Ida verlassen, bedeutete, mein Volk (und das Kleinbürgertum) verlassen, hieß, auf die Leiter meines Namensvetters steigen. Ich meinte, ich sei es meinem Namen schuldig, mehr aus meinem Leben zu machen, als nur ein artiste manqué zu werden, einer, der sich ewig entschuldigt mit: "Ich wollte alles mögliche tun, doch kam mir immer was dazwischen." Alles mußte aufgeschrieben werden. Einmal wollte ich es sogar wagen, das Geschriebene Dr. Hirsch zu zeigen, der damals in Amsterdam wohnte, doch der lehnte klugerweise ab; denn er hatte gewiß Besseres zu tun, als eine Krankengeschichte zu lesen. Was ich schrieb, war nicht Literatur. Wie andere Trottel auch, die bestimmen, was Literatur ist, glaubte ich, daß Literatur etwas ästhetisch Geformtes von allgemeinem Interesse sein muß. Privates Leben in hübsch gedrechselte Sätze transformiert sozusagen. Literatur (wie gewichtig das klang!) ist heilig, rein und schön. Die Schmutzigen und Gemeinen, die Ungebildeten und Uneingeweihten dürfen dieses Allerheiligste nicht betreten, ihnen ist nicht gestattet, den Gott der Trottel zu sehen. Manche dieser "Trottel" waren meine Freunde, sind es noch heute. Warum nicht Idioten zu Freunden haben? Sind wir nicht alle aus dem gleichen Stoff gemacht? Ich behaupte nur, der größte gewesen zu sein. Statt "meine Sache zu machen", wie man wohl sagt, mühte ich mich zu überleben. Statt aufzugeben, beharrte ich.
Entweder am Güterbahnhof Mineralwasser entladen oder den Markt erforschen. So oder so konnte man genug verdienen, um am Leben zu bleiben, vorausgesetzt, man unterbrach die Arbeit nicht, um zu studieren. Jan Wiegel und ich gingen fast jeden Tag zur studentischen Arbeitsvermittlung. Dabei hatte er als ordentlicher Studierender, der nicht kommen und gehen konnte, wie er wollte, und Examen machen mußte, viel weniger Zeit als ich. Das Beste in der Fakultät für Politik und Soziologie war die warme Kaffeestube. (S. 63f.)
(c) 1997, Picus, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.