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Säulen der Ewigkeit

SÄULEN DER EWIGKEIT

Tanja Kinkel
Roman / Belletristik

Verlagsgruppe Droemer Knaur

Fester Einband, 688 Seiten
ISBN: 978-342619816-2

Aug. 2008, 1. Auflage, 19.95 EUR
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Was immer du tun willst, fang damit an.
Als Sarah ihrer Arbeitgeberin diesen Satz aus einem Artikel über berühmte Dichter vorlas, spürte sie, dass sie ihn niemals wieder vergessen würde. Sie hielt inne, und Mrs. Stapleton warf ihr einen ungehaltenen Blick zu.

Was immer du tun willst, fang damit an. Es war nur ein Zitat von vielen, und nichts hatte sich geändert: Die verblassende chinesische Tapete hinter Mrs. Stapleton war die gleiche, die große Wanduhr, die Sarah bald wieder würde aufziehen müssen, tickte weiter, und trotzdem erschien es ihr, als habe dieser kurze Ausspruch sich direkt an sie gerichtet; er war wie eine Hand, die in ihre Haare griff, um sie wachzurütteln. Mrs. Stapleton räusperte sich, und Sarah erklärte, um ihre Verlegenheit zu überbrücken, der Artikel sei zu Ende. Sie ging hastig zu dem über, was Mrs. Stapleton »die leidige Politik« nannte, und zu dem Bericht über Napoleon Bonapartes Selbstkrönung zum Kaiser der Franzosen, den sie mit gemessener, sachlicher Stimme vortrug. In Mrs. Stapletons empörten Ausrufen über die Anmaßung des Korsen versank der kurze Moment der Stille.

Was Sarah jedoch die ganze Nacht nicht schlafen ließ, hatte nichts mit dem Korsen und alles mit jenem kurzen Zitat zu tun. Am Morgen hatte sie ihre Entscheidung gefällt, ihr Leben von Grund auf zu ändern, selbst wenn sie noch nicht genau wusste, wie sie das anstellen sollte. Ihr Stubenhockerdasein aufzugeben und ohne Begleitung die Straßen von London zu erkunden, statt sich auf das unmittelbare Umfeld des Hauses von Mrs. Stapleton zu beschränken, wie es von ihr erwartet wurde, schien ein guter Anfang zu sein.

Sarah hatte eigentlich keinen Grund, sich zu beklagen. Mit der Ausbildung, die ein Waisenhaus in Bristol einem aufgeweckten, fl eißigen Mädchen geben konnte, war die Stelle als Gesellschafterin einer alten Dame in London, die sie seit drei Jahren hatte, das Beste, was jemand wie sie erreichen konnte. Doch es genügte Sarah nicht. Nicht mehr.

Dabei ging es ihr keineswegs um ein höheres Einkommen. Sie stammte aus wesentlich bescheideneren Verhältnissen. Bristol lebte von seinem Hafen, dem Handel und der Kohle, was bedeutete, dass die Jungen in den Waisenhäusern entweder auf den Schiffen oder in den Minen landeten, wenn sie nicht genug Intelligenz und Talent zeigten, um als Schreiber an die Handelshäuser weitergegeben zu werden. Auch die meisten Mädchen waren für die Minen bestimmt, wenn sie klein und kräftig genug waren, um sich in den engen Schächten zu bewegen. Unter der Hand flüsterte man sich zu, dass die Kinder in den Bergwerken wegen des Staubs, des Steinschlags und der Gasexplosionen so gut wie nie älter als fünfzehn Jahre würden.

Nach dem Tod ihrer Eltern hatte man Sarah und ihren älteren Bruder in das Waisenhaus gebracht, wo sie kurze Zeit später Abschied voneinander nehmen mussten; mit zehn war er alt genug gewesen, um unter Tage geschickt zu werden. Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Die Nachricht von seinem Tod war ihr erst ein halbes Jahr später überbracht worden. »Ein Jammer. Aber er konnte weder lesen noch schreiben; was gab es da schon für Möglichkeiten?«, hatte der Leiter des Waisenhauses gesagt.

Ja, Sarah hatte ihre Lektion sehr früh und sehr gründlich gelernt. Sie ließ in ihrem Eifer, gelehrig und fleißig zu erscheinen, nie nach, hatte Glück und wurde nach ihrer Ausbildung als Lehrerin für die Jüngsten im Waisenhaus übernommen. Eifrig, sagte man von ihr, Miss Banne ist sehr eifrig.
Das Einzige, was dem Vorsteher des Waisenhauses an ihr nicht gefiel, war, dass sie ihren Eifer und ihre ebenso beunruhigende wie unschickliche Energie nun auch einsetzte, um ihn davon zu überzeugen, keine Kinder mehr in die Bergwerke zu schicken. Da sie bei jeder Gelegenheit ein passendes Bibelzitat zu diesem Thema zur Hand hatte, konnte er ihr noch nicht einmal vorwerfen, sie führe respektlose Reden. Schlimmer noch, es gelang ihr, die übrigen Lehrer und den Archidiakon der zuständigen Diozöse, der für die finanzielle Unterstützung des Waisenhauses zuständig war, auf ihre Seite zu ziehen, so dass der Vorsteher sich schließlich dazu bereitfinden musste, nachzugeben. Doch er vergaß Sarah dieses Verhalten nie.

