Sprecher: Paul Burian
Spieldauer 54:54 Min.
ISBN 3-7857-1253-7
Produktion: Bayerischer Rundfunk 2002
Köln: WortArt, 2002
10.6.2000, Klaus Siblewski erreicht nach mehreren telefonischen Versuchen jemanden in Jandls Wohnung: "... ob ich nicht weiß, dass Ernst Jandl gestern Abend gestorben ist." Mit dem grammatisch falschen Indikativ springt die Grammatik aus dem Konjunktiv eins, in dem die gesamte CD durchwegs indirekt erzählt; Siblewski belässt die Faktizität der Todesnachricht unverarbeitet.
Als Lektor Jandls im Luchterhand-Verlag hat Siblewski über die Jahre hin mitgekritzelt und sich Notizen gemacht, wenn er mit Jandl manchmal mehrmals pro Tag telefonierte und so diesen Text kompiliert als einen deprimierenden Showdown mit dem herankriechenden Tod. Text pur, ohne Schnörkel und Arabesken, ohne hörspielhafte Aufbereitung; also kein Telefongeläute, keine Leitungsstimme, kein O-Ton Jandl, mit dem sich dieser meldet, sondern ein Abschiedstext aus der Distanz, ein nachzitterndes Erschrecken. Paul Burian, der Sprecher des Textes, liest nüchtern und trocken, so rasch, dass man die Datierungen zwischen den einzelnen Notaten - von einem Satz bis zu mehreren Absätzen reichend - beim ersten Mal Hören kaum mit realisiert.
Der Text zeigt eine Pathologie des Alterns sowohl wie das letzte Aufgebot der Kräfte in der Arbeit. Im Grund sind es Inkontinenzen, die Demütigungen des Alterns, die Jandls Dasein zeichnen. Er kann den Harn nicht mehr halten, und nicht nur die Beine knicken weg, auch Hirn und Herz wollen nicht mehr, wie sie sollen. Letzteres wird per Elektroschock behandelt, ersteres kämpft sich nochmals zurück, und es gelingen Jandl aus der Etappe, also dem indirekt Wiedergegebenen dieser Texte, noch ein paar köstliche Formulierungen, gerade auch, wenn er sich echauffiert.
Siblewskis Notate zeigen eine Chronik aus Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten, Besprechungen von geplanten Publikationen und Lesungen, hartnäckigem Intrigieren an diversen Nebenfronten, Beschreibungen des Chaos in der Wohnung, seinen Umzug Ende '98, Statements zu seinem Desinteresse an jeder weiteren Lyrikproduktion, oder die Aufregung über einen Bildband mit einem unautorisierten Foto des Fotografen Rittenburg, das Jandl und Mayröcker als Clown und Prinzessin zeigt. Damit im Zusammenhang erfolgt eine überraschende ästhetische Zuordnung: Er, Jandl, "... habe nicht geschrieben, was er geschrieben habe, und damit in der Literatur etwas Ebenbürtiges neben Schönberg und Webern zu setzen versucht, dass jetzt jemand daher komme und ihn mit Pappnase als Clown ablichte, das gehe an seiner Arbeit völlig vorbei." Klar geht das vorbei, so vorbei, dass man sich fragt, wie sich Jandl so damit aufhalten könne. Trotzdem, oder gerade darum, vergnügt seine Aufregung mit ihrer vitalen Wut: Am besten wäre es, so Jandl in drastischer Übersteigerung in einem Anruf während der Frankfurter Buchmesse '98, dass Gerhard Schröder - "ihr habt da wieder einen agilen Bundeskanzler" - "oder dein Sportsfreund Joschka Fischer (...) ihnen in dem Verlag dort das Telegramm in den Arsch stecken und die Gedärme herausreißen solle."
Zwischen diesen ereifernden Energieschüben kommt dann aber wieder die Einsamkeit, das Elend einer weggeknickten Produktion - er lebe wie ein Hund, nicht einmal ein Tier lebe so einsam - und immer wieder auch die calmierenden und jeweils in die andere Richtung ausgleichende Stimme Mayröckers, je nachdem, ob das Jandelsche Stimmungsbarometer in Richtung Selbstüberschätzung oder völliger Selbstannihilierung ausschlägt.
Den manisch-depressiven Phasen entspricht die Gliederung des Textes in "ein Hoch" und "ein Tief", dem ein "Abschied" folgt. Tatsächlich hat die ganze CD die Funktion einer Trauerarbeit, die zugleich vergegenwärtigt - Jandl ist mir, beim Hören dieser Texte, als Imago und Erfahrung präsent als der Autor, der in den Achtzigerjahren das Lebensgefühl einer Generation auf den Punkt gebracht hat: NIG, Neues Institutsgebäude der Universität Wien, Hörsaal 1, auf den Stiegen zwischen den Bänken sitzen die Leute, hinten drängen sie noch herein, es gibt spontane Ausbrüche von Akklamation für spezifische Formulierungen, wie in einem Jazzkonzert lauschten wir in Faszination einem Plädoyer für das Lebensgefühl in Sachen Poesie. Ich habe derartiges bei Lesungen seither nicht mehr erlebt.
Jandl hat in seinen beiden letzten Lebensjahren kaum noch Lyrik geschrieben. Aber er hat noch im Sprechen produziert. Folgendes "Gedicht" ist so auf dieser CD erhalten:
"17. Mai 2000. Zweiter Anruf:
Wie das Sterben geschehe:
Zuerst verabschiede sich die Hand vom Fuß.
Dann der Arm vom Knie,
der Kopf von den Beinen,
der Rücken von der Brust,
die Schultern vom Becken,
das Herz von den Augen,
und dann,
dann zerfalle das Ich.
Ob sich daraus ein Gedicht machen lasse?", fragt Jandl und Siblewski antwortet: "Das solle er unbedingt aufschreiben. Und wenn überhaupt nötig, daran weiter arbeiten". Statt Jandl hat es der Lektor notiert (und damit auch indirekt gezeigt, was im heutigen Verlagswesen mit dem Lektor als Missing link zwischen Textproduzenten und Öffentlichkeit fehlt). Einmal noch, im Schlusssatz, schwenkt Siblewski ins Indikativische - "offiziell, also auf dem Totenschein, ist Ernst Jandl um 17 Uhr 28 gestorben" -, und zeigt damit gerade das zugleich Belanglose wie Unbewältigbare des Todes an, der erst gilt, wenn wir das hinnehmen: Dass da etwas unerreichbar geworden sei. Dieser Hörtext zeigt, in der dem Menschen möglichen Form des Poetischen, ein Gegenteil.
Martin Kubaczek
5. Februar 2004