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Arno Geiger

September 2005

Dem aus Vorarlberg stammenden Autor Arno Geiger ist mit seinem vierten Roman Es geht uns gut ein großer epischer Wurf gelungen. Hinter dem lakonischen Titel verbirgt sich ein gekonnt arrangierter Text, der drei Generationen einer Wiener Familie portraitiert und so ganz nebenbei die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts lebendig macht. Arno Geiger liest am 6. Oktober im Literaturhaus Wien aus seinem Buch; aus diesem Anlaß hat Peter Landerl das folgende Gespräch mit ihm geführt:

Peter Landerl: Herr Geiger, Ihr neuer Roman "Es geht uns gut", in dem Sie die Geschichte einer österreichischen Familie über drei Generationen hinweg erzählen, wurde bisher durchwegs überschwänglich gelobt. Überraschen Sie die vielen positiven Kritiken?

Arno Geiger: Zehn Tage vor der Sperrfrist hatte ich einen Verriß in den "Nürnberger Nachrichten". Das Buch sei langweilig, und ich könne nicht schreiben. Über den Inhalt des Romans gibt der Rezensent wenig preis, und es bleibt wieder einmal die Frage, ob er den Roman überhaupt gelesen hat. Wen wundert's also, daß wir Autoren immer mit dem Schlimmsten rechnen. Zum Glück ist seither nur sehr Gutes nachgekommen.

Ihr Roman spannt sich von der Zeit des Anschlusses bis zur Jahrtausendwende. Hat man beim Schreiben eines so ambitionierten Romans nicht auch oft das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, es nicht zu schaffen?

Meine Lebensgefährtin mußte mir zwischendurch zureden wie einem kranken Gaul, so erschöpft war ich, wenn ich ein schwieriges Kapitel hinter mir und das nächste vor mir hatte. Dadurch, daß es nötig war, in jedem der großen Kapitel den Focus neu einzustellen, kam ich nie an einen Punkt, wo ich die Augen zumachen und im bewährten Tonfall weiterschreiben konnte. Der Roman blieb anstrengend und riskant bis zum Schluß, entsprechend groß war die Angst, daß ich mir zu viel vorgenommen habe und an den eigenen Ansprüchen scheitern werde.

Wie recherchierten Sie die Zeitumstände, die Historie? Welches Material verwendeten Sie?

Ich wollte versuchen, meine Figuren nicht nur in ihrem Wesen, sondern auch in ihrer historischen Dimension zu verstehen, in ihrer eigenen Zeit. Deshalb habe ich vorwiegend Publikationen gelesen, die aus der beschriebenen Zeit stammten, Tageszeitungen, Magazine, Aktuelles. Teilweise konnte ich auf Briefe und Tagebücher zurückgreifen, das verschaffte mir ein Gefühl für die Atmosphäre, den Tonfall, die Gewichtung von Werten und dergleichen. Vor allem habe ich mich davon fern gehalten, Bücher zu lesen, die aus großem Abstand zurückblicken und bewerten. Worum es mir ging, war, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Menschen, von denen ich erzähle, sich selbst gesehen haben an einem bestimmten Punkt ihres Lebens.

Wo recherchierten Sie?

Am liebsten in der Arbeiterkammer-Bibliothek in der Prinz-Eugen-Straße, ganz in der Nähe von mir. Die AK-Bibliothek ist eine sozialwissenschaftliche und historische Präsenzbibliothek; die Titel, die man braucht, werden sofort ausgehoben, nicht erst am nächsten Tag wie in der Nationalbibliothek. Das spart Wege und Zeit.

Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass Sie sehr bildhaft erzählen. Verwendeten Sie zur Recherche auch Fotografien?

Ja, aber selten. Wirklich nur hin und wieder. Da ich in der Nähe des Naschmarkts wohne, grabe ich am Samstag, wenn Flohmarkt ist, manchmal Fotos aus den Kisten. Eines dieser Fotos wurde für das Cover verwendet.

Welche Schwierigkeiten gab es beim Recherchieren?

