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Joseph Roth: Radetzkymarsch, Die Kapuzinergruft.

Joseph Roth: Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft als Chroniken des Zeitverfalls. In Komplettlesungen von Michael Heltau und Peter Matic

Radetzkymarsch
Gelesen von Michael Heltau
14 CD, 17 Std. 22 Min.
Zürich: Diogenes 2007
ISBN 978-3-257-80159-0

Die Kapuzinergruft
Gelesen von Peter Matic
5 CD, 5 Std. 35 Min.
Zürich: Diogenes 2007
ISBN 978-3-257-80160-6

In einer im Sommer 1935 im Pariser Tageblatt erschienenen Erzählung findet Joseph Roth mit Die Büste des Kaisers eine Metapher für sein Plädoyer zur Restauration der Monarchie: Anlässlich eines Kaisermanövers hatte der Graf Franz Xaver Morstin einst das aus Sandstein gehauene Abbild des geliebten Herrschers in seinem Garten aufstellen lassen. Als ihm dies nach dem Krieg von der Verwaltung verboten wird, lässt er die Büste in einem feierlichen Akt zu Grabe tragen und verfügt, anstelle der Familiengruft neben dem unverwesbaren Abbild seines geliebten Kaisers beigesetzt zu werden. In der märchenhaften Erzählung wird die Büste zum Sinnbild der Hoffnung auf die ‚Wiederauferstehung‘ der österreichisch-ungarischen Monarchie. Diese Thematik verknüpfte Roth, der seit Ende der 1920er Jahre zu einem österreichischen Legitimisten geworden war, in seinem wohl bedeutendsten Roman Radetzkymarsch (1932) sowie dem Folgeroman Die Kapuzinergruft (1938) mit einem vielschichtigen Mehrgenerationenporträt, in dem individuelle und kollektive Geschichte meisterhaft und auf zum Teil ironisch-witzige Weise miteinander verknüpft werden. Beide Romane liegen nun in Komplettlesungen als Hörbücher vor. Die Verlagsentscheidung, die Bücher ungekürzt einsprechen zu lassen, ist mutig, denn sie verlangt dem Hörer Konzentration und vor allen Dingen Ausdauer ab: Radetkzkymarsch in der Lesung von Michael Heltau nimmt 1042 Minuten in Anspruch, wogegen einem Die Kapuzinergruft, gelesen von Peter Matic, mit 335 Minuten als ein „sonntäglicher Hörspaziergang“ erscheinen mag. Bei beiden Hörbüchern – soviel sei vorab verraten – lohnt sich die Zeitinvestition jedoch uneingeschränkt.

Insbesondere Die Kapuzinergruft lädt aufgrund ihrer monologischen Konzeption geradezu zum mündlichen Vortrag ein. Unter weitgehendem Verzicht auf Dialoge werden die Geschehnisse aus der Sicht des bürgerlichen Décadent Franz Ferdinand Trotta berichtet, einem entfernten Verwandten des Leutnants Joseph Trotta, auch genannt: der Held von Solferino, von dem der Radetzkymarsch berichtet. Lauscht man nun der gefühlvollen Stimme des österreichischen Hörbuchinterpreten und Schauspielers Matic, so schmilzt die Distanz von Erzählzeit und Gegenwart des Rezipienten ein. Man fühlt sich wie ein Enkel Franz Ferdinands, dem dieser – zwischen mystifizierendem und historischem Erzählen schwankend – seine Erlebnisse zwischen 1913 und 1933 anvertraut.

