Roman.
Wien: Braumüller Verlag, 2022.
240 Seiten; geb.; EUR 24,-.
ISBN-13: 978-3-99200-303-7.
Georg Thiel
Leseprobe
Leichen! Drogen? Spanferkel!
Den Kaffee ins Gesicht, sein Hab und Gut in einer Plastiktasche und Šljivovica im Magen – und schon ist Johannes von Marie rausgeschmissen. Dabei hatte ihre Liebe erst vor 9 ½ Wochen begonnen: Ein Tanz, ein Blick und schon war es um Johannes geschehen.
Doch wie heißt es so schön? Wenn sich eine Tür schließt, dann öffnet sich eine andere. In Johannes' Fall sind es drei: Lukas, Matthäus und Markus – seine Freunde aus Volksschulzeiten. Anders gesagt: Keine Zeit für Selbstmitleid! Denn das Quartett irrt nach vorne.
Georg Thiels Nachtfahrt gibt vom Start an Vollgas und rast Richtung Zwerchfell. Damit Markus aus den Klauen seiner Eltern und seines Medizinstudiums befreit wird, schlägt der Immobilienmakler und Teilzeit-Kriminelle Luke eine gemeinsame Fahrt zu einer Jagdhütte vor. Der Ausflug kommt auch Matthis entgegen, der sein Bewusstsein zur Abwechslung mal mit Hilfe der Realität erweitern kann – was aus anderen Gründen auch der wissenschaftlichen Hilfskraft Johannes nicht schadet.
Vernichtung durch Langeweile und Rauchen
Jedes Wort, jede Pointe, jeder Dialog in diesem Roman sitzt – Spiel, Spaß, Spannung garantiert. Dabei strotzt der Text vor Anspielungen, Zitaten und Wissen über Film und Literatur. Aber keine Angst. Langeweile ist bei der Lektüre ausgeschlossen! Das Lachen über die Geschichten des Quartetts macht das unmöglich.
So glaubt etwa Matthis nach dem Überfliegen seiner Castaneda-Gesamtausgabe Meskalin ausprobieren zu müssen, bricht in den Botanischen Garten ein und stiehlt einen Peyotekaktus. Vor Gericht will er sich nun mit der Lektüre von Stifters Nachsommer verteidigen, obwohl er bemerkt: "Bei Stifter passiert ja nichts. Stifter lesen heißt ja nichts anderes, als sich der Vernichtung durch Langeweile anheimzugeben."
Nicht weniger absurd ist der Monolog von Johannes, der Marie nach einer gemeinsamen Nacht über die Gefahren des Rauchens belehrt:
"Ingeborg Bachmann, Rom, September 1973. Mit einer glühenden Zigarette eingeschlafen – und zu ihrem Unglück nicht gleich verbrannt. Wenn er sich richtig erinnere, sogar mit einer Gitanes. Die Bachmann wäre mit einer Marlboro auch nur schwer vorstellbar. Oder mit einer Camel. Ganz zu schweigen mit einer HB. Eine HB und die Bachmann – das gehe nicht zusammen. Wenn er so nachdenke, dann falle ihm auf, dass es immer französische Marken seien, denen neben dem Krebs noch eine weitere Ebene des Unglücks anhafte. Zum Beispiel bei Camus. Ein letaler Autounfall mit einer Gitanes im Gesicht."
Abfahrt
Obwohl viel gesprochen, doziert und zitiert wird – mal in direkter, mal in indirekter Rede – und trotz all der Wendungen und Verrücktheiten der Handlung bleibt die Sprache leichtfüßig und witzig.
Dieser großartige Roman gehört gelesen. Oder um mit Matthis' Worten zu sprechen: Georg Thiels Nachtfahrt zu lesen heißt, sich der Vernichtung durch Lachen anheimzugeben – es gibt Schlimmeres.
Rezension von: Erkan Osmanovic, 29. 06. 2022
Originalbeitrag
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