September 2003
Vor wenigen Wochen erschien Margit Schreiners vielbeachtetes Buch "Heißt lieben", ein Roman in Geschichten. Veronika Doblhammer führte mit der Autorin ein Gespräch über ihr neues Buch, über Mütter und Töchter, Liebesbegriffe und darüber, dass erst der Rückblick Klarheit bringt.
Doblhammer: In Ihrem neuen Buch setzen Sie Ihre Trilogie der Trennungen nach "Nackte Väter" und "Haus, Frauen, Sex" fort. Eine Tochter erzählt vom Sterben ihrer Mutter in Krankenhaus und Pflegeheim. Dem stellt sie die Imagination eines Geliebten und die Beschreibung einer Geburt entgegen. Interessant im ersten Teil, der sich mit der Mutter beschäftigt, ist, dass Sie sich stilistisch mit dem Autor Thomas Bernhard einlassen. Es hat etwas Ironisches, wie Sie seine Stilmittel einsetzen.
Schreiner: Bernhards Wendungen sind nach Bernhard nur mehr doppelt ironisch zu verwenden. Allein dieses "naturgemäß" ist ja genial. Weil die Floskel wörtlich genommen wird.
Mit diesen an Bernhard geschulten Stilmitteln beschreiben Sie eine Beziehung zu einer egozentrischen Mutter. Sie nennen es "Wahrnehmungsstörung".
Ja, eine nicht sich selbst reflektierende Mutter. Das hängt wahrscheinlich auch mit dieser Generation zusammen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und dadurch so unsicher gemacht wurde, dass sie außergewöhnlich starr ist. Es gibt aber auch moderne Mütter, die ihre Rechtfertigungsmuster haben und mit diesen Mustern genauso arbeiten.
Nach herkömmlichen Zuschreibungen, ist diese Mutter nicht gerade "mütterlich".
Es kommt mir auf die Strukturen an. Ob die gut sind oder schlecht, ist fast belanglos. Deswegen war mir der "Mutterteil" in "Heißt Lieben" auch so wichtig. Es gibt in der Liebe Fallstricke. Der Geliebte oder die Geliebte sind immer nur Vorstellungen des jeweils Liebenden. Jeder, auch die Mutter, lebt in Bezug auf ihr Kind in dieser Vorstellungswelt. Das Erkennen der Muster ist die einzige Chance, heraustreten zu können. Das wird nicht perfekt möglich sein, aber man weiß dann: Das ist mein Lebens-Material, damit gehe ich um, mit dem spiele ich.
Sie glauben, dass die Mütter dieser Generation durch den Krieg so schwer beschädigt waren, dass der Schaden dann auf die Töchter oder Söhne übertragen wurde?
Das ist die eine Schiene, die andere ist die der sozialen Ungleichheit der Geschlechter. Die Frauen verdienen immer noch weniger und verbleiben zu achtzig Prozent, auch wenn sie neben Familie und Kindern arbeiten, in der Abhängigkeit. Es fehlt ihnen dadurch die Bewegungsfreiheit in physischer, materieller und geistiger Hinsicht. Diese Frustration wird an die Kinder weitergegeben. Die dritte ist in dem Liebesbegriff selbst enthalten: Wenn man jemanden liebt, will man ihn verstehen. Genau da kann man auch zu weit gehen oder sich der Illusion hingeben, man könnte einen anderen hundertprozentig verstehen. Eine Anmaßung. Ich glaube, das sollte man im Kopf behalten. Immer wieder geht man zu weit in der Liebe, man stülpt sich über den anderen drüber. Dann merkt man: jetzt bin ich zu weit gegangen, ich ersticke ihn. Man geht wieder ein paar Schritte zurück. Das wäre eigentlich ein normales Verhalten. Offenbar aber schwer auszuüben.
Die Mutter, die Sie beschreiben, will die Tochter nicht auslassen. Am Schluss ihres Lebens setzt sie alle Mittel ein, um die Tochter emotional zu erpressen. Immer wieder fragt sie: Wann kommst du?