Nicht durch geschichtliche Ereignisse oder vermeintliche Faktentreue, sondern in erster Linie anhand der durch Matics Tonfall transportierten Gemütslagen werden die Tristesse und gepflegte Langeweile vor dem Ersten Weltkrieg sowie die Ernüchterung nach dem Krieg erlebbar. Intensivierung erfährt die Imaginationskraft des Zuhörers durch Roths visuelles Erzählen, das Stimmungen in Bilder und kreative, meist sehr gegenständliche Vergleiche übersetzt: „Es war damals, kurz vor dem großen Kriege, ein höhnischer Hochmut in Schwung, ein eitles Bekenntnis zur sogenannten ‚Dekadenz‘, zu einer halb gespielten und outrierten Müdigkeit und einer Gelangweiltheit ohne Grund. In dieser Atmosphäre verlebte ich meine besten Jahre. In dieser Atmosphäre hatten Gefühle kaum einen Platz, Leidenschaften gar waren verpönt. Meine Freunde hatten kleine, ja unbedeutende ‚Liaisons‘, Frauen, die man ablegte, manchmal sogar herlieh wie Überzieher; Frauen, die man vergaß wie Regenschirme oder absichtlich liegenließ wie lästige Pakete, nach denen man sich nicht umsieht, aus Angst, sie könnten einem nachgetragen werden.“

Großartig gezeichnet ist die Mutter des Erzählers. Wie viele von Roths Protagonisten wächst der Held der Geschichte vaterlos auf. Frau Trotta ist eine kontrollierte, würdevolle Respektperson, die die Mütterlichkeit gegen eine väterliche Autoritätshaltung getauscht hat. Als der Erzähler 1918 unversehrt aus dem Krieg und der sibirischen Gefangenschaft heimkehrt – Kampfbeschreibungen spart der Roman weitgehend aus –, lässt sich die Mutter zu einer für sie ungewöhnlich emotionalen Reaktion hinreißen. Bereits am nächsten Morgen ist die Nüchternheit jedoch zurückgekehrt und der seit Jahren eingeübte Alltag nimmt erneut seinen routinierten Lauf. Scheinbar spurlos gehen die historischen Ereignisse an der alten Frau vorbei, die damit zur Bastion alter Werte und Gepflogenheiten wird: „Ich küßte ihr die Hand, sie küßte mich auf die Stirn. Ja, das war meine Mutter! Es war, als ob nichts geschehen wäre, als wäre ich nicht aus dem Krieg eben erst heimgekehrt, als wäre die Welt nicht zertrümmert, als wäre die Monarchie nicht zerstört, unser altes Vaterland mit seinen vielfältigen unverständlichen, aber unverrückbaren Gesetzen, Sitten, Gebräuchen, Neigungen, Gewohnheiten, Tugenden, Lastern noch vorhanden. Im Hause meiner Mutter stand man um sieben Uhr auf, obwohl man vier Nächte nicht geschlafen hatte. Gegen Mitternacht war ich angekommen. Jetzt schlug die alte Kaminuhr mit dem müden, zarten Mädchengesicht drei. Drei Stunden Zärtlichkeit genügten meiner Mutter. Genügten sie ihr? – Sie erlaubte sich jedenfalls keine Viertelstunde mehr, meine Mutter hatte recht; ich schlief bald mit dem trostreichen Bewußtsein ein, daß ich zu Hause war, mitten in einem zerstörten Vaterland, in einer Festung schlief ich ein. Meine alte Mutter wehrte mit ihrem alten schwarzen Krückstock die Verwirrungen ab.“

