Wenn ich um Vergangenheiten klage, so um ihre Zukunft-Süchtigkeit. (Um die Vergangenheit, die unsere Gegenwart einmal sein wird, werde ich in dieser Hinsicht nicht zu klagen haben; sie besteht aus lauter Heimweh nach einer Vergangenheit, die es nie gab: in der die Uhrmacher rückwärtslaufende Uhren bauten.) Einräumen muß ich, daß die Zukunft-Sucht verschiedener Vergangenheiten verschieden innig ist. Eine besonders schön tickende Zeit aber ist für mich das Jahrzehnt vor dem maiernen Staatsvertrag.
Mag sein, daß meine tschechoslowakische Kindheit da präludierte: traditionsunbelastete, rein in die Zukunft verliebte - in der lichthungrigen, würfelhausbauenden, winkelausfegenden Kindheit einer jungen erstmaligen Republik, in der meine Familie noch dazu nicht wurzelte. Ich gedieh in der Atmosphäre eines jungen Staates, die ich vor jeder Politik erlebte, und so wie mir das Stoffstück mit dem seltsamen blauen Zwickel im Weiß und Rot, das uns im harschen Wind eines schulunfreien Freitags mühsam erklärt wurde, unendlich langweiliger war als die Stücke aus handwarmem gelbem Messing, die wir abwägen durften, so ist mir auch das vorfrühlingsherbe österreichische Jahrzehnt, das meine nachpubertäre Jugend bedeutet, unvergleichlich mehr als seine historische Definition und doch von ihr nicht trennbar.
© 2000, Ritter, Klagenfurt, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.