Wien: Studio Deluxe (Hoanzl), 2012.
1 CD, dt. Pop
Art.-Nr.: X138001-2
14,99 €
Was haben Philip Scheiner - dieser volle Name verbirgt sich hinter dem Künstlernamen am Albumcover - und seine CD de waund mit Marlen Haushofers Die Wand zu tun? 2012 erlebt Haushofers utopischer und feministischer "Endzeit"-Roman von 1963 eine blühende Renaissance, denn die gleichnamige Verfilmung von Julian Pölsler bringt auch den Originaltext selbst wieder einer breiteren Öffentlichkeit näher. Gleichwohl der Film ohne "klassische" Filmmusik auskommt, inspiriert der Stoff des Romans auch zur Komposition: Im November desselben Jahres erscheint Scheiners CD, eingespielt mit Karl Ritter (Gitarre) und Gerald Votava (Bass, Schlagzeug), unter dem Albumtitel de waund - unmissverständlich ein Brückenschlag zum literarischen Werk. Doch handelt es sich bei seinen Songs nicht um 1:1-Vertonungen oder anderweitige textliche Adaptionen: Der konkrete Text spielt keine Rolle. Vielmehr liegt hier eine thematische Annäherung und dessen Fort- und Umschreibung vor, für seine Zwecke angepasst.
Am offensichtlichsten ablesbar ist die Verbindung zu Haushofers Die Wand am gleichnamigen jedoch dialektalen Titel. Dieser ist Programm für das gesamte Repertoire der Debüt-CD: Die Themen Abgeschiedenheit und Isolation werden sowohl auf sozialer, emotionaler, räumlicher wie zeitlicher Ebene behandelt. So beschreiben die Texte etwa die Isolation der StädterInnen, die Abkapselung des Einzelnen gegenüber einem Ganzen oder die individuelle Isolation der Gefühlswelt. Der Stil des Wienerliedes - sarkastisch, melancholisch und textlich im Dialekt gehalten - kommt dem Entwurf einer entsprechend nach innen gerichteten Stimmung sehr entgegen. Diese könnte als tief traurig, schwer, schwarz und fast bitter bezeichnet werden. Scheiners "mundfauler" Gesangsstil - ganz authentisch, was den Dialekt betrifft - und unsauber angesungene Töne im Portamento-Stil, der so typisch für das Wienerlied ist, treiben das noch auf die Spitze. Trotzdem sind als akustisches Resultat keine klassischen Wienerlieder zu hören, die Verbindung zum Pop und Rock, zum Blues oder zur elegischen Klage erweitern das Genre, bringen Abwechslung und Progressivität ins Spiel. Und genau diese Elemente brechen die Schwärze wieder auf, etwas Positives durchzieht den ausweglosen Abgrund.
Die resultierende Unentschlossenheit zwischen positiv und negativ-Bewertung der metaphorischen "Wände" Scheiners findet sich auch im Werk Haushofers. Die Protagonistin in Die Wand unterlässt, nachdem sie ihre fatale Situation erkennt, eine genaue Suche nach einem Ausgang oder Ausweg. Das ist auch - neben dem anfänglichen Verharren in einem Schockzustand als Erklärung dafür - als Bejahen der Situation interpretiert worden. Die Wand bietet auch Schutz, und die Frau lebt darin fernab einer patriarchalen Ordnung: "Auf jeden Fall war er [Anm.: der Jäger] körperlich stärker als ich, und ich wäre von ihm abhängig gewesen. Vielleicht würde er heute faul in der Hütte herumliegen und mich arbeiten schicken. Die Möglichkeit, Arbeit von sich abzuwälzen, muß für jeden Mann eine große Versuchung sein. Und warum sollte ein Mann, der keine Kritik zu befürchten hat, überhaupt noch arbeiten. Nein, es ist schon besser, wenn ich allein bin." - Wenngleich ihr ihre vorhergehende Erziehung in genau diesen Strukturen dann zum Verhängnis wird: "Was mir Sorgen macht, ist nur der Gedanke an die Tür. Mit größter Mühe werde ich es fertigbringen, die Tür auszubrechen, aber ich muß ja dann die Stalltür richtig einpassen, und ich glaube, das wird mir nicht gelingen. Jeden Abend im Bett denke ich über diese Tür nach, und ich könnte weinen, daß ich so ungeschickt und unfähig bin." Vergleichbare Ambivalenz ist wie gesagt auch bei Scheiner ein zentraler und tragender Bestandteil des textlichen und musikalischen Gewebes.
Im Lied de waund schützt - im übertragenen Sinn - eine Wand die Gefühle einer verschlossenen Person, dennoch raubt sie auch Freiheit, grenzt ab, ist abweisend und lässt andere an dieser Wand scheitern, wenn es heißt "i moe kaane heazn meea aun deine waund" (ich male keine Herzen mehr an deine Wand). Das singende lyrische Ich gibt seine vormaligen Bemühungen, diesem Menschen näher zu kommen, und seine Liebe zu diesem auf. So unzugänglich die Person sich gebiert, so undurchsichtig und voller Leerstellen ist auch der Text: in einem eigenen Sinn geheimnisvoll, wie eine Chiffre, die wiederum nur die zweite Person zu entschlüsseln vermag. Eine reale zweite Stimme - die einer Frau - begleitet den Hauptpart im Refrain eine Quart, dann eine Terz höher: wieder charakteristisch für das Wienerlied und so, als würde die zweite Stimme sich nach oben entziehen. Mehrdeutig ist auch der Refrain: "wohin kumsd du, waun du kuumsd" (wohin kommst du, wenn du kommst) bedient sich einer Phrase, die schon im Mittelhochdeutschen für den Orgasmus steht und in ihrer Doppelung den unhinterfragten Sprachgebrauch sichtbar macht. Gleichzeitig wird auf die Komplexität menschlicher Beziehungen und die Schwierigkeit gegenseitigen Verständnisses als Folge der individuellen Körperlichkeit und geistigen Freiheit angespielt.
Von einer vergleichbaren Metapher - Isolation, Rückzug oder Gefangenschaft im Ich durch die Wand - gehen auch allgemeine Interpretationen des Haushofer'schen Romans aus, einer unhintergehbaren Körperlichkeit ausgesetzt. Doch Scheiner benennt konkret, was Haushofer offen lässt.
Als adaptiertes thematisches Element aus Haushofers Die Wand könnte weiters die Verarbeitung der Determinante Natur gegenüber dem Menschen gesehen werden. Was bei Scheiner "i schof de schdood oo und de autobaun/i siz im baam und schau de kiaschn au" (ich schaffe die Stadt ab und die Autobahn/ich sitze im Baum und schau die Kirschen an) sarkastisch reflektiert wird, wird bei Haushofer zur Lebensbedrohung. Der schmale Grat zwischen Lebenserhaltung und Zerstörung durch die Natur wird hier in seiner fast gespenstisch hoffnungslosen Art vorgeführt, jedoch dort zu einer spielerischen aber sehnsuchtsvollen Daseins-Kritik aus sicherer Distanz.
Lydia Haider
Mai 2013
Originalbeitrag
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