Vor dem kleinen, alten, schmutzig-grauen Haus, das in einem Garten lag und in diesem inmitten eines Kreises von Bäumen, stand im Dämmer eines wolkigen März-Nachmittags eine etwa achtundzwanzigjährige Dame; neben ihr ein Mann, der um einige Jahre älter war. Sie trug einen langen braunen, gerade herabfallenden Mantel, dessen unterer Rand und dessen Ärmel mit Pelz abgesetzt waren, und an den Füßen hohe Überschuhe aus mattgrauem Leder. Über den Kopf hatte sie vom Nacken bis zur Stirn eine Mütze gezogen. Ihre Hand umspannte ein Bündel von Blumen, das sie eben an einer der Straßenecken gekauft haben mochte und das aus mehreren einzelnen Sträußen und Sträußchen bestand: aus Leberblumen, Veilchen, Märzbechern, Freesien und Mimosen. Sie hieß Blanche und war die Tochter des Rechtsanwalts Riedinger; ihr Begleiter, ein Beamter der staatlichen Bibliothek, hieß Dr. Franz Friedrich Müller-Erfurt und war bucklig. Die beiden waren eben gekommen.
"Das also ist Ihr Atelier?" fragte er.
"Ja. Ist's nicht schön? Diese Ruhe! Hier ist man immer ungestört."
Augenblicklich neigte er den Kopf zur Seite, sah schief zu ihr, die viel größer war als er, hinauf und fragte mit den prätentiös-akzentuierten Silben eines Menschen, der den Ehrgeiz hat, aus seinen Antworten immer schlagfertige Pointen zu machen: "Ungestört - wobei?"
Sie lachte auf. Allerdings klang es angesichts dieser so harmlosen Banalität ein wenig zu laut. "Bei der Arbeit natürlich!" und sie bückte sich, um unter der Matte vor der Tür den Hausschlüssel hervorzuholen. Er wies hin: "Sie machen es aber den Einbrechern leicht - oder den anderen Leuten, die Sie überfallen wollen!"
Sie wandte sich schnell um und klagte mit gespielter Traurigkeit: "Denken Sie! Es kommen keine! - Im übrigen", und sie hob den Schlüssel in die Höhe, "kann ich denn dieses Rieseninstrument bei mir tragen?"
Sie schloß auf und öffnete die Tür vor ihm. Er kam zwar näher, dann aber lud er sie mit weitausholender, karikiert-pathetischer Bewegung ein, vor ihm einzutreten. Sie versuchte mit einer Art von Hofknicks seine Geste zu erwidern, doch ihrem schweren Körper wollte die Bewegung nicht recht gelingen. Als sie wieder stand, deutete sie nun ihrerseits mit feierlicher Gebärde nach dem Eingang hin. Er streckte, die Innenflächen der Hände ihr zugekehrt, heftig beide Arme von sich, um dieses Ansinnen energisch von sich zu weisen. Zugleich trat er einen Schritt zurück, und dabei stieß er mit dem Buckel an den Türpfosten. Sie entschloß sich, ihm seinen Willen zu lassen, und mit einem lustigen Satz über die Schwelle kam sie ins Haus, doch sie war wohl ungeschickt oder zu hoch gesprungen, denn sie schrie auf: "Au! mein Knöchel!", während er ihr mit rotem Kopf und in tänzelndem Gang folgte. Dann schloß sich von innen die Tür.
Dieses Haus, eigentlich die Miniatur von einem Haus, gehörte zu einer feierlich-pompösen Patriziervilla und durfte einmal die Gärtner- oder Kutscherwohnung gewesen sein. Der Garten, der die beiden Gebäude umfaßte, war groß und dehnte sich nach allen Seiten aus, er wurde aber nicht benutzt, fast niemals betreten und nur notdürftig gepflegt. An seiner rechten Seite war entlang des Gitters eine Reihe von Tannen gepflanzt, die, immer welkend, ohne jemals ganz zu verwelken, nur in traurigem Siechtum dahinvegetierten. Im Hintergrund stieß er an einen Park, und die Kastanien und Ulmen, diesseits und jenseits der Grenze, ließen ihre Zweige sich ineinander verflechten und bildeten in den Lüften eine Mauer. An der linken Seite lief der Garten entlang einer stillen Nebenstraße. Die zwei Häuser waren durch einen Weg verbunden, doch er war mit Laub und Zweigen bestreut, schon unregelmäßig mit Grasflecken bewachsen, und seine Ränder waren verwischt. Er wurde niemals begangen. (S. 7f.)
© 1998, Schöffling & Co., Frankfurt / Main.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.