logo kopfgrafik links adresse mitte kopfgrafik rechts
   

FÖRDERGEBER

   Bundeskanzleramt

   Wien Kultur

PARTNER/INNEN

Netzwerk Literaturhaeuser

mitSprache

arte Kulturpartner

Incentives

Bindewerk

kopfgrafik mitte

Maxi Obexer: Europas längster Sommer.

 

Leseprobe:

Über mehr als zehn Jahre schob ich jede Rückkehr, so lange es ging, hinaus. Ich wollte nicht mehr zurück, meine Entscheidung war endgültig. Ich hing an der Entscheidung fest, doch ich spürte auch, wie sehr ich an dem hing, was ich verlassen wollte. Ich hing an der Landschaft, ich hing an den Bergen, ich fürchtete ihre Anziehung und ich fürchtete ihre Vertrautheit. Als würde mich ein unsichtbares Band an sie binden. Wenn mein Leben wacklig war und ich ein paar Zentimeter vom Boden abhob, hatte ich Angst, gegen die Bergmassive zu schlagen. Als gehörte ich ihnen. Selbst nach zwei, drei oder zehn Jahren war mein selbstgezimmertes Leben noch immer nichts gegen ihr unverrückbares Dasein. Kaum war ich bei ihnen, spürte ich ihre natürliche Nähe, die meine Existenz in Berlin mit einem einzigen Lüftchen umwarf. Ich schrie gegen sie an, sie ließen es zu; mit ihrer Größe und Weite konnte ich gegen sie anschreien und, wenn ich fertig war, mich an sie schmiegen. Sie ließen es zu. Sie ließen alles zu. Sie ließen mich gehen und wenn ich wieder da war, war es, als sei ich nie weggewesen. Sie halfen mir nicht, sie zu vergessen. Ich musste mich ohne sie von ihnen lösen.
Doch erst, als ich damit aufhörte, verstand ich, wie sinnlos meine Lösungsversuche waren und wie unsinnig überhaupt ein solches Ziel. Als ließe sich eine Berglandschaft loswerden, als ließe sich irgendeine Welt loswerden, die über Millionen von Jahren entstanden war.
Warum überhaupt ein Wissen loswerden, noch dazu eines, in das ich hineingeboren wurde und aus dem ich selbst hervorging? Als ließen sich die frühesten Gerüche je loswerden, die tausende Male in die Nase stiegen oder die mit dem Spähen in den Himmel eingeatmet wurden. Der Geruch von Nadelholz im Regen. Oder von auftauender Erde im Frühling. Oder von einem Stein im März, wenn darauf der letzte Schnee verdampft war.
Die tausend Farben des Lichts im Spiel mit den Jahreszeiten, mit den Wolken, mit dem Wind, mit der Tageszeit und einer beständig weiterziehenden Sonne. Warum sich ein Wissen einschränken lassen auf Grenzen und Koordinaten? Als ließe sich ein Himmel einschränken.
Wusste ich sicher, warum ich in Berlin war? Wegen dem, was dieser freien und offenen Stadt allgemein nachgesagt wird? Die Clubszene etwa? Oder wurde ich noch von einem anderen verborgenen Wissen geführt? War es der weite Himmel in den Bergen, der mich mit dem weiten Himmel in Berlin verband? Der Horizont in den Bergen, mit dem Horizont in Berlin? Und die untergehende Sonne, die in den sich ewig fortsetzenden Häuserdächern langsam erlischt: glich sie nicht der untergehenden Sonne in den sich ewig fortsetzenden Gebirgszügen der Alpen?
Verführte mich Berlin nicht genau so, wie auch die Berge mich verführten? Zum Gehen und zum Weitergehen, um irgendwohin und nirgendwohin zu kommen, dorthin wo die Gegend neu ist und fremd. Und im gehen die geheime Sehnsucht zu kosten, dorthin zu gelangen, wo die Koordinaten sich verlieren, wo die Luft dünner wird und der Reiz größer, sich selbst zu verlieren und verloren zu gehen, am äußersten Rand der Fremdheit, am äußersten Rand der Freiheit.

Mir schräg gegenüber lehnen die Köpfe der jungen Männer an der Schulter des jeweils anderen. Sie schlafen tief und fest, wie nur junge Menschen schlafen können, die seit Wochen oder Monaten keinen festen Schlaf hatten.
Einer trägt ein T-Shirt mit einem aufgenähten Teddybären, der ist vielleicht von seiner Mutter mit der Hand angenäht worden. Ich schätze ihn auf zwölf, maximal dreizehn Jahre.
Was sie wohl zurücklassen und dennoch ihr Leben lang bei sich tragen werden? Einiges werden sie nie wiedersehen. Darunter manches, das zum Kostbarsten wird, weil sie es zurücklassen mussten.

(S. 43ff)

© 2017 Verbrecher Verlag, Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Link zur Druckansicht
Veranstaltungen
Sehr geehrte Veranstaltungsbesucher
/innen !

Wir wünschen Ihnen einen schönen und erholsamen Sommer und freuen uns, wenn wir Sie im September...

Ausstellung
Christine Lavant – "Ich bin wie eine Verdammte die von Engeln weiß"

09.05. bis 25.09.2019 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Werk und die...

"Der erste Satz – Das ganze Buch"
– Sechzig erste Sätze –
Ein Projekt von Margit Schreiner

24.06.2019 bis 28.05.2020 Nach Margret Kreidl konnte die Autorin Margit Schreiner als...

Tipp
OUT NOW - flugschrift Nr. 27 von Marianne Jungmaier

Eine Collage generiert aus Schlaf und flankiert von weiteren auf der Rückseite angeordneten...

Literaturfestivals in Österreich

Bachmannpreis in Klagenfurt, Tauriska am Großvenediger, Ö-Tone und Summerstage in Wien – der...