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Leseprobe 3
Karen hatte sich von Frau Greiving verabschiedet, ohne noch groß mit ihr über ihre Entdeckung zu reden. Sie versprach, in den nächsten Tagen noch einmal vorbeizukommen. In ihrer Wohnung holte sie zuerst das alte Fotoalbum aus dem Schrank und besah sich das Bild ihrer Urgroßmutter. Kein Zweifel, es war das gleiche, das sie vor etwa einer Stunde in Altenberge gesehen hatte.
»Kann das alles wahr sein?«, fragte sie sich. Sie blätterte weiter in dem Album. Fotos ihrer Großeltern, die meisten stocksteif aufgestellt für den Fotografen. Doch diese Bilder und Gesichter waren ihr vertraut. Die Ähnlichkeit ihrer Großmutter mit Carolina war verblüffend. Es klingelte.
»Was hast du Leckeres gekocht?«, fragte Peer und nahm Karen in die Arme.
»Peer«, konnte sie noch sagen, bevor ihre Münder sich zu einem langen Kuss fanden. Hansen hob sie hoch und trug sie zum Sofa. Die Tür schloss er mit einem wohldosierten Fußkick. Es dauerte eine ganze Zeit, bis die beiden voneinander ablassen konnten.
»Ich hatte dich noch nicht erwartet«, meinte Karen etwas atemlos.
»Es ist fast sieben Uhr«, erwiderte er. »Da hat man auch als Polizist normalerweise Feierabend.«
»Es ist schön, dass du da bist.« Sie gab ihm noch einen Kuss. »Aber ich habe völlig vergessen, etwas zu kochen. Ich weiß, ich habe es versprochen, aber heute war so viel los.«
Karen berichtete Peer, was sie bei Frau Greiving herausgefunden hatte. Sie zeigte ihm das alte Foto ihrer Urgroßmutter.
»Du stammst also direkt von dieser Caroline ab, von der du mir erzählt hast. Sie ist faszinierend, die ganze Geschichte. Vielleicht tatsächlich so etwas wie Seelenwanderung oder Ähnliches. Wir könnten Gregor fragen, der liest reichlich parapsychologische Sachen, Esoterikkram und Sagen untergegangener Völker. Vielleicht hat er so etwas schon mal gehört.«
»Ich weiß nicht, Peer. Ich bin mir so unsicher. Nachher haltet ihr alle mich für durchgeknallt.«
»Ich bestimmt nicht. Aber du musst dir irgendwie überlegen, wie du damit zukünftig umgehen kannst. Wir könnten morgen zum Beispiel mal gucken, ob wir in der Buchhandlung irgendwas finden, über Seelenwanderung, Wiedergeburt oder so. Vielleicht hilft das ja.«
»Ich würde Carolina so gerne helfen. Sie wird von diesem Ludger wirklich bedrängt«, sagte Karen traurig. Dann lachte sie auf. »Aber das ist natürlich Quatsch, was geschehen ist, ist geschehen. Komm, ich wollte dir etwas kochen, jetzt lade ich dich zum Essen ein. Keine Widerrede.«
Peer fügte sich. Das Taxi brachte sie in das La Corrida. Dorade in Salzmantel, dazu ein Glas Rioja.
»Roter Wein zu Fisch?«, hatte er gefragt.
»Wenns schmeckt«, meinte Karen. Nach dem Essen entschieden sie sich für einen ausgiebigen Spaziergang durch Münster. Die Nacht war klar, für Oktober mit über zehn Grad fast warm.
»Wirst du wieder rübergehen?«, fragte Peer unvermittelt. Offensichtlich hatte er ihre Ausflüge in die Vergangenheit akzeptiert.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einiger Überlegung. »Es ist so eine skurrile Situation, fast wie aus einem Roman. Ich weiß, dass es totaler Quatsch ist, aber ich fühle mit Carolina. Ich habe den Eindruck, sie braucht mich irgendwie. Ist das nicht verrückt? Peer, hältst du mich für verrückt?« Sie blieb stehen und sah ihn traurig an.
»Nein, du bist nicht verrückt. Ich weiß zwar auch nicht, was da mit dir passiert, aber du bist vollkommen zurechnungsfähig. Vielleicht gibt es ja wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht erklären können. Oder noch nicht erklären können.« Sie gingen weiter. Plötzlich sagte Karen unvermittelt:
»Nein, ich werde nicht wieder rübergehen. Ich muss im Hier und Jetzt leben. Und ich kann ihr sowieso nicht mehr helfen, was immer auch damals geschehen sein mag.« Peer nahm Karen fest in den Arm, bis sie bei ihrer Wohnung angekommen waren.
In dieser Nacht liebten sie sich heiß und innig, angestrengt, als ob es kein Morgen geben würde. Erschöpft und verunsichert über ihre Zukunft schliefen beide ein.
