Ilse Aichinger
Knöpfe
Ein Hörbuch von Schweizer Radio und Fernsehen (SFR)
im Christoph Merian Verlag, Basel 2011
Laufzeit: 1:00:27
ISBN 978-3-85616-551-2
Marlen Haushofer
Der Knabe im Dschungel
edition philosophisch-literarische reihe
2010, Linz, StifterHaus
ISBN 978-3-900424-92-3
Für den Hörspielautor und Lyriker Günter Eich bedeutete die Hörspielproduktion, wie für viele andere AutorInnen, ein neues Experimentierfeld und eine wichtige Einnahmequelle. Vielleicht unter seinem Einfluss wandte sich Ilse Aichinger diesem Genre zu und schrieb 1953 ihr Hörspiel-Debut "Knöpfe", im selben Jahr wurde Eich mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. In dem 1948 erschienenen Roman "Die größere Hoffnung" hatte sie ihre literarische Richtung festgelegt. Sprach-und gesellschaftskritisch zeigt sie sich auch in ihrem ersten Hörspiel, das als einziges "realistisches" gilt und doch mehrere Lesarten zulässt.
Bei dem Hörbuch handelt es sich um eine Aufnahme des SFR aus dem Jahr 1974. Ein mechanischer, fast unscheinbarer Ton begleitet drei Frauen bei ihrer Arbeit im "Laden". Dieser Ton lässt an einen technischen oder laborähnlichen Raum denken, in dem die Arbeiterinnen Zierknöpfe mit menschlichen Namen sortieren. Nur Ann scheint ein seltsames Geräusch im Nebenraum wahrzunehmen, das sie mit Hagel oder Feuer vergleicht. Immer wieder sprechen Ann, Jean und Rosie darüber, wie aussichtslos es ist, eine andere Arbeit zu finden, und wie froh sie über ihren Arbeitsplatz sind. Anns Freund John sucht vergeblich einen Job bei den "Docks". Er misstraut Anns Arbeit, die sich selbst unwohl in der bedrückenden Atmosphäre des Ladens fühlt. Nach Ansicht der Knöpfevertreter Bill und Jack "denkt" Ann zu viel. Die beiden üben erpresserische Macht über die Frauen im Laden aus bis diese ganz "klein" werden. Als Jean eines Tages verschwindet und ein neuer Knopf mit ihrem Namen auftaucht, macht Ann sich auf die Suche nach ihr.
Soweit der Inhalt des Hörspiels, das unter der Regie von Joseph Scheidegger eine, der Sprache Aichingers entsprechende, nüchterne und somit zeitlose Umsetzung findet. Die hellen Stimmen der Frauen vermitteln im offenbar kahlen Raum Verlassenheit und aufgesetzten Optimismus, mit dem sie sich über die Situation hinwegretten. Von Beginn an verströmt die zarte Stimme von Ann (Herlinde Latzko) Verstörung, die einerseits zunimmt und sich andererseits in eine Wehrhaftigkeit verwandelt, die Bill und Jack nicht in den Griff bekommen. Über die Stimmen vermitteln sich Täter, Mitläufer, Opfer und jene, die sich zu wehren versuchen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges drängt sich die Assoziation mit den Feueröfen der nationalsozialistischen Konzentrationslager schon bei der ersten Erwähnung des eigentümlichen Feuerprasselns, das niemand außer Ann hören will, auf. Wie mag dies 1953, bei der ersten Radiosendung, gehört worden sein? Die Undeutlichkeit, mit der man sich in der Zeit des Wiederaufbaus an den Krieg erinnerte, setzt Ilse Aichinger als Ahnung in ihrem Hörspiel ein. Mit keinem Wort wird das Geheimnis um die Knöpfe gelüftet, aber je begieriger die Frauen darauf bedacht sind, sich nicht einzumischen und nicht zu "denken", desto sicherer werden die ZuhörerInnen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. "Knöpfe" spielt mit der reinen Vermutung über ein System willkürlicher Macht und deren Folgen. "Was wissen wir, John?" fragt Ann ihren Geliebten. "Wir haben es nicht gewusst", war eine der meistgebrauchten Redewendungen nach dem Krieg. Je weiter sich die Schuld des Holocaust in die Vergangenheit entfernt, umso bereitwilliger tragen Generationen, die nicht selbst Täter sind, die Verantwortung für die Taten der Eltern und Großeltern. Heute wie damals verschließen Menschen, die direkt von Krieg betroffen sind, die Augen vor der unmittelbaren Erinnerung - über Kunst oder Literatur lässt sich ein sensibler Zugang in das tiefere Bewusstsein finden.
