Originaltonaufnahmen 1962 - 1964
Es liest der Autor
2 CDs
Spielzeit: 110 Min.
ISBN 3-932513-32-0
supposé 2002
Auf die Doppel-CD trifft zu, was Ö1 unablässig von sich selbst behauptet: Die Lesungen Konrad Bayers aus dem Roman "der sechste sinn" gehören gehört, weil sie zu den unterhaltsamsten Tondokumenten der österreichischen Avantgarde zählen. Die Diskussionen dieser Texte innerhalb der Gruppe 47 gehören gehört, weil sie eindrucksvoll beweisen, was passiert, wenn formal avancierte Literatur unter den Maßstab der Moral gerät. Im September 1964 in Sigtuna (es war die zweite Tagung der Gruppe 47, auf der Bayer auftrat) meldete sich als erster der große Hans Mayer zu Wort. Vier Gründe führte er gegen das soeben Gehörte an: 1) Paßte ihm die jüdische Evokation der gewählten Eigennamen nicht. 2) Stellte er eine plagiatshafte Nähe zu den Keuner-Geschichten von Bert Brecht fest. 3) Verstörte ihn die Kühlheit der Bilder. 4) Fühlte er sich von der Tatsache abgestoßen, daß in diesen Texten alles nur von außen gesehen wird. Den letzten Einwand führt Mayer in epischer Breite aus: Der "planetarische" und "übermenschliche" Standpunkt, den Bayer in seinen Texten einnimmt, sei schlichtweg "inhuman". Es komme zu einer allgemeinen Sinnentleerung, innerhalb derer der Mensch als solcher nicht mehr erkennbar sei. Mayers Resumé: Es handle sich um eine "grausame" und "scheußliche" Prosa.
Erich Fried legt in seiner Wortmeldung noch ein Schäuflein nach. In nasalem Tonfall gibt er zu verstehen, daß in diesen Texten nicht nur konsequente Unmenschlichkeit am Werk sei, sondern wahre "Anti-Menschlichkeit". Die Gestalten, die Bayer beschreibt, seien nur vorgeschoben, um der "Sphäre des Unmenschen" zu dienen. So wie die Dinge im "sechsten sinn" beschrieben würden, ließen sich sämtliche Vorgänge in Auschwitz beschreiben, und zwar in einer Weise, daß zumindest in Wien darüber gelacht würde. Im wesentlichen sind es grausame Gymnasiastenwitze, die hier als Literatur daherkämen.
Ein Jahr zuvor, bei der Tagung der Gruppe 47 in Saulgau, hatte es Bayer mit den versammelten Moralisten noch bedeutend einfacher. Unter den Zuhörern befand sich damals der Philosoph Ernst Bloch. In seinem Statement hielt er die erkenntnistheoretischen Implikationen von Bayers Texten in einer Art und Weise fest, gegen die kein Widerspruch aufkam. Das Verabredete hört laut Bloch in den Texten Bayers auf, und die Welt erscheint als etwas ganz und gar Unheimliches, eine Tendenz, die bezeichenderweise mit Witz vorgetragen wird und von der die Philosophen noch so manches lernen könnten.
Verfiele man auf die Idee, die heutige österreichische Wirklichkeit an den damaligen Sätzen aus der Bundesrepublik Deutschland zu messen, ergäbe sich ein jämmerliches Bild. Die österreichische Philosophie der letzten Jahre (von manchen gar schon als Wende-Philosophie bezeichnet) hat natürlich rein gar nichts von Ernst Bloch und sie hat natürlich kein bißchen von Konrad Bayer gelernt. Zur Begleitmusik der politischen Wende gehörte gerade im Gegenteil die Erhöhung des moralischen Drucks auch auf die Literatur. Wenn man den Prozeß, den Österreich seit der Regierungsbeteiligung der FPÖ durchgemacht hat, schon durchaus als eine Normalisierung verstanden haben will, dann müßte man wohl auch das Husarenstück unternehmen, seinen kulturpolitischen Appendix als eine Normalisierung zu verstehen. Literaturkritik hebt sich unter diesen neuen, "normalisierten" Bedingungen nicht mehr von Kulturpolitik ab, ihrer Form nach feiern die bundesdeutschen Moraldebatten der 60er Jahre in Österreich "fröhliche Urständ". Teile der literarischen Öffentlichkeit sind bereits ganz nach dem Moralitätsgebot strukturiert: Nicht ob ein Text gut oder schlecht ist, wird verhandelt, sondern ob er die richtige Moral besitzt und dabei auch noch ein möglichst annehmbares Österreich-Bild zeichnet.
Wenn man sich die Texte Bayers heute anhorcht, vermeint man an ihnen noch immer etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit zu spüren, und das hängt vielleicht wirklich damit zusammen, daß das kulturpolitische Umfeld, um diese Texte nur ja grundlegend falsch zu verstehen, in Österreich heute gerade wieder einmal genau das richtige zu sein scheint. Wäre "der sechste sinn", an dem Bayer bis zu seinem Selbstmord Ende 1964 gearbeitet hat und der Fragment geblieben ist, nicht schon geschrieben, man müßte ihn heute neu erfinden, und man müßte gleich auch das Unverständnis miterfinden, auf das der Text (zumindest in der zweiten Lesung) vor der Gruppe 47 gestoßen ist. Das Unverständnis der Moralapostel schadet den Texten Konrad Bayers bezeichnenderweise nicht. Je weniger die Moral den Text zu fassen vermag (der Antisemitismus-Verdacht und die Auschwitz-Keule sind letztlich völlig unzulängliche Versuche), desto direkter wirkt dieser auf seine Zuhörer. Auf der Doppel-CD, die drei Lesungen Bayers versammelt, kann man sich davon unmittelbar überzeugen: Die Stimme des Autors wirkt so lebendig, als bezöge sich sein radikales Projekt literarischer Weltbefragung auf keine andere Zeit als die heutige.
Originalbeitrag
Klaus Kastberger
3. Dezember 2002