Gespräch mit Peter Landerl vom 22. September 2008
Anna Kim führt uns mit ihrem zweiten Buch in die Barbarei des Jugoslawienkriegs. Schon die ersten Seiten sind von bitterkalter Eindringlichkeit. Luan füllt mit Nora, einer Mitarbeiterin des Suchdienstes des Roten Kreuzes, den Fragebogen zur Erhebung der "Ante-Mortem-Daten" aus. Der Ante-Mortem-Fragebogen: Zweiundzwanzig Kapitel, die die Kennzeichen einer vermissten Person, Merkmale, die jene zu Lebzeiten, ante mortem, besaß, festhalten mit dem Ziel, durch Analyse und Vergleich mit Gebeinen, Knochenstücken, Daten post mortem fündig zu werden. Der Fund ist nicht die Person, sondern ihr Rest."
Peter Landerl:
Anna Kim, in Ihrem neuen Buch "Die gefrorene Zeit" geht es um die Folgen des Kosovo-Kriegs. Ein in Wien lebender Kosovare, Luan, sucht nach seiner im Krieg verschollenen Frau Fahrie. Was war für Sie der Auslöser, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Anna Kim:
Der Auslöser war ein Buch, besser gesagt ein Katalog mit Fotografien von Gegenständen, die in/bei Massengräbern bzw. Gräbern gefunden wurden. Es handelt sich dabei um Bilder von beispielsweise Kleidungsstücken, etwa einer Socke, oder Ausweistaschen, Taschen, Zigarettenetuis etc. Dieser Katalog wird bei der Identifikation der Leichen, die an diesen Orten gefunden wurden, verwendet. Es sind eigenartige Bilder, mit einer sehr eigenen Ästhetik; die Gegenstände scheinen auf ihre Weise sehr lebendig zu sein, sind weniger Objekte als vielmehr Zeugen. Ich bin damals, es sind nun vier Jahre her, auf dieses Buch durch Zufall gestoßen und wollte mehr wissen: wozu man es verwendet, was diese Bilder bedeuten, und so bin ich immer tiefer in dieses Thema "hineingeraten". Außerdem hat es mich zunehmend interessiert, ein Buch über die Folgen des Krieges zu schreiben und den Blick auf diejenigen zu richten, die ausschließlich in anonymer Weise und als Kollektiv in den Nachrichten auftauchen.
Wie sind Sie bei der Recherche zum Buch vorgegangen?
Ich habe mich einerseits mit dem politischen Hintergrund zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien beschäftigt, zu diesem Themenkreis Bücher, Internetseiten und Berichte der UN und der Human Right's Watch gewälzt, andererseits habe ich mit so vielen verschiedenen ExpertInnen (im Kosovo und in Wien) gesprochen wie nur möglich: mit (Kultur)WissenschafterInnen, PsychologInnen und MitarbeiterInnen von NGOs. Schließlich habe ich auch mit betroffenen Familien gesprochen.
Wie haben Sie den Kosovo wahrgenommen?
Kosovo ist ein Land im Aufbau, und das meine ich durchaus wörtlich: Es wird überall gebaut. Später habe ich erfahren, dass es sich bei diesen Häusern gleichsam um Sparbücher/Statussymbole handelt: Je wohlhabender man ist, desto mehr Häuser besitzt man.
Spricht man im Kosovo über die im Krieg Vermissten?
Ja, durchaus. Ich hatte keine Probleme, mit den Menschen über ihre vermissten Angehörigen zu sprechen, im Gegenteil, ich hatte oft das Gefühl, dass es ihnen ein Bedürfnis war – nicht nur darüber zu sprechen, sondern auch auf das "Problem" aufmerksam zu machen. Allerdings wollten sie diese Gespräche nie in Anwesenheit anderer Familienmitglieder führen; innerhalb der Familie ist dieses Thema auch eher tabu.
Der Kosovo-Konflikt ist ungelöst. Ohne einen Schlussstrich aber werden die Kriegsgeschehnisse schwer aufzuarbeiten sein. Wie gehen die Leute, die Familien damit um?
Die Familien sind sehr damit beschäftigt, zu leben bzw. zu überleben. Es gibt so viele Dinge, die sie sich wünschen: eine Stromversorgung, die nicht ständig ausfällt, sodass man ohne Stromgeneratoren nicht auskommt; gute/genügend/mehr Arbeitsplätze; völlige Unabhängigkeit von Serbien... Der Krieg ist bereits ein wenig in den Hintergrund gerückt, was natürlich nicht bedeutet, dass er aufgearbeitet ist.
In Ihrem Buch schreiben Sie: "Und doch gibt es Angehörige, die es vorziehen, dass nicht nach den Verschollenen gegraben wird, gegraben wird ja nur nach Toten, Verschollene aber sind lebendig, der erste Spatenstich bereits ein Akt des Verrats." – Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar?
Ich denke, es kommt darauf an, ob man bereit ist, die Wahrheit zu erfahren oder nicht. Zumutbar ist sie dann, wenn man dazu bereit ist. In jedem Fall ist eine Wahrheit wie diese sehr schmerzhaft und nur schwer zu ertragen, das bedeutet aber nicht, dass es besser wäre, ihr auszuweichen, sich selbst etwas vorzumachen. Gewissheit ist für die Wartenden ein Geschenk. Sie allein macht Zukunft möglich. Es gibt viele Familien, die große Erleichterung empfanden, als man ihnen die Wahrheit mitteilte, für viele war es erst ab diesem Zeitpunkt möglich, Pläne zu schmieden, sich mit anderen Dingen, Menschen zu befassen als mit den Vermissten - mit einem Wort: zu leben. Daher halte ich auch die Arbeit der forensischen Anthropologen, Archäologen und Mediziner für äußerst wichtig.