Der Roman erzählt zwanzig Jahre aus dem Leben Franz Joseph Trottas nebst seiner beiden Freunde, dem aus dem Heimatort der Trottas stammenden Bauern Joseph Branco und dem jüdischen Kutscher Manes Reisiger. Sechzehn Stunden bevor Trotta in den Krieg zieht, heiratet er seine Jugendliebe Elisabeth, das Paar muss sich jedoch sofort wieder trennen. Als der Ehemann heimkommt, arbeitet Elisabeth als Kunstgewerblerin und ist ihrer lesbischen Kunstlehrerin hörig. Trotta gelingt es sie wiederzugewinnen. Während der Nachkriegsjahre halten sie sich mit einer Pension über Wasser und bekommen einen gemeinsamen Sohn. Die Kleinfamilienidylle hält jedoch nicht lange vor. Elisabeth verlässt Mann und Kind, um in Amerika eine Schauspielkarriere zu wagen. Befremdet erlebt Trotta die Revolutionszeit der 1920er Jahre in Wien und als der Nationalsozialismus seinen Einzug hält, hat er endgültig seine ideologische Orientierung und seinen Platz in der neuen Gesellschaft verloren. Der Roman endet mit einem Friedhofsbesuch, der – anders als Die Büste des Kaisers – für Restaurationshoffnungen keinen Raum lässt: „Die Kapuzinergruft, wo meine Kaiser liegen, begraben in steinernen Särgen, war geschlossen. [...] Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta? ...“, fragt sich der Erzähler ernüchtert.

Auch der zeitlich früher erschienene und dem Erzählvorgang der Kapuzinergruft vorgeschaltete Radetzkymarsch erzählt den Zerfall des Habsburgerreiches anhand einer sich über drei Generationen erstreckenden Familiengeschichte. In der Schlacht von Solferino rettet der (fiktive) Leutnant Trotta durch eine geistesgegenwärtige Reaktion dem Kaiser das Leben und wird dafür geadelt. Als er jedoch feststellt, dass seine Tat zur Propagierung eines zweifelhaften vaterländischen Heldentums missbraucht wird, zieht er sich in ein bäuerliches Leben zurück und untersagt seinem Sohn den Militärdienst. Dieser wird daraufhin Staatsbeamter, erzieht jedoch den eigenen Sohn streng nach dem militärischen Ehrenkodex. Carl Joseph wird Offizier. Dem übermächtigen und durch den Vater in der Kindheit wiederholt zum Vorbild gemachten Großvater, dem ‚Helden von Solferino‘, kann er allerdings nicht genügen. Während ersterer dem Kaiser das Leben rettete, begnügt sich Carl Joseph mit der Rettung des kaiserlichen Bildnisses aus dem Bordell, das sein Regiment regelmäßig aufsucht. Weder so draufgängerisch wie sein Großvater noch so diszipliniert und pflichtbewusst wie sein Vater ist Carl Joseph ein sensibler und weicher Charakter, der sich für den Militärdrill mit seinen autoritären Strukturen und überkommenen Traditionen – etwa dem Duellieren, dem sein einziger Freund zum Opfer fällt – nicht eignet.

Carl Joseph will dem Ethos der Pflichterfüllung genügen, scheitert jedoch an diesen Vorgaben, wird alkohol- und spielsüchtig und treibt sich und seine Familie in den finanziellen Ruin. Grandios spricht Michael Heltau die Szene, in der sich der Vater zur Rettung seines Sohnes und der Familienehre zum Kaiser begibt, um dort in Erinnerung an den Helden von Solferino um „Gnade für seinen Sohn“ zu bitten. Im Gegensatz zur Kapuzinergruft werden die Geschehnisse im Radetzkymarsch durch einen allwissenden Erzähler berichtet, dieser findet sich jedoch durch den Einsatz von innerem Monolog und erlebter Rede in die Bewusstseinslagen seiner Figuren ein, die Heltau kongenial stimmlich umzusetzen weiß. Sowohl Michael Heltau als auch Peter Matic finden in ihren Lesungen einen ausdrucksstarken Ton. Mit ihrem Wiener Dialekt treffen beide Rezitatoren den typischen Roth-Sound und entwickeln eine nuancenreiche Sprechweise, die der zwischen Melancholie und Ironie schwankenden Stimmungslage der Romane gerecht wird. Die Lesungen verdeutlichen, wie viel sich die Romankunst des Fabulierkönigs Joseph Roths der mündlichen Überlieferung, der Sagen- und Legendenwelt verdankt und sie werden trotz der langen Spieldauer nie ermüdend.


Ulrike Weymann
August 2011




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