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Leseprobe: Anna Mitgutsch - "Zwei Leben und ein Tag"



(S. 59 f)

Leonard,
in jedes Land, in dem wir uns niederließen, an jeden Schreibtisch, und wenn es der Küchentisch war oder eine Truhe vor dem Schlafzimmerfenster, brachten wir unsere stetig wachsende Notizensammlung zu Melville mit. Er war immer anwesend, er war der Anachronismus in unserem Leben, der Halt, den wir nicht aufgeben konnten. Alle Fragen, auf die wir keine Antwort wußten, haben wir ihm gestellt. Mit den Fingerspitzen haben wir uns an den Menschen herangetastet, der die Texte schrieb, deren Geheimnis wir nicht zu fassen kriegten. Wir wollten seine Enttäuschungen begreifen, seine Bitterkeit, sein Versagen und die seltenen Augenblicke des Glücks. Er war das Dauerhafte, das von einem Ort zum nächsten konstant blieb. Aus der zeitlichen Distanz kommt es mir so vor, als hätten wir seine Unrast und seine Reisen gebraucht, um zu verstehen, was mit uns geschah. Er war unser Ankerplatz. Wir konnten seine Spuren im Aufgeschriebenen, in seinen Romanen, Tagebüchern und Briefen verfolgen, das Geschriebene war uns vertrauter als das, was von außen auf uns eindrang und selten Sinn ergab. Melville reiste stets mit leichtem Gepäck, einem kleinen Bündel, die Schrankkoffer blieben im Hafen liegen, er nahm sich nie die Mühe, sie abzuholen und all die Dinge mit sich herumzuschleppen, die ein Zuhause vortäuschen sollten. Vielleicht war es das, was wir nicht verstanden, daß man nicht zugleich unterwegs sein und sich mit einer Ersatzheimat von Besitztümern umgeben kann.
Wir waren nie verwurzelt gewesen, wir schleppten nur den Ballast angehäufter Kuriosa mit uns herum. Einen Mittelpunkt, einen festen Punkt in der Vergangenheit, zu dem wir hätten zurückkehren können von Zeit zu Zeit, besaßen wir nicht."

© 2007 Luchterhand, München.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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