Leseprobe:
Als ich Klaus nach den Weihnachtsferien wieder in Wien in seiner Wohnung antraf, dachte ich im allerersten Moment, sein eigenartiges Verhalten wäre die Begleiterscheinung eines epileptischen Anfalls. Von dieser Auslegung nahm ich nach einigen Minuten Abstand. Diesmal war es definitiv anders. Fast alles an Klaus war anders, verändert; er war nicht mehr das Original. Vielleicht war es in Kärnten zurückgeblieben. Vielleicht hatte jemand einen fehlerhaften Klon erstellt. Wäre es Anfang April gewesen, hätte es ein schlechter Aprilscherz sein können. Vielleicht sogar ein guter. Aber es war nicht Anfang April, sondern Anfang Januar, und es gab noch keine menschlichen Klone, zumindest keine, von denen ich etwas wusste.
Da stand er, weniger als einen Meter von mir entfernt, und sagte etwas, das ich nicht vergessen werde, das ich nicht vergessen kann, weil es der Anfang war von alledem, und ich mir wünschte, es hätte ihn nicht gegeben, dass der Anfang, der echte, dort geblieben wäre, wo er gewesen war, nämlich in der Ästhetik-Vorlesung im Hörsaal der Universität, dass die Person, die ich dort kennengelernt hatte, dieselbe Person geblieben wäre, dass sie in den Weihnachtsferien nicht aufgehört hätte zu existieren.
"Hast du aufgepasst", sagte er, "als du gekommen bist, hast du aufgepasst, dass dir niemand folgt?"
"Wer soll mir denn gefolgt sein?", fragte ich mit einem schiefen Lächeln.
"Na, die Kuttenträger", sagte er. "Manchmal haben sie diese braunen Kutten an, mit den Kordeln um die Hüften, du weißt schon, aber das ist dann schon die doppelte Tarnung, die Tarnung, die Tarnung, verstehst du?"
"Wie bitte?"
"Na, in Wahrheit haben sie drunter die schwarze Priesterkleidung an. Oben drüber die braunen oder weißen oder grauen Kutten, damit man denkt, dass das ganz normale Brüder sind, also Franziskaner oder Zisterzienser, Benediktiner, Minoriten, Dominikaner und so weiter, mit der Kapuze hinten dran, das kennst du bestimmt, aber das ist nur ein Ablenkungsmanöver. Denn unten drunter, ja, da versteckt sich dann das Dunkle."
Klaus ging zum Fenster, öffnete es, beugte den Oberkörper über den Rahmen und das Fensterbrett, schob den Kopf bedrohlich weit ins Freie und spähte zur Straße hinab; er schien dort nach etwas – oder jemandem – Ausschau zu halten.
"Klaus, soll das ein Witz sein?", fragte ich. "Wenn ja, kannst du bitte damit aufhören?"
Er kam zurück ins Wohnzimmer, sofern man in diesem Fall von einem Zurückkommen sprechen kann.
"Aber das ist doch kein Witz", sagte er und deutete mit dem Zeigefinger zum geöffneten Fenster. "Die wollen ja, dass ich alleine damit dastehe. Wenn du so willst, ist das der Witz an der ganzen Sache, ja. Das planen die doch, schon von Anfang an haben sie das so geplant. Dass mir nämlich keiner glauben wird, das haben sie mir prophezeit. Vor zwei Tagen nämlich bin ich unten gewesen bei der Bank um die Ecke, und da hab ich sie das erste Mal gesehen. Und gleich hab ich gewusst, dass die schon immer dagewesen sind, dass ich nur zu dumm gewesen bin, um sie zu erkennen. Seit Jahren müssen sie mir schon gefolgt sein. Ich habe einfach keine Auge dafür gehabt. Ich hätte sie längst sehen können, verstehst du? Aber die haben sich eben gut zu tarnen gewusst. Blöd sind sie nicht, das muss man denen lassen, blöd sind sie echt nicht. Aber gemein sind sie, die lenken das alles vom Hintergrund aus, die Fäden haben sie alle fein säuberlich in der Hand, an jedem Finger einen Strick und damit ziehen sie das Geschehen der Welt in die Richtung, die sie haben wollen."
"Äh, entschuldige Klaus, hallo!? Ich kann dir leider echt nicht folgen", sagte ich mit gerunzelter Stirn. "Was bitte soll das?"
"Was es soll, fragst du? Was es soll? Ja, aber siehst du denn nicht? Es verläuft alles nach deren Plan. Dass du mich fragst, was das soll, das haben sie doch eingefädelt. Dass ich jetzt so dastehe, als würde ich etwas Unverständliches von mir geben. Wo doch alles klar ist. Das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich die Zusammenhänge erkennen kann. Bei der Bank nämlich, es war genau der Moment, als ich meine Karte in den Schlitz gesteckt habe, um Geld abzuheben, da habe ich sie draußen stehen gesehen, die beiden Männer in Schwarz, oder war es Braun oder Grau, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls habe ich beim Automaten sofort auf Abbruch gedrückt, weil ich gewusst habe, dass, wenn ich den Code eingebe, sie mich haben würden, verstehst du? Den Zugang hätten sie gehabt zu allem, was ich davor gemacht habe, und zu allem, was noch kommen mag. Ich sage nur Erbschaft, mein Lieber, darauf sind sie nämlich aus.
(S. 61-63)
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