Keine Menschenfresser, bitte!
Frau Amtsrat Reißfleisch wollte einen Untermieter aufnehmen und hatte zu diesem Behuf tags vorher die Studentenschaft angerufen. Vornehmes Gassenkabinett, elektrisches Licht, Bett, Pendeluhr, Schreibtisch, Universitätsnähe usw. Für nur 900 Schilling, ab sofort beziehbar ... Nun aber, an diesem Nachmittag, war sie doch ein wenig bedrückt, da sie fürchtete, man möchte ihr einen dunkelhäutigen Herrn zuschicken. Und das wäre besonders peinlich vor den Nachbarn und so weiter und so weiter. Vielleicht wären auch Kannibalen und Mädchenhändler unter ihnen, wie man ja nur zu häufig im Lesezirkel erfahren kann ...
Frau Amtsrat Reißfleisch und ihre Freundin Adele saßen diesen Nachmittag bei Kaffee und Mohnstrudel und warteten die kommenden Dinge etwas nervös ab. "Am liebsten", sagte Frau Amtsrat, "wär mir halt so ein solider Amerikaner, der was alle Ersten pinktlich seinen Zins zahlen tut und nicht schnarcht ..."
"Ganz recht, liebe Melanie", sagte Adele, "die Ameriganer sein die solidesten, und Geld haben tuns auch. Auf keinen Fall darfst du dir ein Arawer, Perser oder gar ein Dürken nehmen. Die haben uns schon viermal belagert ..."
Die Klingel der Wohnungstür schrillte scharf und kriegerisch. Frau Amtsrat Reißfleisch richtete sich würdig auf, ging ins Vorzimmer, das zugleich als Besenkammerl diente, und öffnete einen Spalt die Türe.
"Ich komm wegen Kabinett. Ist noch frei, bittschen? Mein Name ist Berislav Stojanovic ..."
"Sind Sie der Ameriganer, den was ich das Zimmer versprochen hab?" fragte die Frau Amtsrat durch den Türspalt.
"Amerikaner?" meinte Stojanovic verfremdet ...
"Dut mir leid", sagte Frau Amtsrat kurz, "aber das Zimmer is schon an ein Ameriganer vergeben!" Die Türe schlug kurz vor der Adlernase des langen Kroaten zu.
"Wer war's denn?" fragte Adele. Aber bevor Frau Amtsrat Reißfleisch noch eine Antwort erstatten konnte, klingelte es abermals.
(S. 79f.)
© 2003, Residenz, Salzburg, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.