Aus Seldas Mundwinkeln wird der Schaum ausgelaufen sein, das weiß sie von einem Film, den sie unlängst im Fernsehen gesehen hat, und sie wird schlaff daliegen. Das eine Bein wird von dem zu engen Sofabett herunterhängen und ihre Augen werden offen und nach oben gedreht sein. Vielleicht wird sie ja alles genau so sehen können wie jetzt. Es heißt ja, dass die Toten alles sehen können. Sie wird dann von oben herabschauen, wie sehr sie geliebt wurde und wie die Mutter klagen wird, dass ihre älteste Tochter von ihnen gegangen ist, und sie wird nicht wissen, was passiert ist und wird verzweifelt sein.
Währen die Mutter klagt, wir die vier Jahre jüngere Schwester in ihrem Kasten nachgesehen und die leere Tablettenpackung und den Zettel mit der Strichliste an der Innentür des Kastens gefunden haben, wo unter dem Titel „Eingenommene Tabletten“ ein Strich neben dem anderen gezogen worden ist.
Da sie für ihr Alter ein sehr intelligentes Kind ist, wird sie die Lage schnell überblickt und das der Mutter mitgeteilt haben, woraufhin die Mutter ihre Klage ein wenig abgeändert haben wird. Sie wird nun nicht mehr „Ach mein Kind, warum bist du so jung von uns gegangen!“ klagen, sondern „Kind, warum hast du mir das angetan?“ Mit diesen Gedanken liegt Selda Mutlu auf ihrem zu engen Bettsofa und beobachtet die eingebildete Szene.
(S. 27 f)
© edition exil, 2012