In Österreich leben viele Flüchtlinge aus den Jugoslawienkriegen, darunter natürlich auch etliche Kosovo-Albaner. Wie gehen diese mit ihrer Kriegsvergangenheit um?
Sehr unterschiedlich: Manche sprechen sehr offen über ihre Erfahrungen, andere möchten sich dazu überhaupt nicht äußern.
Sie schreiben, dass im Kosovo Regeln allgegenwärtig sind, dass Bräuche und Konventionen einen Gesetzesstatus haben, Ligj, somit unhinterfragbar sind. Für uns Westeuropäer sind solche Gesellschaftsordnungen schwer vorstellbar. Empfinden die Kosovaren diese strenge Regelung des Zusammenlebens als Last oder gibt sie ihnen Sicherheit in unsicheren Zeiten?
Diese Aussage bezieht sich natürlich nicht auf jeden Kosovo-Albaner und jede Kosovo-Albanerin. Es gibt Familien, die eine eher westeuropäische Vorstellung vom (Zusammen)Leben haben. Für sehr konservative Familien und vor allem Familien im ländlichen Raum gelten sie durchaus, und manchmal hatte ich den Eindruck, dass diese problematisch sein können. Wenn zum Beispiel die Witwe nicht aus dem Haus gehen, also auch nicht arbeiten gehen darf, weil Arbeit die Sphäre des Mannes ist, ihre Familie daher auf Almosen angewiesen ist, um zu überleben. Solche Situationen empfinden aber Kosovo-Albaner und Kosovo-Albanerinnen selbst als unerträglich, und es gibt Projekte, die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft herbeiführen sollen.
Peter Handke hat zum Jugoslawienkonflikt recht deutlich Stellung bezogen und heftige Kritik an der seiner Meinung nach einseitigen Sichtweise der westlichen Politiker und Journalisten geübt. Haben Sie eine Meinung zum Kosovo-Konflikt? Und würden Sie sie veröffentlicht sehen wollen?
Diese Frage möchte ich lieber nicht beantworten.
In Ihrem Buch heißt es: "Krieg. Opfer und Soldaten, niemand bleibt menschlich im Krieg, oder doch." Warum der Zusatz "oder doch"?
Der Zusatz bezieht sich auf den Absatz, in dem es um das Überschreiten von Grenzen geht. Der Mensch scheint es sich zum Ziel gemacht zu haben, Grenzen zu überschreiten bzw. aufzuheben (wobei völliges Aufheben ja unmöglich ist), sei es auf dem Gebiet der Wissenschaft oder im Bereich der Kultur. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen des Menschseins selbst verschiebbar sind und wirft die Frage auf, was es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein.
Sie deuten in Ihrem Roman eine zarte Liebesgeschichte an, nämlich die der Ich-Erzählerin Nora, die Mitarbeiterin beim Suchdienst des Roten Kreuzes ist, zu ihrem "Klienten" Luan. Warum verliebt sie sich in ihn?
Das herauszufinden, überlasse ich lieber den Leserinnen und Lesern.
Im Buch beschreiben Sie die Arbeit der Pathologen, Archäologen und Anthropologen, die versuchen, die in Massengräbern gefundenen menschlichen Überreste in präziser und mühevoller Kleinarbeit Personen zuzuordnen. Ist die Arbeit des Schriftstellers eine ähnliche?
In gewisser Hinsicht ja. Details sind für sie wie für uns wichtig, manchmal entscheidend, aber wir haben – im Gegensatz zu ihnen – die Möglichkeit uns in bzw. hinter unseren Büchern zu verstecken, uns der Wirklichkeit zu entziehen.
"Die gefrorene Zeit" ist ein recht dunkles Buch. Ich stelle mir vor, die Recherchen und das Schreiben waren eine sehr belastende Arbeit. Sind Sie erleichtert, dass dieses Thema nun abgeschlossen ist?
Ja und nein. Es war zwar keine einfache Arbeit, aber ich habe mit der Zeit die Figuren in meinem Buch so lieb gewonnen, dass es mir schwer fiel, mich von ihnen zu verabschieden.
In Ihren Büchern thematisieren Sie das Fremde, das Andere. Inwieweit hat das mit Ihrer Herkunft – Sie sind in Südkorea geboren – zu tun?
Ich habe in meinem ersten Buch Fremdheit/Entfremdung thematisiert, ich habe zu diesem Themenkreis auch ein paar kurze Essays geschrieben, aber es ist nicht mein Hauptthema; ich bekomme immer wieder das Gefühl, dass dieses Thema auf mich projiziert wird, aufgrund meiner Herkunft, was mich, zugegeben, ein wenig stört.
Sie haben sich jetzt vor den Buchpräsentationen in Grönland aufgehalten. Was gab es dort zu sehen?
Erstaunlich viele Wale, die nicht schiffscheu sind. Wunderschöne, gewaltige Landschaft.