Über diese Assoziation hinaus ist das kleine Hörspiel-Drama von großer Allgemeingültigkeit. Das Misstrauen gegenüber und das Infragestellen von Systemen oder gesellschaftlichen Zwängen, die unüberwindbar erscheinen, in die Menschen hineingezogen werden, ohne darüber nachzudenken, um ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, bringt diese ins Wanken. Der "Arbeitsplatz" ist nicht nur in Zeiten von Diktaturen ein Druckmittel, sondern auch in Zeiten der Demokratie, in der andere Mechanismen der "Erpressung" eingesetzt werden, wie die Finanz- und Marktwirtschaft, die als selbstverständliches Lebens- und Werteprinzip gilt.
Nicht zuletzt hat die Wirklichkeit im 21. Jahrhundert die literarische Utopie eingeholt: bis zu 100 Diamanten lassen sich aus den sterblichen Überresten einer Person in einer "Diamantbestattung" herstellen. Im visionären Hörspiel von Ilse Aichinger unterliegt der Mensch der Erpressung oder auch der Verführung durch systematische Versprechungen. Heute übernimmt die Marktwirtschaft den Weg des Menschen zum Zierknopf ohne Rückkehr.
"Der Knabe im Dschungel" stammt aus unveröffentlichten Texten von Marlen Haushofer. Ursprünglich als Fernsehspiel geschrieben, wurde es nun als Hörspiel gestaltet. Haushofer stellt darin die typische Nachkriegsfamilie in ihrer vorgeblich heilen Welt dar. Der Knabe Thomas ist Gymnasiast mit einer netten Mutter und einem autoritären Vater. Seine ältere Schwester Hedi hat bereits eine eigene Familie. Die Frauen sind perfekte Hausfrauen, Thomas ist der verwöhnte Bub und Bruder. Mehr zufällig stößt er auf Familiengeheimnisse, die den Krieg betreffen: der Vater hat Erschießungskommandos befohlen, die Mutter hat, um sich und die Kinder zu retten, ein Verbrechen begangen. Aber: "Anständige Leute reden nicht über diese Dinge."
Der Gewissenskonflikt, der in einer Situation entsteht, in der es um Leben oder Tod geht, ist unlösbar und traumatisierend. Ein solcher Konflikt muss verschwiegen werden, wenn man in Ruhe leben will – diese Schlussfolgerung zieht zumindest die Familie von Thomas. Beunruhigende Ruhe ist oftmals ein Motiv im Werk Marlen Haushofers, mit der alles zugedeckt wird, was nicht gesellschaftskonform ist. In diesem Text spricht die Autorin wie selten sonst die Verbrechen des Krieges jedoch direkt an.