Das Historische ist gut dokumentiert, das Private hingegen versteckt sich, man muß es suchen. Für einige Zeit hatte ich überlegt, ob ich mich durch die Dokumentationsstellen für Alltagskultur graben soll - das Wiener Stadt- und Landesarchiv bestitzt Unmengen an Briefen und Tagebüchern. Aber ich habe das vor mir hergeschoben, weil klar war, wenn ich dort eintauche, komme ich erst im Jahr Nimmerlein wieder zum Vorschein. Irgendwann steckte ich mittendrin im Roman und sah, es geht auch so.

Wie lange arbeiteten Sie an dem Buch?

Ich habe im Frühling 2001 begonnen, den Roman zu konzipieren. Ich habe das Konzept zusehends ausgeweitet und verfeinert, zweimal über den Haufen geworfen und total umgekrempelt. Alles nach dem Motto, daß es für einen weiten Sprung auch einen weiten Anlauf braucht. Den Roman selbst habe ich von Juli 2003 bis August 2004 geschrieben, ihn anschließend nur wenig überarbeitet und im November 2004 an den Verlag geschickt.

Was gab den Ausschlag, sich mit der österreichischen Geschichte zu befassen?

Philipp ist ein Charakter, wie man ihn bereits aus früheren meiner Bücher kennt. Ich habe mich gefragt, woher kommt dieser Mensch. Das stand am Anfang. Um Philipp historische Plausibilität und biographische Tiefe zu geben, habe ich über seine Eltern nachzudenken begonnen, dann über seine Großeltern. Das Historische und Österreichische war zweitrangig, es gibt den Figuren Halt und Stabilität. Vielleicht ist es eine Stärke des Romans, daß "Es geht uns gut" nicht vordergründig, sondern lediglich aus innerer Konsequenz eine Art Österreich-Roman ist.

Was unterscheidet den Historiker vom Schriftsteller im Umgang mit der Geschichte?

Ohne in einen Widerspruch zu geraten, kann ich im Roman etwas wissenschaftlich betrachten und im nächsten Moment subjektivieren, und wieder im nächsten Moment kann ich zu einem Punkt vordringen, den ich imaginiere, weil sich vieles nur erahnen läßt. Alles, was der Historiker kann, kann der Schriftsteller auch. Aber der Schriftsteller kann mehr, weil er die Fiktion zur Verfügung hat und nie behauptet, daß etwas richtig ist.

Österreich feiert sich heuer im Gedankenjahr. Was halten Sie davon?

Ich find's gut dort, wo eine echte Auseinandersetzung stattfindet, und schlecht, wo nur Sentimentalitäten aufgekocht werden. Letztlich hat das Gedankenjahr mit Identität zu tun, damit, woher wir kommen, wo wir stehen, wohin es weitergehen soll. Kierkegaard sagt sinngemäß: Wir können unser Leben nur verstehen, indem wir zurückschauen, aber wir können es nur leben, indem wir vorwärtsblicken.

Sebastian Fasthuber charakterisierte im "Falter" Ihren Helden Philipp Erlach als "Mann ohne Eigenschaften". Ist er das wirklich?

Über Philipp wird viel gesagt, ich finde, viel Hölzernes. Seine Art scheint die Leser zu beschäftigen, es ist fast, als würde sich die Ratlosigkeit, die ihn kennzeichnet, infektiös übertragen. Kurzum: Hochinteressant, der Kerl. Den Vogel abgeschossen hat bisher Wolfgang Paterno im "profil", der behauptet, Philipp habe dort, wo andere ein Herz haben, einen Klumpen Gleichgültigkeit. Völliger Quatsch. Philipp ist ein Zögerer und Zauderer, dessen Ambivalenz gegenüber Vergangenheit und Geschichte gute Gründe hat - eben weil er sich beschädigt zurückgelassen fühlt. Warum soll er sich für diejenigen interessieren, die sich nicht für ihn interessiert haben? Also bemüht er sich, wenn auch unbeholfen, um die Bekanntschaft der Nachbarn und um die Freundschaft zu seinen Schwarzarbeitern. Er macht das auf eine unbeholfene Art, weil er verletzlich ist.

Man empfindet Philipp als sehr trägen Helden. Ist das typisch für die heutige Zeit, die heutige Jugend?

Ich würde sagen, ja. Ein Gefühl von Identität ist dem der Ratlosigkeit gewichen. Aber immerhin hat Philipp den Mut, sich das einzugestehen.