Als die in London ansässige vermögende Mrs. Stapleton auf der Suche nach einer billigen, gut christlichen Gesellschafterin aus ihrer Heimatstadt gewesen war und der Leiter des Waisenhauses sie empfohlen hatte – wahrscheinlich, um sie loszuwerden –, hatte es für Sarah keinen Moment des Zögerns gegeben. Diese Anstellung war ihre lang ersehnte Möglichkeit, dem Waisenhaus den Rücken zu kehren. Eine Ehe hatte sie als Alternative nie in Erwägung gezogen. Die Männer, die sie ohne Mitgift genommen hätten, waren ihr zu töricht, zu grob oder zu alt erschienen, während diejenigen, für die sie ihr Herz hätte entdecken können, in der Regel selbst zu arm waren, um auf eine Mitgift verzichten zu können. Überdies hatte keiner ihre Sehnsucht, die Welt
zu sehen, verstanden. Also hatte sie sich von den Männern ferngehalten, denn für eine Liebelei zwischen Tür und Angel war sie sich zu schade.

Sarah hatte nicht damit gerechnet, dass sie in London als Gesellschafterin in einer ähnlich erstickenden Enge leben würde, wie sie es in Bristol als Lehrerin getan hatte, nur in einem neueren, viel prächtigeren Haus. Aber immerhin war sie nun nicht mehr auf das Wohlwollen einer ganzen Institution angewiesen, sondern nur noch das einer einzigen Person, auch wenn es sich bei Mrs. Stapleton um alles andere als eine einfache Dienstherrin handelte. Zurückzugehen kam selbstverständlich nicht in Frage. Nein, sie musste vorwärts blicken. Es musste ein Vorwärts geben. Immer!

Was immer du tun willst, fang damit an. Seit Sarah am Tag vor ihrem neunzehnten Geburtstag diesen einen Satz gelesen hatte, träumte sie mit neuer Energie davon, keine Gesellschafterin mehr zu sein, kein Schatten, der irgendwann nicht mehr von den Tapeten an den Wänden zu unterscheiden war; kein Mädchen, das nur noch ein paar Jahre hatte, bis es eine alte Jungfer genannt wurde und seine Tage damit verbrachte, auf ein Vielleicht zu hoffen; kein Spielball anderer, der hierhin und dahin geworfen wurde, aber sich seinen Weg nie selbst aussuchen konnte oder, schlimmer noch, auf ewig in einer vergessenen Ecke ruhte. Nichts dergleichen. Das war es, was Sarah sich in jener Nacht vornahm – und ein Jahr später, kurz nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, war die Erfüllung ihrer Träume in erreichbare Nähe gerückt. Sie würde ein Leben führen, das sich von allem, was sie gewohnt war, völlig unterschied. Sie würde nicht länger ständig an einen Ort gebunden sein. Sie würde einen Mann heiraten, den sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie war glücklich. Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, hätte sie fest damit gerechnet, dass am Tag vor ihrer Hochzeit noch etwas schiefging. Aber sie war entschlossen, nichts dergleichen zuzu lassen.

»Sie haben es sehr gut bei mir«, sagte Mrs. Stapleton nicht zum ersten Mal, als Sarah erschien, um ihr die morgendliche Post und die Zeitungen vorzulesen. Mrs. Stapleton erhielt nicht nur die Tagesblätter, sondern auch die Monatsschriften diverser Gesellschaften wie der Geological Society, der Gesellschaft zur Bewahrung britischen Erbes oder der Patriotinnen gegen Bonaparte, die sich alle Hoffnungen darauf machten, in Mrs. Stapletons Testament bedacht zu werden, und sie daher kostenlos schickten. Mrs. Stapleton hatte keine Kinder, denen sie ihr Vermögen eines Tages vermachen konnte, aber auch nie eine Neigung erahnen lassen, ihr Geld für etwas anderes als ihren eigenen Komfort einzusetzen. Oder sich von etwas anderem zu trennen, an das sie sich
gewöhnt hatte.
»Miss Banne, es bricht mir das Herz, mir vorzustellen, wie Sie sich an einen Neger wegwerfen.«
»Er ist kein Neger«, entgegnete Sarah, ebenfalls nicht zum ersten Mal, doch Mrs. Stapleton war alt, und man musste ihr zubilligen, eher vergesslich als boshaft zu sein. Überdies war sie kurzsichtig; bei ihrem einzigen gemeinsamen Besuch des Jahrmarkts, auf dem Sarahs Verlobter sein Geld verdiente, hatte sie ihn als schwarzen Häuptling in der Pantomime Philipp Quarll, oder: Der Englische Einsiedler auftreten sehen. Ganz gleich, wie oft Sarah versucht hatte, zu erklären, dass es sich um eine Maskerade gehandelt hatte, Mrs. Stapleton beharrte darauf, den zukünftigen Gatten ihrer Gesellschafterin als Afrikaner und die Verbindung daher als zutiefst unnatürlich zu bezeichnen.
»Sie haben es mir selbst von dem Programmzettel vorgelesen«, sagte sie jetzt störrisch. »Der patagonische Samson, so stand es dort.«
»Patagonien liegt in Südamerika«, erwiderte Sarah und konnte trotz bester Vorsätze nicht verhindern, dass sich eine Spur Ungeduld in ihre Stimme mischte. »Nicht in Afrika. Außerdem war es der Veranstalter, der Mr. Belzoni diesen Titel verlieh. Mr. Belzoni stammt aus Padua, in Italien. Galilei und Kopernikus haben dort gelehrt.«
»Also ist er auch noch ein Lügner, der sich als jemand ausgibt, der er nicht ist«, sagte Mrs. Stapleton schnippisch. »Woher wollen Sie wissen, dass diese Behauptung, aus Padua zu kommen, nicht ebenfalls eine Unwahrheit ist? Im Übrigen sehe ich eine italienische Herkunft keineswegs als
Empfehlung an, und das sollten Sie auch nicht. Italiener sind ja fast Korsen. Oder ist das umgekehrt? Einen Landsmann des korsischen Ungeheuers zu heiraten ist in diesen Zeiten eigentlich Vaterlandsverrat. Ist Nelson dafür bei Trafalgar gestorben?«

Sarah war durchaus bewusst, dass Mrs. Stapleton sie bereits bei der ersten Ankündigung ihrer Eheabsichten hätte entlassen können. Doch Mrs. Stapleton war zu alt, zu zänkisch und zu einsam, um ohne vertraute Gesellschaft auszukommen, und Sarah hatte gehofft, auch nach ihrer Heirat zumindest eine Weile noch für sie zu arbeiten. Giovanni Belzoni musste außer für sich selbst auch für seinen jüngeren Bruder sorgen, der bei ihm lebte, und Geld an seine Familie in Italien schicken. Ein zusätzliches Einkommen, solange sie noch in England lebten, wäre hilfreich für ihre junge Ehe.

Aber nach Wochen, in denen sie das gleiche Gespräch wieder und wieder mit der alten Dame führte, Wochen, in denen sie die Zähne zusammenbeißen und unsinnige Vorwürfe wie die Gleichsetzung ihres Liebsten mit Bonaparte über sich ergehen lassen musste, schien ihr das Geld, das Mrs. Stapleton ihr zahlte, immer weniger zu bedeuten.
»Noch ist es nicht zu spät«, sagte Mrs. Stapleton bedeutsam. »Ich bin gewillt, über Ihre Verirrung hinwegzusehen, wenn Sie diesem unsäglichen Fehltritt ein Ende bereiten, Miss Banne. Ehen mit Ausländern gehen niemals gut; seien Sie doch vernünftig.«
Vernunft in Mrs. Stapletons Sinn bedeutete eine endlose Kette an Jahren eingesperrt in kleinen
und größeren Zimmern mit einer zeternden alten Frau. Welcher Arbeitgeber ihr auch nachfolgte, der Höhepunkt eines jeden Tages würde nur das Vorlesen aus den Journalen sein, für das sie dankbar sein musste. Nein, dieser Art von Vernunft wollte Sarah nicht folgen. Was sie auf einen Jahrmarkt wie Bartholomew Fair getrieben hatte – so gewagt das für eine unverheiratete junge Frau auch gewesen sein mochte –, war die Sehnsucht nach mehr gewesen. Auch wenn sie nicht sagen konnte, was genau sie sich unter »mehr« vorstellte.
»Ich werde vernünftig sein«, sagte sie ruhig. »Als verheiratete Frau werde ich meinen Pflichten bei Ihnen nicht mehr zu Ihrer Zufriedenheit nachkommen können, Mrs. Stapleton. Daher gebietet es die Vernunft, meine Stelle bei Ihnen zu kündigen.«


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