Leseprobe:
Im Basislager, wie Harry die Abbruchhalle nannte, herrschte wie immer eine Bombenstimmung. Aus den mit Wodka und Bier geölten Kehlen tönten nationalistische Lieder von den vebotenen Gruppen"Macht und Ehre" und"Weißer Widerstand", die immer wieder durch eine Zeilen der slowakischen Nationalhymne "Nad Tatrou sa blýska ..." (Ob der Tatra blitzt es) unterbrochen wurden.
Samy stand hinter den Fenstern, fröstelte und ärgerte sich über seine Mutter, die sich hartnäckig weigerte, die Gefahr, die von diesen hirnlosen Kerlen ausging, zu verstehen. Olga, die seit der Wende täglich betete, glaubte, dass ihr allmächtiger Gott alles auf der Erde zu regeln vermochte und auch mit den Rechtsradikalen fertig würde. Ihr einziger Sohn aber zweifelte an der Existenz des Allmächtigen, denn wenn es ihn wirklich gäbe, dachte er, dürfte er nicht bei so einer Ungerechtigkeit nur zuschauen."Wieso wirft er nicht auch einmal eine Bombe, diesmal auf die Aggressoren?", fragte er. Und wenn Olga sagte: "Gott ist gütig und gerecht und wirft nicht mit Bomben herum", fürchtete ihr Sohn, das nächste Opfer der Neonazis zu werden. Und als sie ergänzte: "Im Gegenteil, er wird die Verirrten auf den rechten Weg bringen", hielt er sie langsam für verrückt und wollte die Diskussion beenden.
Aber Olga ließ ihn immer noch nicht gehen."Samy, um Gottes willen, der Anschlag neulich war nicht gegen dich gerichtet. Das dort waren Asylanten, Zuwanderer und Zigeuner."
„Mama, man sagt nicht Zigeuner. Das ist beleidigend und herablassend."
„Ja, in deinem Fall schon. Wie kommt überhaupt jemand darauf, dich Zigeuner zu nennen?"
„Aha, das hätte ich beinahe vergessen. Ich bin kein Zigeuner, sondern ein Österreicher mit Migrationshintergrund. Zumindest in Wien. Und hier? Bin ich hier überhaupt jemand?", schrie er sie an, und Olga wunderte sich, warum er schon wieder so zynisch war und sich selbst für einen Zigeuner hielt, auch wenn er definitiv keiner war.
(S. 135f)
© 2018 Gmeiner Verlag