Die beiden Hörspiele "Knöpfe" von Ilse Aichinger (1953) und "Der Knabe im Dschungel" (1960) von Marlen Haushofer basieren auf eigenen Erfahrungen in einer vom Zweiten Weltkrieg geprägten Jugend. Die Zweifel am Verhalten der Menschen, die sich nicht erinnern oder nichts wissen wollen, und die daraus entstehenden Fragen erwachsen bei Thomas (in „Der Knabe im Dschungel“) und Ann (in „Knöpfe“) aus ganz ähnlichen Motiven: etwas Furchtbares muss geschehen sein, das sich aber der Kenntnis der beiden - vom Furchtbaren noch Unberührten - entzieht. Thomas erlangt durch Hedi die Gewissheit, dass die moralisch unantastbaren Eltern von großer Schuld beladen sind. Ann wird nie über den Inhalt der Bedrohung aufgeklärt, was die Bedrohung und die daraus resultierende Schuld allerdings nicht verringert. Da wie dort gibt es Machtverhältnisse, die Ann und Thomas "klein" halten wollen. Während Thomas in die Welt der "Großen" aufsteigt und sich dem allgemeinen Verschweigen anschließt, verweigert sich Ann in zweifacher Hinsicht: nachdem Jean auf mysteriöse Weise verschwunden ist, entzieht sie sich dem Zugriff als Mitwisserin und als mögliches Opfer. Während Marlen Haushofer "konkret" erzählt, deutet Ilse Aichinger nur an. Die ähnlichen Themen des Verschweigens (bei Haushofer) und des Verschwindens (bei Aichinger) machen gesellschaftliche Machtstrukturen sichtbar.
Thomas Eintritt in die Welt der Erwachsenen ist mit der Erkenntnis verbunden, dass der Mensch kaum eine Wahl hat. Die putzenden Hausfrauen und die tüchtigen Geschäftsmänner erinnern sich nicht an die (Schand)Taten der vergangenen Jahre, zu denen sie im Krieg gezwungen waren, weil ein auswegloser innerer Konflikt bestand. Das gilt auch für jene, die heldenhaft handelten, wie der Nachhilfelehrer Dr. Heinz, der zwar andere Menschen vor dem Tod rettete, aber seine eigene Familie dabei verlor. In gewissem Sinne entschuldet Marlen Haushofer die Kriegsgeneration, zeigt aber auch an der Figur von Hedi (die ihren Ehemann einer anderen Frau "ausgespannt" hat), dass der Mensch fast immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein wird, auch wenn es zu Lasten anderer geht. Beispiele von Wehrhaftigkeit, wie die von Dr. Heinz oder von Ann (in "Knöpfe"), sind bei beiden Autorinnen mit einem hohen Preis verbunden. Marlen Haushofer macht ihr Fernsehspiel "konkret" zeitgeschichtlich fest und situiert es in einem typisch österreichischen Ambiente. Ilse Aichinger arbeitet dagegen im neutralen und somit globalen Raum, was sich an der Namensgebung der handelnden Personen über englische, international verständliche, Allerweltsnamen ablesen lässt.
Die Zeitbezogenheit von Marlen Haushofer versucht Thomas Hinterberger in seiner Regie umzusetzen, wenn etwa "der Knabe" nach einem Mokka verlangt und im Hintergrund die Espressomaschine zischt und faucht. Die Entwicklung von Thomas (Jonathan Schimmer) vom "Knaben" zum Mann hätte man stimmlich vielleicht noch besser herausarbeiten können. Alles in allem ist die Umarbeitung des ursprünglichen Fernsehspiels in die Form des Hörspiels jedoch gelungen und bekommt somit die Chance, ein größeres Publikum zu erreichen.
So sparsam die Angaben auf der CD, dem "Hörbuch" selbst, gehalten sind (es fehlt etwa die Laufzeit), so liebevoll ist das Booklet im Buchformat mit 13 Seiten gestaltet. Es macht aus dem Hörbuch eine bibliophile Ausgabe mit einem erhellenden Text von Evelyne Polt-Heinzl, in dem sie mit der sauberen Welt der 1950er und 60er-Jahre kräftig aufräumt. Hausarbeit deklariert sie als "das physische wie psychische Workout dieser Frauengeneration" (S. 2). Weiters illustrieren alte Fotografien von Damen in der Kochschürze oder mit toupiertem Haarturm vorm Schwarz-Weiß-Fernseher das Bild der peinlich genau sortierten Hausfrau, als die sich Marlen Haushofer auch selbst sah. Die ausführliche Biografie und das Werkverzeichnis der Autorin zeigen uns allerdings noch ein anderes Bild.
Beatrice Simonsen
18. Jänner 2012