Aber auf der anderen Seite kann man sagen, in dieser Situation des Sterbens ist der Satz - "Ich habe Sehnsucht nach dir, wann kommst du?" - auch sehr berührend. Es kommt darauf an, wie diese Sätze aufgefasst werden, nichts ist objektiv. Zur Erpressung gehört auch immer jemand, der sich erpressen lässt. Erpresst werden wir von unseren "inneren Müttern", die ja im Gegensatz zu den wirklichen Müttern, Gott sei Dank, kontrolliert werden können.
Dennoch konnte diese Mutter ihre Tochter nicht loslassen. Das zeigt sich in der Erzählung in der Bewältigung der Trennung durch eine imaginierte Gestalt: den Geliebten, der in die Rolle einer Mutter tritt, der im Moment des Todes beisteht. Wann löst sich die Tochter von der Mutter im Buch?
Im Pflegeheim, wo die Mutter nichts mehr sagt, nur mehr lächelt - dort findet die wortlose Versöhnung statt. Ein existenzielles Akzeptieren der Vergangenheit, wie sie war. Der Geliebte im zweiten Teil übernimmt die Rolle der Gestorbenen und damit auch das Positive an der Mutter. Es ist ja nicht die Mutter-Kind-Beziehung an sich schlecht. Für jemanden da zu sein, ihm beizustehen, sind positive Werte. Was im ersten Teil so negativ an diesen Fallstricken der Liebe ist, die übergestülpte Wahrnehmung, soll im zweiten Teil von der positiven Seite gezeigt werden. Die Freiheit, die in der Erfindung des Anderen liegen kann. Die positive Kraft. Natürlich gibt es da auch Ängste. Beim Schreiben habe ich eine Parallele gesehen zwischen meiner Liebesvorstellung und meiner Schreibvorstellung, denn im Schreiben kann man die Vergangenheit erfinden und in der Liebe auch. Im Nachhinein kannst du sagen, dass ich mich gerade jetzt in genau diesen Menschen verliebt habe, dazu gehört, dass ich verschiedene Erfahrungen gemacht habe, die vorausgegangen sind, die bis zu ihm führen. Hätte ich dieser Erfahrungen nicht, hätte ich ihn als Liebenden nicht kennen gelernt. Und vom anderen aus gesehen ist es genauso. Insofern erfindet man sich noch einmal, nämlich im Auswahlverfahren, gemeinsam mit einem Liebespartner.
Ein wichtiger Aspekt ist die Darstellung der Probleme, die sich aus der Pflegebedürftigkeit alter Menschen ergeben.
Ein Riesenproblem. Überhaupt einen Heimplatz zu bekommen, erfordert enormen Aufwand an Zeit, Geld und Kraft. Man hat als berufstätiger Mensch ja gar nicht die Möglichkeit, einen Menschen rund um die Uhr zu pflegen. Die häusliche Pflege beruht auf dem Hausfrauensystem, das es zunehmend nicht mehr gibt. Das wäre ein Bereich, in dem jetzt Arbeitslose unterkommen könnten. Aber man braucht dafür Menschen, die rund um die Uhr einsatzbereit sind.
Vielleicht beginnt das Problem aber auch bei der modernen Medizin. Die Mutter in "Heißt Lieben" wird mit Elektroschocks ins Leben zurückgebracht und damit beginnt ja erst diese Phase der Pflegebedürftigkeit. Hätte sie sterben können, wäre ihr diese Erfahrung erspart geblieben.
Da ist die Medizin schuld und auch die Tochter hat ihren Anteil. Hätte sie nicht die Nachbarin angerufen und gebeten, nachzusehen, wäre die Mutter zu diesem Zeitpunkt an einem Herzinfarkt gestorben. Und in genau dieser Situation befindet sich die Medizin. Man kann ja immer erst rückblickend sagen, welcher der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, die Hoffnung aufzugeben.