Bis zum heutigen Tag sei das Bedürfnis lebendig, sich zu verlieben, es müsse nicht das Bild einer Frau sein, das er [= Heinrich Freudensprung] in der Wirklichkeit suche, immer öfter sehne er sich nur nach Augenblicken freudvollen Lebens – das Wort freudvoll gewinne für ihn immer größere Bedeutung und dem entsprechend das Gegenwort, lieblos –, er sehne sich nach einem freudvollen Leben als nach einer Form des Verliebtseins. Lieblos sein, ohne Liebe sein, nicht verliebt sein, bedeute für ihn tot sein bei lebendigem Leib. Und hier auf dem Wüstengrundstück sei er schon am dritten Tag vor Freudlosigkeit gelähmt gewesen, als er gesehen habe, daß ausnahmslos alle, sosehr sie es kaschieren wollten, indem sie tüchtig gearbeitet hätten, derart verdrießlich geworden seien, daß sie außerhalb der Arbeitszeit nicht mehr miteinander und später nicht einmal mehr mit sich selbst geredet hätten, zermürbt vom Wüstensand, der durch ihre Haut gedrungen sei und sich über ihre Seelen gebreitet habe.
(Seite 107f)
Gendarmen, sagte Vater, hätten keinen Schuß abgegeben. Sie hätten bereits gewußt, daß die Angreifer verloren hatten. An die hundert Militärfahrzeuge mit schweren Waffen und unzähligen Soldaten seien in die Stadt gefahren. Die Aufständischen seien vor dem offenen Tor gestanden, als sie die ersten Militärfahrzeuge die Straße herunterkommen sahen. Sie seien in die Berge geflüchtet. Die endgültige Niederlage in einem Kampf, der im Februar 1934 zwei Wochen gedauert habe, hätten die Aufständischen jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlitten, als der Aufstand umbenannt worden sei – in Bürgerkrieg.“
(Seite 137)
Freudensprung antwortete, er danke für diese psychologische Studie, wisse aber auch ohne Unterweisung über sich Bescheid. Sarani entschuldigte sich für den Fauxpas, das Verhalten des Freundes gedeutet zu haben; er habe vergessen, wohl auch eine Folge des Alters, daß es zu den unausgesprochenen Regeln ihrer Freundschaft gehörte, niemandes Innenleben nachzuspüren, da das Leben ohnedies alles nach außen kehre.
Um seinen Fehler zu überspielen, redete Sarani über Maher. Der, sagte er, sei ein moderner Sklave, welcher beides sein dürfe, Sklave und Sklavenhalter. Der Kapitalist, man wisse es seit langem, sei Sklave des Kapitals; der Sklave, der Kapital schaffe, das sei die Einsicht dieser Stunde, dürfe zum Kleinkapitalisten aufsteigen, damit er, Opfer des Systems, das System verteidige. Der Kapitalismus, sagte Sarani, sei die vollkommenste aller Religionen, die Herren würden mit der gleichen Inbrunst Opfer fordern, mit der die Sklaven Opfer brächten. Und gemeinsam würden sie, Herren und Sklaven, danach gieren, diejenigen zu opfern, welche diesen Schwindel durchschauen und beim Namen nennen.
Bravo, sagte Freudensprung. Es erschrecke ihn, von Sarani jenen Quatsch zu hören, den gewöhnlich er selbst zum besten gebe.“
(Seite 198f)
© 2010 Suhrkamp Verlag, Berlin.