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Jürgen Bauer: Was wir fürchten.

Leseprobe

Tschernobyl war explodiert, und sofort spürte ich die Unsicherheit in all dem, was verlautbart wurde. Eine Unsicherheit, die wie ein Spiegel all dessen wirkte, was ich schon seit Jahren in mir spürte. Die Unsicherheit war mir vertraut, sie war mir bekannt.
Ich hörte:
„An einigen Stellen wurde die übliche Strahlenmenge um das Fünf- bis Sechsfache übertroffen.“
Das mögliche Ausmaß des Schreckens ließ die Unsicherheit der Sachlage noch monströser wirken. Die anfänglichen Beschwichtigungen – es sei absolut auszuschließen, dass eine Gefährdung vorliege, Gefahr bestehe nur wenige Kilometer um den Reaktor herum – glaubte ohnehin bald niemand mehr. Ich selbst wusste schon zu Beginn, dass es noch schlimmer werden würde, das hatte ich immer schon gewusst: Alles wurde immer noch schlimmer. Allein die Abkürzung GAU begeisterte mich: Größter anzunehmender Unfall. Schon nach einigen Tagen wurde tonnenweise Gemüse beschlagnahmt und vernichtet, Kinder durften nicht mehr in den Sandkästen spielen und bei Regen sollte man nicht mehr nach draußen gehen. Die Substanz Jod-131 werde ich nie im Leben vergessen.
Angst war endlich das bestimmende Gefühl aller Menschen geworden, ich dachte sogar an das eine Wort: Paranoia. Nach all den Jahren fand ich ausgerechnet dieses Gefühl überall in meiner Umgebung vor. Bisher hatte es mich isoliert und in die Einsamkeit getrieben, doch nun wurde genau jene Emotion, die schon immer ihre Wellen durch meinen Körper geschickt hatte, zur vorherrschenden Stimmung aller Menschen. Dieser Umstand öffnete ein Schloss in mir, das bisher nicht zu öffnen gewesen war. Es fühlte sich an , als passe sich die Umgebung endlich meiner Körpertemperatur an, als synchronisierten sich die Schwingungen in meinem Inneren mit den Schallwellen der Welt um mich herum, und die Folge war eine fast musikalische Harmonie, ein Einklang der Bewegungen, der endlich Ruhe in mir herstellte. Nicht weil ich meine Angst verlor, sondern weil die Welt meine Angst übernahm, weil die Nachrichten die Angst aus mir saugten und weltweit verteilten. Plötzlich war ich in totaler Übereinstimmung mit meiner Umgebung.
„Hörst du das?“, fragte ich Simon neben mir.
Immer und immer wieder:
„Hörst du das?“
Als müsse er mir bestätigen, was ich meinen eigenen Ohren nicht glauben konnte. Ich fühlte Harmonie, schon damals, sofort in diesem einen Moment. Als Simon schließlich meine Hand nahm, ließ ich es zu. Er hatte Angst und ich konnte ihn trösten. Endlich fürchteten sich auch alle Menschen um mich herum, sahen den Wahnsinn, blickten in den Abgrund, der für mich schon immer hinter der glatt polierten Idylle gelegen war. Ich war für einen kurzen Moment nicht mehr anders, ich war für eine kurze Sekunde wie alle anderen. Doch dann verlief die Aufregung im verstrahlten Sand. Nichts änderte sich und alles fand zur Normalität zurück. Und wieder war ich der seltsam Paranoide, mit dem man nichts anfangen konnte, der Kranke, der an etwas festhielt, das doch lange schon vergessen war.

(S. 143-145)

© 2015 Septime Verlag, Wien