trägt eine Brille mit runden Gläsern, und sein Schnurrbart war an den Enden leicht nach oben gezirbelt.
Gustav Noske, der Mann aus Berlin. Der Mann, der für Ruhe und Ordnung sorgen soll.
Heidkamp macht plötzlich ein zerknirschtes Gesicht.
„Verzeihen Sie mir“, ruft er mir zu. „Aber die Fahrt hierher hatte ich noch nicht die Gelegenheit, mal auszutreten.“
Ich nicke nur, während er sich umdreht und versucht, sich zwischen den vielen Leibern aus dem Saal zu drängen. Sollte es bei ihm länger dauern, würde er von meinen Aufzeichnungen abschreiben müssen. Etwas, was ich vor der Sache hier in Kiel meistens müde belächelt habe. Jetzt aber ist es mir fast egal geworden.
Noske steht jetzt auf der Bühne, wartet, dass sich die Matrosen endlich beruhigen.
Die Lampen an den Wänden werden schwächer, und tauchen den ganzen Saal in eine düstere Vorahnung, während sich hinter uns die beiden Türen schließen.
„Gute Abend“, ruft er in den Saal hinein, und es wird tatsächlich langsam leiser. „Kameraden, Soldaten, Arbeiter. Unsere Bewegung steht vor sehr ernsten Schwierigkeiten.“
Am Rande tauchen Herr Popp und Herr Artelt auf, die sich links und rechts vom SPD-Politiker aufbauen.
„Auch wenn einige Geschäfte bereits wieder geöffnet haben“, sagt er, „bleibt die Heranschaffung von Lebensmitteln und von notwendigem Bargeld äußerst schwierig, da der Zugverkehr immer noch eingestellt ist.“
Ein Raunen geht durch den Saal, einige Fäuste erheben sich und werden drohend zur Saaldecke gestreckt.
„Und derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich die Lage entspannen.“ Noske greift in seine Manteltasche und holt einen großen Zettel hervor.
„Ich habe über diese besonderen Umstände mit der Reichsregierung gesprochen“, fährt er fort. „Sie ist bereit, folgende Punkte vorzuschlagen.“
Er richtet seine Brille, hebt den Zettel und liest vor.
„Erstens: Straffreiheit für alle an der Bewegung Beteiligten. Zweitens: Amnestie für die wegen der vorjährigen Bewegung in der Flotte Verurteilten. Drittens: Beschleunigte Herbeiführung des Waffenstillstandes. Viertens: Beschleunigung der Abdankungsfrage. Fünftens: Weitere Reformen und Demokratisierung des Reichs.“
Stille.
Dann wird es wieder lauter. Eine erste Stimme schreit „Nein!“, eine zweite „Wir müssen abwarten“, eine dritte „Die Bewegung muss ausgebaut werden!“.
„Ich bitte um RUHE!“, ruft Noske in den Saal, doch diesmal wird es nicht leiser. Ein Matrose in einer Reihe dicht vor mir steht auf und hält ein Flugblatt hoch.
„Und das sollen wir glauben?“
„Was soll das sein?“, fragt Noske.
„Da steht, dass die Offiziere der Regierung stets Gehorsam geleistet haben, und dass niemals ein Flottenvorstoß ohne Absprache mit der Regierung geplant gewesen sei!“ Er holt tief Luft. „Damit sind wir alle Kriegsdienstverweigerer!“
Stille, in der auch Noske nicht weiß, was er sagen soll.
Und mir fällt auf, dass Heidkamp schon viel zu lange weg ist.

Ich zwänge mich durch die Matrosen zu den beiden Türen, schiebe mich hindurch, als sie nach meinem Klopfen geöffnet werden. Wieder misstrauische Blicke, die ich aber abwenden kann, als ich frage, wo die Toiletten seien.
„Da rechts runter in den Keller, dann gerade aus“, brummt der Sicherheitsdienstmann mich an und wendet sich ab.
Ich steige die Treppe hinunter, stehe unten in einem langen, halbdunklen Flur und sehe das Ende nicht. Dafür höre ich von oben den Lärm aus dem Saal, der stetig ansteigt. Schreie, Rufe, teilweise drohend und sehr laut.
