Die Reise hatte immer konkretere Formen angenommen, nachdem ich mich im Dokumentationszentrum Hadamar erkundigt hatte, ob es möglich sei, noch irgendwelche Hinweise über ehemalige Anstaltsinsassen zu finden. Mutter wollte zunächst nichts davon wissen, war unentschlossen, als ich ihr unterbreitete, daß ich im Sinn hatte, verschiedene Kliniken in Deutschland zu besuchen, in denen Großmutter untergebracht gewesen war, aber auch verschiedene andere Orte, die ich in meinem Kopf mit Mutters Jugend und mit ihrer Herkunft, aber auch mit der Zeit des Nationalsozialismus verband. Nachdem ich schließlich geplant hatte, mich allein auf den Weg zu machen, kam Mutters Zusage, sie war inzwischen fast achzig, und hatte seit fünfzig Jahren nicht mehr an der Vergangehit gerührt, bis ich eines Tages herausfinden wollte, wie Großmutter verschwunden war, und warum man in der Familie nichts mehr darüber wußte. Ich ließ Mutter, die neben mir im Auto saß, erzählen, von den Nachbarn, von den Ausflügen, die sie regelmäßig an den Wochenenden mit den Mitgliedern einer Wandergesellschaft für Senioren unternahm, an einen Ort mit einem malerischen See, zu einer mittelalterlichen Burg, man trieb sich auf flachen Spazierwegen herum, um anschließend eine Weile im Wirtshaus zu sitzen. Ich kannte die Gruppenphotos, die sie mir gezeigt hatte, ich kannte die Gesichter und Namen der Teilnehmer, obwohl ich nur zweien oder dreien von ihnen persönlich begegnet war, und ich fragte mich jedesmal, was ich mit achzig noch unternehmen würde. Seit es Vater nicht mehr gab, war Mutter oft auf Reisen, sie hatte jetzt Zeit, etwas von der Welt zu sehen, und es schien ihr gut zu tun. (S. 11 f)
© 2002, Luchterhand Literaturverlag, München.