Phillip Erlach ist nicht nur Erbe eines Hauses sondern auch der damit verbundenen Familiengeschichte. Auch Thomas Bernhards Figuren waren oft scheiternde Erben. Ist der Erbe eine typisch österreichische Figur?

Der Erbe ist eine typisch allgemeingültige Figur, wie der Liebende, wie der Sterbende.

Phillip ist Mitte dreißig, aber man hat den Eindruck, er ist nicht erwachsen. Ist Österreich ein "erwachsener Staat" geworden?

Nachdem es in der "Welt" geheißen hat, mit "Es geht uns gut" sei die österreichische Nachkriegsliteratur erwachsen geworden, stimmt mich das Adjektiv "erwachsen" momentan eher skeptisch. Ich meine, was heißt schon erwachsen. Im Roman gibt es eine Stelle zu diesem Thema: "Vielleicht, denkt Philipp, ist das hervorragendste Merkmal des Erwachsenwerdens, daß man systematisch die Zuversicht verliert, das Blatt könne sich jeden Moment zum Guten wenden."

Welche Ihrer Figuren war Ihnen beim Schreiben am unsympathischsten: Großvater Richard, der sture Patriarch, oder seine ihm geistig und emotional überlegene Ehefrau Alma? Tochter Ingrid, die zwischen Beruf und Haushalt aufgerieben wird, oder ihr Mann Peter, der erfinderische Versager? Oder Philipp selbst?

Ich habe mich bemüht, die Sache meiner Figuren immer als kritischer Sympathisant zu sehen. Am meisten Berührungsangst hatte ich bei den Richard-Kapiteln, weil mir Richard als Person nicht sonderlich nahe steht. Aber auch für ihn habe ich mit der Zeit ein Gespür bekommen. Überhaupt muß ich sagen, daß mir alle am Ende sympathischer waren als am Anfang.

Zur Erzähltechnik: Sie erzählen in Ihrem Roman nicht chronologisch, sondern beleuchten lediglich acht entscheidende Tage in der Familiengeschichte, die aber unheimlich dicht und überzeugend wirken. Die Idee der Beschränkung auf Blitzlichter: War die von Anfang an da oder hat sie sich erst beim Schreiben ergeben?

Die meisten Familienromane sind rückblickend aus der Enkelperspektive erzählt. Meines Erachtens ist das ein egozentrischer, tendenziöser Blick, der allen Familienmitgliedern eine Familienposition zuweist und die vorherigen Generationen zu Zuträgern der Enkel macht. Ich wollte eine Erzählhaltung finden, die allen Figuren gleichermaßen gerecht wird. Deshalb erzähle ich im Präsens, deshalb die Entscheidung für einzelne Tage, was mir ermöglicht, sehr nahe an die Figuren heranzugehen. Im Ergebnis ist sowohl die Zeithierarchie aufgebrochen, die etwas Wertendes hat, weil weniger wichtig erscheint, was länger her ist, als auch die Generationenhierarchie.

Erleichtert diese Technik das Schreiben, den Umgang mit dem Stoff?

Ich kann's nicht beurteilen, weil ich's nicht anders versucht habe. Aber die Frage war ohnehin nie, wie ich's mir leicht machen kann. Eher das Gegenteil, entscheidend ist ja der Grad der Tiefe und Komplexität, mit dem ich den Stoff bewältige. In diesem Punkt glaube ich, daß die Konstruktion von "Es geht uns gut" Möglichkeiten geschaffen hat, die ein retrospektives Erzählen niemals hätte haben können.

Gab es beim Schreiben noch andere Figuren, weitere Familienmitglieder, die Sie später eliminiert haben?

Philipps Schwester Sissi war von Anfang an nach New York verbannt. Sie hätte mich interessiert, sogar sehr, aber mit ihr wäre der Roman aus dem Gleichgewicht geraten.

Im "Spiegel" erschien kürzlich ein Artikel über die Renaissance der Familien- und Generationenromane, der Ihr Buch als "herausragendes Beispiel" lobte. Warum sind Familienromane wieder in Mode? Sind sie es überhaupt?

