Ich adoptiere ihre beiden Ehemänner als Väter, die nach ihren Erzählungen ganz zufällig zur gleichen Zeit gestorben seien, der eine in Palästina und der andere in Russland. Zwei Männer hätte der Krieg ihr genommen, sagt sie.
So oft sie ihre Geschichten auch erzählt, es gibt keine Abweichungen. Es sind stets dieselben Redewendungen, dieselben Auslassungen. Begierig höre ich sie immer und immer wieder, kenne sie auswendig. Ich liebe meine zwei Väter, wenn sie auch, einer wie der andere, nur auf dem Papier, in ihren Briefen vorhanden sind - meine Papierväter, meine Briefväter. Ich lese ihre Briefe, Georgs Handschrift ist leichter zu entziffern. Mal erkläre ich den einen, dann wieder den anderen zum richtigen Vater, suche in den Fotos nach Ähnlichkeiten zwischen ihnen und mir, male mir das Leben mit ihnen aus. [...]
Vielleicht ist es Mitzi mit ihren Schilderungen gelungen, eine Version zu schaffen, die ihren strengen moralischen Ansprüchen an sich selbst genügte. Sie hat getan, was in ihren Kräften stand, um Georg in Sicherheit zu bringen. Doch ihr Gewissen versetzte ihr wohl den einen oder anderen Stich, wenn sie sich an ihn erinnerte und an seine enttäuschten Erwartungen. [...] Solange Otto im Feld war, konnte und wollte sie sich ihre Wünsche nach Unabhängigkeit und nach Freiheit von Bindungen und Rücksichtnahme wohl nicht zugestehen. Jedoch in diesem Drang nach Unabhängigkeit liegt der Grund, warum sie nach einer Zeit der intensiven Trauer um Otto, mitten im Krieg, wahrscheinlich die glücklichste und zufriedenste Zeit ihres Lebens verbringt.
Und ich bin - eine kurze Zeit lang - Zeugin und Nutznießerin dieser glücklichen Phase. Da ist sie zärtlich und liebevoll. Wie an jenen Sonntagmorgen, an denen ich zu ihr ins Bett schlüpfen darf. Oder wenn ich mein Gesicht in ihre warme Hand lege, die, obwohl immer rau von Rissen und Schrunden, wunderbar weich ist. "Wenn du einmal tot bist, möchte ich deine Hand behalten", sage ich, sie lacht.
(S. 281ff.)
© 2004, Mandelbaum, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags