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Das Arkham-Sanatorium

DAS ARKHAM-SANATORIUM

Markus K. Korb, Tobias Bachmann
Roman / Düstere Phantastik

Atlantis Verlag

Taschenbuch, 272 Seiten
ISBN: 978-393674278-7

Okt. 2007, 1. Auflage, 12.90 EUR
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»Sie mögen verzeihen, Herr Gouverneur, dass ich Ihre kostbare Zeit mit diesem überaus langen Brief in Anspruch nehme, doch nachdem mir zu Ohren gekommen ist, dass der Berg von Mills von einem Tunnel der Eisenbahngesellschaft durchbohrt werden soll, halte ich es für meine christliche Pflicht, Sie über die Angelegenheit zu unterrichten die einer armen Seele, welche die Schächte im Inneren des Berges erforschte, widerfuhr.
Mag sie auch so unglaublich klingen, wie eine der meisterhaften Geschichten unserer großen amerikanischen Autoren Poe oder Hawthorne, so trägt sie doch den Kern einer unumstößlichen Wahrheit in sich. Und selbst wenn die Geschichte nicht vollständig wahr sein sollte, was ich nicht glaube, so bitte ich Sie dennoch um eine penible Untersuchung des Höhlensystems, denn einen Fehler zu machen wäre hinsichtlich der möglichen Folgen geradezu fatal.
Und so möchte ich, der Pfarrer Montalban von Mills, Sie, Herr Gouverneur, im Namen jenes Mannes warnen, der mir die Geschichte erzählte. Doch zunächst muss ich erklären, wie ich an die Informationen gekommen bin, welche ich Ihnen mitzuteilen einer sterbenden Seele versprochen habe.

Es war ein kalter Wintertag im Januar. Die ganze Nacht über hatte es schon feuchten Schnee vom Himmel geflockt, so dass die ganze Landschaft davon bedeckt war, was dazu führte, dass die Bäume, Wiesen und Häuser unter der weißen Last nahezu zusammenbrachen. Nur schwerfällig spuckten die riesigen Schornsteine der Gummifabrik den sich kräuselnden Rauch gegen die tiefen Wolken aus. Selbst die Vögel auf den Telegrafenmasten bewegten sich nicht. Möglicherweise waren sie in der letzten Frostnacht erfroren und nur das Eis hielt ihre Krallen derart fest umklammert, so dass sie nicht abstürzen konnten. Alles Leben der Natur schien erloschen. Einzig der noch nicht gefrorene See am Dorfrand glitzerte als bläulicher Klecks in einem Meer aus weißer Farblosigkeit.
Ich stand auf einem Hügel außerhalb der Stadt und nahm wie jeden Tag die Eindrücke des Morgens in mich auf, bevor ich mich zu der täglichen Runde durch den Ort aufmachte, um Kranke und Alte zu besuchen. Alsbald fuhr ich in meinem Wagen los. Mein erstes Ziel war die kleine Gastwirtschaft Dagon’s Inn in der Dorfmitte, wo ich mich ein wenig erfrischen wollte. Dort erwartete mich schon die Wirtin - eine Frau um die vierzig, dicklich und rotbackig. Ihre zitternden Hände zeugten von ihrem verstörten Zustand.
Sie berichtete mir von einem Jungen, der vor einer Viertelstunde hier gewesen war, und der mich zu einem Haus in der Walpole Street führen sollte, da dort ein Fremder im Sterben lag. Der Botenjunge hatte die Adresse hinterlassen, so dass ich mich sofort mit den nötigsten Materialien versehen aufmachen konnte. Es war nicht weit, also beschloss ich zu Fuß zu gehen. Die Walpole Street war eine der ältesten Straßen von Mills. Hier lebten schon seit Generationen Aussiedler aus Salem, von denen noch immer Schreckliches hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird. Niemand weiß, was dort tatsächlich weit hinten in zurückgezogenen schwarzen Hinterzimmern und tief unten in dunkelfeuchten Kellern geschieht. Niemand weiß, was dort beschworen wird, ob es nun Satan oder etwas weit Schlimmeres ist. Schon vermeinte ich, Geflüster in den unterirdischen Fluchtwegen zu vernehmen, die das gesamte Viertel durchziehen. Teilweise waren sie entdeckt und zugemauert worden, ohne dass man ihren Weg verfolgt hatte, teils waren sie noch nicht aufgespürt. Man munkelt, dass einige von ihnen sogar zum Strand von Pascoag führen sollen, doch das ist sicherlich übertrieben. Die Ausmaße des Red Hook-Viertels in New York besitzt es selbstverständlich nicht, aber der Grad an Verruchtheit und Verderbtheit ist gleichermaßen hoch.
Die Adresse, die man mir hinterlassen hatte, war ein heruntergekommenes Hotel. Sein metallenes Namensschild schwang mit quietschenden Geräuschen im Abendwind, der durch die Gasse fuhr und alte Zeitungen und Papierfetzen wie Vögel aufflattern ließ. Über eine wurmstichige Treppe, deren durchgebogene Stufen bei jedem Schritt meiner Stiefel laut wie unter Schmerzen knarrten, kam ich an die Haustür. Sie war nur angelehnt und als ich nach dem Türblatt griff, bemerkte ich, dass es unter einer steten Erschütterung zitterte, deren Ursprung ich nicht ausmachen konnte. Kleine Partikel fielen in weißen Wölkchen herab und brannten mir in den Augen. Ein vorsichtiger Blick nach oben zeigte mir, dass sich feinster Staub vom Fensterrahmen löste und herabbröselte. Der Rahmen umspannte ein Oberlicht über der Haustür, dessen Lackschicht ein chaotisches Geflecht abgeplatzter Stellen aufwies. Auch hier war die seltsame Erschütterung am Werk. Eine Untergrundbahn besitzen wir hier in Mills nicht, also vermutete ich, dass dieses Phänomen von einer Maschine im Keller des Hauses herrührte, welche ihre Schwingungen auf die Mauern, Türen und Fenster übertrug. Der Hausbesitzer sollte wohl Bescheid wissen, dachte ich mir und schritt voran in das Zwielicht hinter der Eingangstür.
Ich befand mich in einer engen Diele. Es roch nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln. Rechts von der Tür befand sich eine niedrige Holztheke, deren Lasur in durchsichtigen Flechten abblätterte. Hinter der Rezeption sah ich den Kopf eines älteren Mannes, der sogleich aufsah.
»Ah – Herr Pfarrer! Gut, dass Sie da sind.«
Er blickte gehetzt um sich.
»Spüren Sie es auch? Dieses Zittern der Wände?«, fragte er.
Ich nickte.
»Ich habe alles untersucht: den Dachboden, die Zimmer, sogar im Keller war ich, doch nirgendwo habe ich die Quelle für diese Vibrationen ausmachen können!«
»Wo waren sie denn am stärksten?« Ich sah den Mann aufmerksam an. Er schien mir zwar verwirrt und ängstlich, aber in seinen Augen leuchtete nicht das Feuer des Wahnsinns.
Der Hotelbesitzer neigte seinen Kopf, so dass ihm die weißen Haare ins Gesicht fielen. Er überlegte.
»Im Keller war es einen Tick stärker! Aber lassen wir das – ich habe hier einen Gast, den ich unbedingt aus dem Haus haben möchte – er ist krank, hoffentlich stirbt er bald ...«
Ich verwies den Besitzer des Hotels verbal in seine Schranken, doch er schüttelte nur den Kopf.
»Nein, nein. Der Kranke ist verseucht, irgendetwas geht mit ihm vor – ich weiß das! Er ist die Sünde, deshalb habe ich gerade Sie holen lassen und keinen Arzt! Außerdem bestand der Mann darauf, dass Sie und kein Doktor ihn besuchen!«
Ich verstand nicht und zeigte es ihm auch deutlich durch ein Stirnrunzeln. Er winkte ab.
»Nun ja, egal – sie werden sich gleich selbst ein Bild der Lage machen wollen. Er liegt auf Zimmer 23. Hier!« Der Hotelbesitzer reichte mir ein Taschentuch und ein kleines Parfümfläschchen, das er einer Schublade des Tresens entnahm. »Sie werden beides brauchen, glauben Sie mir ...!«
Ich dankte dem Mann und schritt einen muffig riechenden Gang entlang, der nur durch ein kleines Fenster am entfernten Ende erleuchtet wurde. Als ich am Zimmer Nummer 23 ankam, hielt ich die Luft an, da sich hier der Geruch zu verdichten schien. Dann klopfte ich mit dem Fingerknöchel, wartete einen Moment und als sich nichts dahinter rührte, trat ich ein.
Der Gestank ließ mich taumeln. War er vor der Tür noch muffig zu nennen; im Raum selbst wurde er fast körperhaft. Wie eine grüngelbe Wolke schwebte er in Schlieren durch den Raum und ballte sich über dem einzigen Möbel zu einer knotigen Erscheinung zusammen. Natürlich erschien es mir nur so in meiner Vorstellung, aber der bestialische Mief rührte von dem Kranken, der in fleckigen Laken auf einem niedrigen lag. Neben ihm brannte auf dem Nachttisch eine Duftkerze, welche vergebens mit ihren ungenügenden Kräften gegen die Macht des Gestanks ankämpfte. Daneben befand sich ein kleines Fenster in der Wand, mit zugezogenen Vorhängen und geschlossenen Fensterläden, so dass das Flackern der Kerze die einzige Lichtquelle war, die den Raum durchflutete.
Neben dem Fenster befand sich ein altersschwacher Schrank und ein Spiegel.
Ich träufelte einige Tropfen des Parfüms auf das Taschentuch und hielt es mir unter die Nase. Dermaßen gewappnet trat ich näher an den Kranken heran und musterte ihn.
Langes Haar floss strähnig vom Kopf auf das schmutzige Kissen und umrahmte ein Gesicht mit den eingefallenen Wangen, wodurch die knöcherne Struktur des Schädels besonders hervortrat. Die Haut wirkte ledern, von tiefen Furchen in ein Puzzle zerteilt, das nur ein wahnsinniger Gott vermocht hätte wieder zusammenzufügen. Die Hakennase ragte wie die Finne eines gekenterten Bootes aus dem zerschundenen Gesicht empor. Die Nasenflügel blähten sich unkontrolliert auf und zogen sich wieder krampfartig zusammen, was mir zu der Befürchtung Anlass gab, der Atem des Fremden würde bald aussetzen.
Mein Blick wanderte weiter nach unten und erfasste den übrigen Körper, der sich unter der Decke abzeichnete. Krustige Blutspritzer waren in das Laken eingetrocknet. Ich nahm an, dass sie vom blutigen Auswurf des Kranken stammten. Inmitten der rostbraunen Flecken lagen die dünnen Arme des Mannes – überkreuzt wie altersschwache Windmühlenflügel.
Ich räusperte mich und er schlug die Augen auf, doch, mein Gott, was waren das für Augen. Ein Grün, nicht von dieser Welt.
Er war es, der das erste Wort sprach. Seine Stimme hörte sich an wie das Knistern von altem Laub in tiefen Kellern. Leise klangen die Worte aus seiner Kehle.
»Gut, dass Sie gekommen sind - Priester!«
Ich nahm einen Stuhl, der im Schatten der Tür stand und setzte mich neben das Bett, das Taschentuch griffbereit in der Handfläche.
»Nun, möchtest Du die Beichte ablegen?«
Der Mann im Bett schloss für einige Sekunden die Augen, so dass ich schon befürchtete, er wäre schon gestorben. Doch dann öffnete er sie wieder, wendete den Kopf und sagte: »Nein!«
Mit seinem Atem wehte mir ein fauliger Pesthauch ins Gesicht, der mich würgen ließ. Seine Stimme klang dabei gar nicht mehr schwach, sondern hart und laut.
»Warum haben Sie mich dann rufen lassen?«
Der Kranke hustete und spie roten Speichel auf das Laken. »Weil Sie der einzige sind, dem ich noch trauen kann. Sie werden mir sicherlich meine Geschichte glauben, denn auch Sie sind von der Existenz einer jenseitigen Welt überzeugt. Ich habe Sie dazu berufen, der Welt ein Warner zu sein, falls das eintrifft, was ein barmherziges Schicksal verhüten möge ...«
Ich wendete mich unauffällig zur Seite, damit sein fauliger Atem mich nur streifte.
»Und was soll geschehen?«, fragte ich.
Der Mann im Bett lachte. Es klang wie knirschendes Glas.
»Ich habe gehört, dass die Bergwerke von Mills wieder geöffnet werden, damit man einen Tunnel für die Züge durch den Berg treiben kann. Das muss um jeden Preis verhindert werden und der Leuchtturm des Wissens um die Gefahr sollen Sie sein, inmitten des schwarzen Meers lichtloser Finsternis und Torheit!«
Der Mann schloss erschöpft die Augen und hustete stark.
Ein dünnes Blutrinnsal sickerte aus seiner Nase und lief die Wange hinab. Er verteilte es mit dem Handrücken im gesamten Gesicht, was ihn noch gespenstischer erscheinen ließ.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich erschrocken.
Doch er ließ mich nicht ausreden. Abrupt schlug er die Augen auf.
»Lassen sie mich zunächst meine Geschichte erzählen, dann können Sie urteilen. Doch urteilen Sie gut - es ist nicht nur Ihr Leben, das auf dem Spiel steht...«
Und so begann er zu erzählen, die ganze Nacht hindurch. Der Name des Kranken ist nicht wichtig, auch nicht woher er kam. Ich bitte Sie, Herr Gouverneur, dass Sie diesen Bericht ernst nehmen, denn ich selbst war dort unten in der Finsternis und ich habe etwas gesehen, was mich zu der Annahme nötigt, dass die Geschichte des Kranken nur allzu wahr ist. Doch lesen sie, was er mir in jenem pesthauchgeschwängerten Raum erzählte:
»Im September fuhr ich mit dem ersten Bus nach Westen in Richtung Mills. Schon seit mehreren Wochen war ich aus Persien zurück, wo ich die legendären Ruinen der verfluchten Stadt Tky'lrah durchstreift hatte, ohne jedoch das fluchbeladene Mosaik der Talma’thseng-Dynastie zu finden, was ich erhofft hatte. Ich gehörte einer Glaubensgemeinschaft an, die ihr Kirchendiener wohl gottlos nennen würdet, aber, bei den Geistern des Gräberfeldes von G'gohtta, wir haben Götter und sie existieren wahrhaftig!
Ich reiste im Auftrag des Esoterischen Ordens des Dagon schon zu den entferntesten Orten der Welt, um Plätze zu finden, die geeignet waren, um dort geheime Rituale zur Verehrung unseres Gottes abzuhalten.
Die weiten Steppen Russlands und der Mongolei habe ich durchwandert, bereiste das sagenhafte Tibet und seine Bergklöster, erforschte die tieferen Gänge und Räume der Ruinen von Tandalos und sah die Geheimnisse der Sphinx in einem tiefen, engen Korridor unter der Cheopspyramide, der eigentlich schon verschüttet und von der Welt vergessen war.
Ich fand seltsame Gebäude inmitten eines erloschenen Vulkankraters auf Sumatra und lauschte in den undurchdringlichen Wäldern Kanadas den schaurigen Gesängen des Wendigos.
Außer mir waren noch weitere acht Mitglieder unseres Ordens damit beschäftigt neue Orte ausfindig zu machen. Oh, was für Wahnsinnige wir doch waren, wir dachten, wir würden verschont, wenn einst die Zeit der Ankunft unserer Götter bevorstehen würde.
Doch ich habe erfahren, dass von den Göttern keine Gnade zu erwarten ist.
Ich fuhr also nach Westen, nach Mills, weil mir zu Ohren gekommen war, dass dort ein stillgelegtes Bergwerk zu finden sei, was der richtige Ort für einen Tanzplatz abgeben könnte. Tief im Innern des Berges würde niemand die Trommeln hören. Auch die dumpfen Gesänge zu den Lauten einer Flöte würden in den ewig dunklen Gängen verhallen.
Ich kam nachmittags an und nahm mir ein Zimmer - hier in diesem schäbigen Hotel. Ich übernachtete und schmiedete Pläne für die kommende Nacht, in der ich dem Berg einen Besuch abstatten wollte.
Tagsüber versorgte ich mich in einem kleinen Laden mit dem nötigen Proviant und ordnete meine Ausrüstung: Seile und Haken für einen eventuellen Abstieg, Taschenlampe und Ersatzbatterien, Bergschuhe, eine Schrotflinte in einem speziell für mich geschneiderten Lederhalfter, den ich auf den Rücken schnallen konnte. Bleistift und Block für den Plan des Berges waren ebenfalls dabei. Kreide für Wegmarkierungen durfte nicht fehlen.
Es wurde Abend.
Durch das Fenster konnte ich die Sonne hinter dem Berg untergehen sehen. Sie verfärbte den Himmel in ein blutiges Rot. Das Firmament war durchsetzt mit Wolken, deren zerfaserte Enden rosafarben erstrahlten. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass ich einen Sonnenuntergang sehen durfte.
Schwärme von Fledermäusen umschwirrten die Flanken des Bergs und wirkten wie eine große Rauchwolke. Der Berg lag wie ein Pockengeschwür da und lauerte. Als die Sterne durch das Samt der Nacht stachen, brach ich auf.
Mein geliehener Wagen brachte mich in ein kleines Wäldchen, nahe dem Berg. Dort ließ ich ihn stehen, packte meinen Rucksack und deckte das Fahrzeug mit ein paar Tannenzweigen ab. Ich marschierte los.
Nach ein paar Minuten ragte das Felsmassiv des Berges vor mir empor und ich konnte mit dem Aufstieg beginnen. Ich wusste, dass der Stolleneingang verbarrikadiert worden war und doch hoffte ich, dass es noch einen anderen Weg ins Innere geben müsste. Die Fledermäuse halfen mir bei meiner Suche.
Ich kletterte ihnen entgegen, bis mich nur noch zehn Meter Höhenunterschied von der wirbelnden Masse aus ledernen Schwingen trennte. Als ich nach oben blickte, sah ich, dass die Tiere aus einem Längsspalt von acht Metern Höhe und einem Meter Breite herausstieben. Damit hatte ich einen natürlichen Seiteneinstieg in den Berg gefunden! Vorsichtig wartete ich den Exodus der Fledermäuse ab und begab mich in das Innere des Felsmassivs.
Das Licht meiner Taschenlampe entblößte eine kleine Höhle.
Gerüchteweise hatte ich vernommen, dass mehrere Bergwerksleute umgekommen oder verschollen seien, und so rechnete ich mit unterirdischen Flüssen und mit abrupt auftauchenden Schluchten, die in eine bodenlose Schwärze abfielen. Daher setzte ich meinen Weg mit der nötigen Vorsicht fort.
Zusehends erweiterte sich die Höhle und als ich den Strahl meiner Taschenlampe gegen die weit entfernte Decke hob, sah ich Stalaktiten von unbeschreiblicher Schönheit, die im Licht glänzten. Dazwischen befand sich eine wimmelnde, schwarze Masse. Sie wiegte sich in Wellen hin und her. Von meinem grellen Licht aufgeweckt empörte sie sich mit wildem Kreischen. Es waren Fledermäuse - es mussten Zehntausende in dieser Höhle sein!
Ich kam an eine Kreuzung und entschied mich dafür geradeaus zu gehen – doch da stoppte ein Abgrund meinen Weg, teuflisch knapp hinter dem Durchgang, was mich zum einem Richtungswechsel nach rechts zwang.
Steil ging es über den rampenartig abfallenden Boden nach unten. Es wurde kühler, ich fing an zu frösteln und knöpfte meine Jacke zu. Ich durcheilte kleine Höhlensäle und gigantische Hallen, in denen die von Wasser und Kalk gebildeten Tropfsteine wie Säulen wirkten, welche die Decke trugen. Gespenstische Felsformationen ließen mich oft aufschrecken, wenn sie im Licht meiner Lampe auftauchten. Dann betrat ich Grotten, deren Decken aussahen, als wären sie mit Millionen von felsigen Nadeln durchbohrt und lief an unterirdischen Seen vorbei.
Am Ufer eines der Seen war es auch, als mich zum ersten Mal das Entsetzen packte. Zunächst hatte ich angenommen, das, was am Rande des Ufers lag, wäre ein weiterer unförmiger Uferstein, der halb vom Seewasser bedeckt war. Beim Näherkommen musste ich aber erkennen, dass es sich dabei in Wirklichkeit um ein Skelett handelte. Es lag halb im Wasser, zu einer embryonalen Haltung verkrümmt. Ein Gegenstand lag auf dem Totenkopf. Ich packte ihn und nahm somit einen gelben Bergarbeiterhelm vom Schädel des Skeletts. Plötzlich wurde mir die ganze Atmosphäre des Grauens in diesem Berg bewusst.
Vorher war ich wie ein Tourist durch die Eingeweide des Berges gelaufen, geblendet von der Schönheit der spitzen Stalagmiten und des grünen Wassers. Doch plötzlich war mir klar geworden, dass hinter jedem schleimglänzenden Tropfstein ein dunkles Phantom, nach jeder Biegung ein unaussprechliches Grauen sich versteckt halten konnte.
Trotzdem machte ich mich wieder auf den Weg, Kreuzungen mit der Kreide kennzeichnend und mit dem Bleistift eine Karte anfertigend. Es ging wieder ein Stück nach oben, einen Hang hinauf und durch ein enges Nadelöhr aus Stalagmiten zu einer Art Wendeltreppe, die aussah, als sei sie von Menschenhand in den Fels getrieben worden. Nun achtete ich besonders auf jedes noch so kleine Geräusch, das mir das Vorhandensein eines fremden Wesens mitteilen konnte. Aber ich hörte nur das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Ab und zu drang das Geräusch fallender Tropfen an mein Ohr, die auf steinigem Untergrund zerplatzten. Nach einer mir ewig erscheinenden Wegstrecke kam ich am Ende der Treppe an und stand mitten im verfaulenden Herzen des Berges.
Doch was für ein Anblick bot sich meinen Augen:
Eine kleine Höhle erstreckte sich vor mir. Die Lampe brachte die schreckliche Wahrheit ans Licht, die ich schon auf der Treppe geahnt und doch nicht zu denken gewagt hatte - ich war nicht der erste, der hier unten gewesen war. Dutzende von Skelettresten waren über den Boden verstreut.
Auf dem festgestampften Lehmboden stand eine Art Thronsessel mit hoher Lehne. Er bestand aus Holz, kunstvoll mit arabesken Mustern verziert, deren Beschreibung mir widerstrebt. Derart blasphemisch-perverse Szenen hatte noch nicht einmal ich gesehen. Rechts davon erhob sich ein länglicher Steinaltar vor den fragmentartigen Resten einer Ziegelmauer. In der Mitte der Höhle war ein schwarzer Fleck – Überreste einer Feuerstelle.
Eine Furche im Lehm führte von ihr hin zum Steinaltar, an dessen Frontseite sie in einen Graben überging, der rings um den Altar führte.
Der Zweck der Anlage war klar: Menschenopfer. Ganz offensichtlich ein Beschwörungs- oder Beschwichtigungritual - ich befand mich in einem verlassenen Sakralraum inmitten des Bergs! Ich betrachtet die Ornamente auf der Bank genauer, musste aber feststellen, dass ich sie nicht einzuordnen vermochte. Wohl eine mir unbekannte Geheimsekte.
Doch welchen Gott mochten sie verehrt haben? Waren ihre Beschwichtigungsrituale nicht ausreichend gewesen, oder warum lagen die Skelette der Sektenmitglieder hier unten? Und warum hatten sie versucht, sich durch eine Ziegelmauer vom übrigen Raum abzuschotten?
Das ganze war ein Rätsel für mich.
Was war geschehen?
Ich untersuchte die Reste der Ziegelmauer. Die Steine waren durch eine unbekannte Kraft nach außen geschleudert worden, in den Raum hinein. Ich trat über die niedrige Schwelle in den Raum hinter der Opferhöhle. Doch bevor ich noch etwas tun konnte, geschah es!
Ich erfuhr den Grund für den Tod der Menschen und er war grausamer, als ich es mir vorgestellt hatte.
Aus dem Dunkel raste eine weiße Kugel auf mich zu!
Ihr Durchmesser mochte wohl drei Meter gewesen sein. Ihr schleimiges Weiß war durchzogen von roten Adern, die im Rhythmus eines unheiligen Herzens pulsten. Ein schwarzer Spalt befand sich in der Mitte des Monsters und wurde zusehend kleiner, als es sich der Lichtquelle näherte. Ein Sprühregen aus schleimiger Feuchtigkeit eilte dem Ding voraus und traf mich mitten im Gesicht.
Ich schrie auf und hetzte davon, setzte über die Mauer, schlug hin und hörte hinter mir die Reste der Ziegelmauer brechen.
Meine Flucht war schier endlos, ich vermeinte den Atem und den pfeffrigen Gestank des Wesens zu vernehmen. Schließlich sank ich erschöpft zu Boden. Ich hatte jegliche Orientierung verloren, und so verbrachte ich endlose Stunden in der Nähe des unbeschreiblichen Grauens. Es erschien mir wie Tage, ehe ich wieder eine meiner Markierungen fand, doch dann hatte ich es geschafft So dachte ich.
Doch die Krankheit, die mir dieses Ding auf den Körper gehaucht hatte, zehrt mich aus wie ein unsichtbarer Vampir.
Nun beschwöre ich Sie, Pater! Sollte jemand versuchen, das Bergwerk wieder zu eröffnen oder den Berg betreten zu wollen, verhindern Sie das! Die Folgen könnten für die Menschheit schrecklicher als ein atomarer Holocaust sein! Es gibt Dinge in der Erde, tief verborgen in Schluchten im Meer, wo nur steinerne Obelisken ihr Antlitz tragen oder im Raum jenseits der Sterne, die mächtiger sind als der Mächtigste der Erde, und sie herrschten einst über die Erde und wurden vertrieben und verbannt.
Doch sie wollen wiederkehren und verblendete Anhänger, wie ich einer war, unterstützen sie, da sie einen persönlichen Nutzen daraus ziehen wollen.
Doch der Nutzen ist nur ein höhnisches Lachen zwischen den gefühllosen Sternen, die noch funkeln werden, wenn die Menschheit ihre kurze Zeit auf der Erde schon hinter sich gelassen haben wird.«

Der Kranke erzählte mir noch weitere Details über seinen blasphemischen Kult, bevor er in den Morgenstunden, als der Ziegenmelker rief, unter grausigen Umständen verstarb.
Gott sei seiner Seele gnädig.
Doch nun, Herr Gouverneur, hören Sie das Ende meines Berichtes, was sie davon überzeugen soll, dass wir es hier mit einer Macht zu tun haben, welche nicht in Freiheit gelangen darf:
Als ich dem Verstorbenen die Lider schloss, ging ein Ruck durch das Hotelzimmer, der alle Wände erzittern ließ. Ich dachte an ein Erdbeben und rannte so schnell ich konnte auf den Flur hinaus, um den Hotelbesitzer zu warnen und uns beide in Sicherheit zu bringen. Der alte Mann an der Rezeption erwartete mich schon mit schreckgeweiteten Augen und faselte etwas von einem sich hin- und herwindenden Ding, das aus dem Keller heraufgekrochen war. Es habe massive Steinwände wie Pappdeckel durchbohrt und sich einen Weg durch das Hotel gegraben. Ich nahm den wirr Lallenden am Arm, stürzte zur Haustür, riss sie auf und hetzte mit dem Besitzer des Hotels hinaus auf die Straße. Als wir uns umblickten, geschah es.
Für einen Moment sah ich einen schwarzglänzenden Schatten am Fenster des Zimmers, in welchem der Verstorbene lag. Doch dann war er verschwunden und die Erschütterungen des Hauses, welche ich während meiner gesamten Zeit des Besuches hatte spüren können, nahmen an Stärke zu. Bis schließlich ein Krachen ertönte und ein Riss in der Hausfront erschien. Behände sprang er vom Boden zum Giebel und teilte das Hotel in zwei Hälften. Bald darauf sank das Gebäude in einer Wolke aus Staub zusammen.
Bei den Aufräumarbeiten fanden die Untersuchungsbeamten der Polizei keine Leiche, nur ein tiefes Loch, das kraterartig in die Erde führte. Man verschloss es mit einem Siegel aus Beton, denn niemand wagte es, hinunterzusteigen und herauszufinden, wohin es führte.
Doch ich weiß, wohin – zum Berg!
Alle halten mich für einen alten Narren, der das Geschwätz eines Wahnsinnigen für die Wahrheit hält. Aber ich war dort! Ich habe den Berg besucht – und ich habe das Ding in seiner Gänze gesehen! Es war furchtbar, ich kann es nicht beschreiben, der Anblick kann einen Menschen wahnsinnig machen! Nun verstehe ich den Kranken, der von der Tränenflüssigkeit des Ungeheuerlichen mit einer Pestilenz von den Sternen angesteckt wurde. Ich muss alle warnen! Muss alle davon fernhalten! Ich bitte Sie, Herr Gouverneur - der Tunnel der Eisenbahn darf nicht durch diesen Berg führen, ansonsten könnte dieses unförmige, faulige Ding unter dem Berg befreit werden. Das Ding, das seine Tentakel durch das Erdreich bis in die Stadt bohren und dort selbst Häuser zum Einsturz bringen kann. Das Wesen, von dem der Kranke erzählte und das er im Zwielicht wahrgenommen hatte, als er hinter der Ziegelmauer am Rande einer Schlucht stehend, nur das EINE der tausend AUGEN des Wesens sehen konnte ... «

Die Illustration stammt von Timo Kümmel


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