»Wo bleiben Sie? Mutter braucht Ihre Hilfe!« Karen hatte die Stimme ganz deutlich im Traum gehört. Es war Bernard, der sie dringend gerufen hatte. Sie war hellwach, der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach vier Uhr war. Sie könnte es schaffen. Peer atmete ruhig und gleichmäßig, als sie ihre Beine über die Bettkante schwang. Verzeih mir, ich muss zu ihr, dachte Karen, als sie geräuschlos das Zimmer verließ. Wenige Minuten später hatte sie ihr Auto, das sie wie immer irgendwo am Straßenrand geparkt hatte, gefunden und befand sich auf dem Weg nach Altenberge.
Peers Hand griff ins Leere. Er fühlte Karens Wärme unter der Decke. Die seidig glatte Haut, auf die er gehofft hatte, war nicht dort. Nach einigen Sekunden schlug er die Augen auf und blickte zum Wecker. Vier Uhr dreißig.
Mit einem Fluch fuhr er auf und stieg aus dem Bett. In wenigen Augenblicken war er angezogen und aus dem Haus geeilt. Hansen wusste genau, wohin er musste. Auch wenn es kein offizieller Einsatz war, ließ er dennoch das Seitenfenster herunter und setzte den Kojak auf das Dach. Wenn jemand bemerkte, dass er das Blaulicht ohne Einsatz verwendete, würde er höllischen Ärger kriegen. Auf dem Parkplatz vor dem Eiskeller sah er Karens Golf. Doch das Siegel an der Tür war unverletzt. Ein Zivilfahnder kam auf ihn zu.
»Mensch Hansen, du bists? Was machst du denn hier? Mitten in der Nacht? Mit Kojak?« Er zeigte auf die kleine magnetische Warnlampe, die auf Hansens Autodach klebte.
»Wieso steht der Golf hier?« Hansen zeigte auf Karens Auto.
»Weiß nicht. Hat wahrscheinlich jemand hier geparkt. Hab ich nicht drauf geachtet. Du weißt ja, ich bin eingesetzt, um zu checken, wer hier alle paar Tage die Frechheit besitzt, ein polizeilich versiegeltes Gebäude zu betreten. Nur deshalb kleben wir abends die Siegel überhaupt noch dran. Aber, wie du siehst, heute war noch keiner da.«
Hansen überlegte. Diskussionen mit dem Schwätzer wollte er nicht eingehen, aber wo war Karen? Ein Gedanke stieg in ihm auf, dann rannte er die Böschung hinunter.
»Hey, hat dich was gestochen?«, rief sein Kollege hinter ihm her. Peer hörte ihn schon gar nicht mehr. Ihm war eingefallen, dass Karen neulich von einem Nebeneingang gesprochen hatte, der auf den Borndalsweg heraus ging. Eine doppelflügelige Metalltür unterbrach die Regelmäßigkeit der Ziegelmauer. Das einfache Schloss war offensichtlich aufgehebelt worden. Hansen zog seine Dienstwaffe und öffnete vorsichtig das Tor, dann schlüpfte er hinein und suchte im Dunkel der Innenwand Deckung. Stille! Nach einem Moment hörte er, wie sich irgendwo in dem Gebäude jemand bewegte.
»Karen?«, rief er.
Das Geräusch verstummte für einige Sekunden, dann war es wieder da. Das Knarren, als jemand sich vorsichtig über alte Dielenbohlen bewegte. Er erinnerte sich, dass sich in dem historischen Eiskeller uralte Eichendielen befanden. Er beschloss, die schulbuchmäßige Vorsicht über Bord zu werfen und schaltete seine Taschenlampe ein. Dann sah er den Lichtschalter und drückte ihn. Leuchtstoffröhren flackerten auf und tauchten den Raum in ein kaltes Licht, das nach der nahezu kompletten Dunkelheit deplatziert wirkte. »Karen«, rief er noch mehrmals.
Als er am Eingang des neu entdeckten Kellers stand, sah er sofort: Hier war das Absperrband zerrissen. Ein Lichtschein flackerte im Inneren des Raumes. »Karen?«
»Peer, bitte bleib weg! Es tut mir leid«, hörte er sie rufen. Der Schall wurde von den nackten Ziegelwänden ins Unwirkliche verzerrt. In gleichen Augenblick flackerte das elektrische Licht noch kurz auf, dann war es verloschen. Peer drückte sich instinktiv an die Wand und löschte auch seine Taschenlampe. Er wartete einige Sekunden ab, doch nichts war zu hören. Das Licht ging mit dem für Leuchtstoffröhren typischen Summen wieder an. Routinemäßig sah er auf die Uhr. Gerade fünf Uhr durch. Er wusste nicht, ob das wichtig wäre.
»Karen?«, rief er in das Dunkel des neuen Gewölbes, aber es kam keine Antwort. Seine Geliebte, die er noch vor einigen Momenten laut und deutlich gehört hatte, schien wie vom Erdboden verschluckt.
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