Leseprobe
Vera trank Zitronenlimonade und seufzte bei dem Gedanken, sich noch einmal die Zähne putzen zu müssen. Es machte ihr Sorgen, dass sie mehr über die Heidelbeeren nachdachte als über ihren Mann. Das war sie, die sich seltsam verzerrt im Fliesenboden spiegelte: knapp sechzig. Gut erhalten. Jung geblieben. Bald Großmutter. Und sie lebte am Meer, wo sie seit dreißig Jahren nicht hingehörte. Am Anfang hatte sie Muscheln gesammelt. Dann hatte sie sie liegen gelassen.
Die Vergangenheit schlich sich ein mit ihren alten Aschehäufchen. Sie ging auf die Veranda hinaus, um ihnen zu entkommen. Der Wind vom Meer her, aus dem Westen, der war oft kühl, sogar im Sommer. Vera band ihren Morgenmantel zu. Sie blieb gern ungesehen, blieb zunächst im Mondschatten stehen, nahe der Tür. Ein Urinstinkt vielleicht: im Dunkeln nicht laut sein, aufpassen, wohin man tritt, lieber auf dem Gras als auf dem Schotterweg gehen, angestrengt in die Schatten horchen, nach Gefahren lauschen. Dann trat sie auf die Veranda hinaus, wo die Nacht ihr entgegenschlug mit wenigen Sternen und orangen Wolken. Sie lehnte sich an die Brüstung und blickte hinaus aufs Meer. Das Mittelmeer. Schwierig darin zu schwimmen, jedenfalls hier, gleich dort unten, wo eine kleine Stiege hinabglitt, die sie, Vera, jeden Morgen an das Meeresufer brachte, wo im oft zu warmen Wasser Strömungen an ihr zerrten, als wollten sie mehr von ihr. Dort am Strand trat sie manchmal in kleine, schwarze Ölklumpen, die schwer von Turnschuhen zu entfernen waren, geschweige denn von Fußsohlen. Was war da noch? Frische Fische. Die vage Möglichkeit von Haien. In Mondnächten ein wogender, schwarz-silbriger Spiegel. Schwarz die Nachtsee und silbrig die Gischt. Vera war lange nicht mehr daheim gewesen.
(S. 164-165)
© 2018 Edition Keiper, 2018