Der Familienroman als Gattung ist recht schwammig. Wenn man mich fragt, sind die meisten im Bereich des Privaten angesiedelten Romane Familienromane, nur tarnen sie sich neuerdings weniger. Und dann ist Familie Stoff, über den die meisten Autoren Bescheid wissen, aus eigener, oft blutiger Erfahrung. Und dasselbe gilt für die Leser, die vergleichen und ihre eigenen Erfahrungen hineinlesen können.

In jeder Familiengeschichte gibt es dunkle Flecken. Wie geht man damit um?

Das muß jeder für sich entscheiden, Patentrezept gibt es keins. Philipps Haltung ist die, daß er sich sagt, Familie ist ein wichtiger Bereich unter etlichen, die mich geprägt haben, aber bestimmt nicht der einzige. Ich laß mich nicht ein Leben lang am Gängelband familiärer und genealogischer Verbundenheiten führen. - Für Philipp war Familie ein unfruchtbarer Boden, also läßt er es, aus Selbstschutz, wie er sagt. Ich selbst habe mich auf der Basis von "Es geht uns gut" mit meiner Familie auseinandergesetzt und bin froh darüber.

Welche Familien- oder Generationenromane schätzen Sie?

"Korrekturen" mochte ich sehr, fand aber, die Längen darin wären vermeidbar gewesen. "Middlesex" mochte ich überhaupt nicht, weil das meiste darin billiger Effekt ist. Mein Lieblingsfamilienroman ist "Madame Bovary". Hingegen ist "Effi Briest" ein Beispiel dafür, wie ein Text radikal altern kann, weil im Grunde schlecht gemacht.

Welches Buch charakterisiert für Sie am besten Österreich?

Selbst das kleine Österreich ist komplex genug, daß es nicht von einem einzelnen Roman charakterisiert werden kann.

Österreich und die Österreicher: Kann man das trennen?

Das eine ist ein Land innerhalb seiner Grenzen, das andere ist eine Masse, die immer aus einem mehr besteht, als man denkt.

Jungen Autoren wird häufig vorgeworfen, nichts zu erzählen zu haben. Ein falsches Pauschalurteil oder trifft es doch ein wenig zu?

Der Eindruck ist verzerrend, weil sich langfristig nur die guten Autoren halten können. Deshalb ist die Substanz bei den Autoren in der mittleren Generation deutlich besser. Aber die meisten Autoren, die sich durchsetzen, waren schon in jungen Jahren gut.

Welche Bücher, welche Musik haben Sie beim Schreiben umgeben?

Ich höre Musik meist nur zum Abschalten, gerne Funk, Soul, Bob Dylan, den späten Johnny Cash - eher altmodisch, ich weiß. Tindersticks und Calexico. Ich glaube, ich bräuchte jemanden, der mir zwischendurch einen Tipp gibt, was an Großartigem neu herausgekommen ist. Ich bin in dieser Hinsicht eindeutig überfordert.
Während ich an einem Buch schreibe, lese ich so gut wie nichts, da bin ich mit meinem Material, mit Wörterbüchern und Lexika beschäftigt. In den Zwischenzeiten lese ich dafür umso mehr.

Sie publizieren bei Hanser, einem deutschen Verlag. Haben Sie vor allem österreichische oder deutsche Leser?

Bisher hielt es sich die Waage. Zum Glück werde ich weder in Österreich noch in Deutschland als typisch österreichischer Autor wahrgenommen.

Macht es Unterschiede, ob man in Österreich oder Deutschland publiziert?

Für die kleinen österreichischen Verlage ist es schwer, ein Buch auch in Deutschland durchzusetzen. Andererseits kann man auch bei einem großen Verlag wie Carl Hanser untergehen. Wenn man verlagsintern schlecht positioniert ist, nehmen einem die internationalen Größen die Luft zum Atmen.

Am Schluss Ihres Buches sitzt Philipp auf dem Dachfirst des Hauses und winkt zum Abschied. Wohin geht es? Wie könnte es mit Philipp weitergehen?

Wie es mit ihm weitergehen könnte, weiß ich nicht und will ich momentan auch nicht wissen. Aber eins glaube ich: Philipp ist ein Charakter auf dem Sprung. Wenn Lebenskunst die Kunst ist, sich zu verändern, besitzt er diese Fähigkeit.

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