September 2003
Wohl kaum eine andere österreichische Autorin hat ein so umfangreiches Werk vorzuweisen wie Marianne Fritz. Trotzdem kennt kaum jemand die Literatur von Fritz - Leser findet sie nach wie vor eher in Germanistenkreisen. Ein Theaterprojekt will das ändern, und Karin Cerny versucht sich in das sperrige Werk einzulesen.
Es ist gar nicht so einfach, der Autorin Marianne Fritz auf die Spur zu kommen. Im Kindler Literaturlexikon folgt auf Barbara Frischmuth ein gewisser Walter Helmut Fritz. Eine Marianne sucht man vergeblich. Die letzten öffentlichen Lesungen der menschenscheuen Autorin liegen weit in den 70er Jahren zurück. Die vereinzelten Fotos, die von Fritz in Umlauf sind, zeigen eine Frau mit eigenwilliger Brille. Fragt man nach ihrem Werk, wird man in Buchhandlungen auf Antiquariate verwiesen. Im Internet stößt man zwar auf ihren zwölfbändigen Monumentalroman "Dessen Sprache du nicht verstehst" (3.392 Seiten, geschrieben in nur vier Jahren), der für rund 120 Euro angeboten wird, die darauffolgenden "Naturgemäß I" und "Naturgemäß II" (gemeinsam nochmal rund 10.000 Seiten) wird man hingegen kaum, und wenn dann nur zu horrenden Preisen finden. Ein Münchner Antiquar merkt bei der Beschreibung des Zustandes der Ausabe lapidar an: "Schönes (natürlich ungelesenes) Exemplar".
Marianne Fritz ist wahrscheinlich die ungelesenste Autorin überhaupt - noch vor Hans Henny Jahnn, Arno Schmidt und Robert Musil. Aber ist das schon ein Qualitätsmerkmal? Ist Fritz eine unterschätzte Autorin, die man wiederentdecken sollte? Oder bleibt sie auch weiterhin vorrangig Germanistenfutter? Das Stadt Theater Wien - bekannt für seine Vorliebe für sperrige Texte, die nach monatelangen Selbstversuchen als Klanginstallationen in eigenwilligen Räumen präsentiert werden - wollte es wissen: Seit April 2002 liest die Gruppe öffentlich Texte von Marianne Fritz. In einer Kohlenhalle am Gelände des ehemaligen Aspangbahnhofs präsentiert sie jetzt unter dem Titel "Im Weißen Adlerweißland" eine Theaterversuchsanordnung mit zwölf Seiten aus "Naturgemäß I". Für Anne Mertin vom Stadt Theater Wien ist Fritz "ein verlängerter Nestroy", sie ist begeistert vom theatralischen Klang der Texte und von der "wahnsinnigen Bosheit der Autorin".
"Welch eine Anmaßung", schrieb, weniger euphorisch, der "Spiegel", als "Dessen Sprache du nicht verstehst" 1985/86 erschien. Die professionelle Kritik war gespalten bis ratlos. Die FAZ hatte schnell ein abwertendes Urteil zur Hand für diesen "riesenhaften Flohzirkus", der "Spiegel" gab seinem Rezensenten ein Monat Urlaub, um sich in Ruhe auf dem Land in das Werk zu stürzen. Er kapitulierte auf Seite 2.934. Rolf Michaelis von der "Zeit" schaffte es bis auf Seite 1.235 in diesem "größenwahnsinnigen Werk". Kritiken wurden "Etappenberichte". Konrad Paul Liessmann hingegen hat für den "Falter" (2/86) einst alles gelesen, die Schönheit des Textes gepriesen und seine faulen Kollegen gescholten. Wir sehen: Marianne Fritz produziert Spezialisten. Aber kann man Spezialisten trauen? Wer sich durch das Werk gearbeitet hat, muss beinahe begeistert sein - sonst müsste er ja zugeben, ziemlich viel Lebenszeit auf etwas verwendet zu haben, das ihm nichts gebracht hat.
Eigener Etappenbericht einer auf Seite 863 abgebrochenen Lektüre mit vielen Krisen: Erstaunlicherweise lässt sich "Dessen Sprache du nicht verstehst" im Kern sogar nacherzählen. Das Buch beginnt 1914 und erzählt die Geschichte vom Untergang der Proletarierfamilie Null in Kriegszeiten. Wäre nicht die wuchernde Sprache - ein lyrischer Ton, der allerdings in epischer Breite auftritt -, könnte man durchaus von kritischer Heimatliteratur sprechen. Bereits Liessmann hat diese seltsame Differenz zwischen "der Schlichtheit des Erzählten und dem hypertrophen Wuchern der Erzählung" benannt.
Überraschend auch, dass Marianne Fritz nicht unbedingt eine intellektuelle Herausforderung darstellt: Auktoriale Reflexionen fehlen, Fritz bleibt nah an ihren Figuren (an die 1.000!), obwohl sie polyphon erzählt. Die Frage ist, ob man in ihre ausufernde und eigenwillige Sprache und die ländlich geprägte Welt einen Zugang findet - einen Kosmos voll sprechender Namen wie "der König der Eierschwammerl", "der denkende Bienenvater" oder die Marktgemeinde "Nirgendwo". Großstädtische Literatur schreibt Fritz nicht: Frauen sind "Weiber" und religiöse Überlegungen durchziehen das Werk. Natürlich ist vieles ironisch gemeint. Aber wie ironisch kann man Namen nehmen, die klingen als kämen sie direkt aus "Herr der Ringe"?
Marianne Fritz, 1948 in der Steiermark geboren, stammt wie ihre Figurenwelt aus bescheidenen Verhältnissen, absolvierte eine Bürolehre, holte die Matura nach. Fritz lebt heute, von der Umwelt weitgehend abgeschlossen, in der Wiener Schottenfeldgasse und schreibt unermüdlich: dem Vernehmen nach ist "Naturgemäß III" beinahe abgeschlossen.
Die mehrere Bände umfassenden Sammel-Kassetten der beiden "Naturgemäß" sind bei Suhrkamp als Faksimile erschienen, wobei "Naturgemäß II" voll mit Landkarten und Zeichnungen ist, die den Text mitunter überlagern. Oft kommt man sich vor, als müsste man ein Physikbuch "lesen". Noch irritierender aber ist die Unterschrift von Fritz (die limitierte Auflage ist signiert): Mit Füllfeder steht da mit der Schrift einer Volksschülerin ihr Name klein wie in einem Schulbuch - so provokant bescheiden, dass man in Versuchung kommt, das als ironisches Rollenspiel zu verstehen. Hier ein hybrides Werk, hoch und unwirtlich wie der Großglockner, dort eine Autorin, die sich klein macht vor ihrer unheimlichen Sprachbesessenheit. Mit dieser Unterschrift stellt sie sich auf eine Stufe zu ihren Figuren. So sympathisch das ist, so unheimlich ist es auch.
"Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein Gläubiger Muslim vor der Kaaba", kommentiert Elfriede Jelinek auf Anfrage. "Wahrscheinlich bin ich im ganzen zu klein für Marianne Fritz, sie geht nicht in mich hinein."
Dieser Text ist auch im "Falter" 36/03 erschienen.