Vor mir sehe ich eine Bewegung. Dann höre ich beim Näherkommen, beim Näher-Herantasten schweres Atmen, Schläge, knackende Geräusche, als wenn zwei Menschen sich boxen würden.
„Heidkamp?“, rufe ich nach vorn. Plötzlich fällt etwas Schweres auf den Boden. Wegrennende Schritte. Dann nur noch der Lärm von oben.
Ich greife nach meinen Streichhölzern, zünde drei gleichzeitig an und halte die zischende Flamme nach oben, während ich vorsichtig weitergehe.
Vor mir liegt der Reporter vom ‚Vorwärts‘ am Boden, richtet sich gerade wieder auf und grinst. Sein Mantel ist jetzt nicht mehr sauber, sein Gesicht etwas ramponiert, aber er steht beinahe so mühelos auf, als hätte ihn gerade kein Elefant gerammt. Ruhig klopft er sich den Staub vom Mantel.
„Was zum Teufel ist hier los?“, frage ich ihn, und als die Streichhölzer verenden, holt er eine kleine Taschenlampe aus seinem Mantel und knipst sie an.
„Sie waren doch sicherlich in Frankreich, oder?“, meint er und ignoriert meine Frage, während er den Lichtkegel auf eine Tür richtet, die halb offen steht. Auf dem Schild am Holz steht 'Abstellraum Mobiliar Großer Saal'.
„Verdun“, antworte ich, obwohl ich es nicht will. Weder das Wort sagen, noch jemals wieder darüber sprechen. „Wieso?“
„Dann brauche ich es Ihnen nicht erklären.“
Heidkamp öffnet die Tür ganz, tritt ein und ich folge ihm. Im Schein der kleinen Lampe sehe ich verschiedene Kabel, rote, grüne und blaue. Sie schwingen sich um mehrere kleine Kisten, die mittig im Raum stehen.
„Sind Sie bitte so freundlich?“, fragt er und hält mir die Lampe hin, die ich verwundert und wortlos nehme.
Denn das, was ich da sehe, sind Sprengkisten, ähnlich derjenigen, die man zum Aufsprengen von Festungsanlagen gebraucht hatte. Besonders gern verwendet bei gepanzerten Türen und Schotts vor Verdun. Aber die Masse hier würde nicht nur den Raum verwüsten, sondern …
„Das ganze Gebäude würde innerhalb von Minuten pulverisiert werden“, antwortet er mir auf meine Gedanken, als hätte er es geahnt. Dann nimmt er ein kleines Messer, fährt mit den Fingern vorsichtig an den Kabeln entlang, bis sich alle zu einem dickeren Kabel bündeln.
„Das wäre natürlich nicht so schön, nicht wahr“, meint er, und schneidet das dicke Kabel durch.
Oben pulsiert noch das Leben. Mein Herz klopft sehr stark, was ich erst jetzt spüre. Dann nimmt mir Heidkamp die Lampe aus der Hand.
„In ein paar Minuten wird der Mann vom Telegraphenamt kommen und verkünden, dass sowohl in Wilhelmshaven, als auch in Bremen und Hamburg rote Fahnen gehisst werden.“
Ich starre ihn an, dann wird es mir langsam klar. Aber es ist Heidkamp, der es ausspricht:
„Sie mussten aus der Stadt heraus. Sonst wären sie wahrscheinlich doch alle gehängt worden.“
„Die Fahrzeuge vom Armeekorps“, sage ich. „Ein Flächenbrand.“
Er klopft mir auf die Schulter.
„Sie denken mit“, sagt er. „Das gefällt mir. Und ich gebe Ihnen noch einen kostenfreien Rat: Verlassen Sie die Stadt.“
„Warum?“
„Weil Sie nicht wissen, wer der Mann in Ihrem Zimmer war.“
Ich starre ihn im Halbschein an, erinnere mich, wie ich in der Hölle lag, in einem Trichter, nah bei einem Kameraden. Völlig verdreckt, mehr Lehm im Gesicht als in den Schuhen. Schweigend, den Kopf eingezogen, während über uns der Himmel donnerte und seinen Zorn zur Erde spie. Erst nach Stunden hatte ich gemerkt, dass der Kamerad nicht meine Sprache sprach.
„Sie sind nicht vom 'Vorwärts'?“

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