Leseprobe:
„Während David diese vier Wochen in England war, habe ich mir auch Sorgen um ihn gemacht. Aber damals war er mit seiner Klasse und zwei Lehrerinnen unterwegs. Und ich war abgelenkt und hatte nicht ständig Zeit, mir die schrecklichen Dinge auszudenken, die meinem Kind widerfahren könnten. Ich war so sehr mit Stephan beschäftigt, dass ich immer wieder vergaß, mir um David Sorgen zu machen. Wenn es mir dann einfiel oder wenn David anrief, bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht ständig an ihn dachte. Es schien mir, als würde ich meinen Sohn vollkommen vernachlässigen. […]
Was möchtest du. Das ist der Satz, der Stephan am deutlichsten charakterisiert. Der Satz, der für mich heute Stephan ist. Was möchtest du tun, wohin möchtest du gehen, was möchtest du essen, was auch immer du vorschlägst. Nie sagte Stephan einfach, wir machen dies, wir machen jenes, ich will mit dir dorthin gehen, wir essen das. Nie sagte er mir, was ich zu tun habe oder was er von mir erwarten würde. […]
Die Vorstellung, dass ich anfange, Stephan Stück für Stück zu vergessen, erschreckt mich. Jetzt habe ich vergessen, wie sich sein Arm anfühlte, dann werde ich seine Oberschenkel vergessen, später seine Hände, seinen Bauch, und irgendwann werde ich seinen Kopf vergessen, sein Grübchen am Kinn, seine Augen. Nein die Augen werde ich nicht vergessen, die nicht, nehme ich mir vor. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Und irgendwann wird es nur mehr das Foto geben, wie er dort auf dem Stein am Seeufer sitzt und nur ein Schatten ist.“
(S.122-130)
© 2016 Verlag Wortreich, Wien