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Verliebt in einen Vampir
PROLOG
Pudge blinzelte durch das Zielfernrohr seines Gewehrs. Es war nicht irgendein Gewehr. Es handelte sich um eine Tac Ops Tango 51, die ultimative taktische Präzisionswaffe. Sie wog 10,8 Pfund, war 44,3 Zoll lang, und ihre Maximalabweichung betrug 0,25 Winkelminuten. Zu ihrem Schaft gehörte auch ein halbbreiter Biberschwanz
Er hielt mit seiner lautlosen Rezitation der Beschreibung aus dem Tac-Ops-Katalog inne und warf einen Blick auf die Waffe, denn er war sich nicht ganz sicher, was dieser Biberschwanz eigentlich sein sollte. Es klang beinahe sexy. Biberschwanz. Schwanz. Die ganze Beschreibung der Waffe war irgendwie erregend. Man denke nur daran, wie oft das Wort Schaft erwähnt wurde. Natürlich musste er bei diesem Wort sofort an Sex denken. Na gut, er musste bei den meisten Dingen an Sex denken.
Plötzliches Hupen ließ ihn zusammenzucken, und er hätte das Gewehr beinahe fallen lassen. Also drückte er es beschützerisch an die Brust und starrte auf die dunkle Straße hinunter. Er hatte sich entschieden, aufs Dach des Hauses zu steigen, weil er von dort den besten Blick auf den Parkplatz auf der anderen Straßenseite haben würde. Dabei hatte er allerdings nicht bedacht, dass es hier oben auf dem Dach keinerlei Schutz gab und es so kalt war wie in Alaska im Winter. Wenn Etienne sich nicht beeilte, würde er erfrieren. Pudge verzog unwillig das Gesicht. Wie lange würde der Mistkerl denn noch da drin bleiben? Es war schon nach Mitternacht. Das hier
Scheiße! Der Zahnstocher, auf dem er gekaut hatte, fiel von seinen Lippen, als die Zielperson das Gebäude verließ und auf den Parkplatz zuging. Etienne Argeneau. Und er war allein.
Pudge erstarrte einen Moment, dann ging er in Stellung. Er schaute durch das Zielfernrohr und nahm den Kerl ins Visier, dann zögerte er. Plötzlich bemerkte er, wie schwer er atmete. Er hechelte, als wäre er meilenweit gerannt, und trotz der Kälte schwitzte er gewaltig. Norman Pudge Renberger würde einen Mann erschießen. Und nicht nur irgendeinen Mann, sondern Etienne Argeneau. Seine Nemesis.
Dreckskerl, murmelte Pudge. Mit einem trägen Grinsen richtete er die Laser-Zielvorrichtung seines Gewehrs auf die Brust der Zielperson. Es gab kein Geräusch, als er abdrückte. Er hatte seine Tango 51 mit einem Tac-Ops-Schalldämpfer ausgerüstet, sodass nur ein Pfft zu hören war. Wenn das Gewehr nicht in seinen Händen gezuckt hätte, wäre er vielleicht nicht einmal sicher gewesen, wirklich abgedrückt zu haben.
Schnell richtete er das Zielfernrohr wieder auf Etienne und spähte hindurch. Der Mann war starr stehen geblieben und sah auf seine Brust hinab. War er nun getroffen oder nicht? Einen Augenblick befürchtete Pudge schon, er hätte daneben geschossen, aber dann bemerkte er das Blut.
Etienne Argeneau hob den Kopf. Seine silbernen Augen fanden die richtige Stelle und konzentrierten sich auf den Bereich, wo Pudge auf dem Dach hockte, dann verschwand das Licht aus ihnen, und Etienne fiel aufs Pflaster.
Ja, hauchte Pudge, und ein zittriges Lächeln umspielte seine Lippen. Ungeschickt nahm er das Gewehr auseinander und ignorierte das plötzliche Muskelzittern, als er die Einzelteile in den Kasten zurücklegte. Seine sexy Tango 51 mit ihrem Schaft und dem Biberschwanz hatte ihn fast fünftausend Dollar gekostet, aber sie war jeden einzelnen Penny wert
KAPITEL EINS
Yo, Rach! Ich hol mir einen Kaffee. Willst du auch irgendwas?
Rachel Garrett richtete sich auf und wischte sich mit dem Rücken ihrer behandschuhten Hand über die Stirn. Seit sie vor zwei Stunden zur Arbeit gekommen war, hatte sie zwischen Schüttelfrost und Fieber geschwankt. Im Augenblick befand sie sich wieder in der heißen Phase. Schweiß sammelte sich auf ihrem Rücken und ihrer Kopfhaut. Offenbar brütete sie etwas aus.
Sie schaute zur Wanduhr. Fast eins. Erst zwei Stunden vorbei, und sechs lagen noch vor ihr. Sie hätte beinahe laut gestöhnt. Sechs weitere Stunden. So, wie diese Grippe begann, bezweifelte sie, dass sie auch nur eine halbe Stunde länger durchhalten konnte.
He, alles in Ordnung, Rach? Du siehst wirklich beschissen aus!
Rachel verzog das Gesicht, als ihr Assistent kam und ihr die Stirn fühlte. Beschissen? Männer konnten so taktvoll sein.
Kalt. Feucht. Er sah sie besorgt an und fragte: Fieber und Schüttelfrost?
Es geht mir gut. Verlegen und gereizt schob Rachel seine Hand weg, dann holte sie ein paar Münzen aus der Tasche. Also gut, Tony. Vielleicht kannst du mir einen Saft oder so was mitbringen.
Klar, es geht dir gut.
Rachel erstarrte bei dieser trockenen Bemerkung, denn ihr wurde plötzlich klar, dass sie den Kittel beiseitegeschoben und die Hand in die Hosentasche gesteckt hatte, ohne den blutigen Gummihandschuh auszuziehen. Na wunderbar.
Vielleicht solltest du
Es geht mir gut, sagte sie erneut. Es wird mir gut gehen. Verschwinde.
Tony zögerte, dann zuckte er die Achseln. Na gut. Aber du solltest dich vielleicht hinsetzen oder so, bis ich wiederkomme.
Rachel ignorierte den Vorschlag und wandte sich wieder der Leiche zu, als Tony ging. Tony war ein netter Kerl. Na ja, vielleicht ein bisschen seltsam. Zum Beispiel bestand er darauf, wie ein Goodfella aus der Bronx zu reden, obwohl er in Toronto geboren und aufgewachsen war und die Stadt nie verlassen hatte. Er war auch nicht italienischer Herkunft. Ebenso wenig, wie er wirklich Tony hieß. Sein Geburtsname lautete Teodozjusz Schweinberger. Rachel konnte wirklich verstehen, dass er diesen Namen geändert hatte, aber sie verstand nicht, wieso zu dem neuen Namen offenbar auch ein neuer Akzent gehörte.
Achtung!
Rachel warf einen Blick zur offenen Tür des Hauptraums im Leichenschauhaus. Sie legte das Skalpell hin, zog den Gummihandschuh von der rechten Hand und ging den Männern mit der Bahre entgegen. Dale und Fred. Nette Jungs. Sanitäter, die sie selten zu sehen bekam. Normalerweise brachten sie ihre Kunden lebendig ins Krankenhaus. Selbstverständlich starben einige nach der Ankunft, aber dann waren die beiden für gewöhnlich schon wieder weg. Dieser Patient musste im Krankenwagen gestorben sein.
Hi, Rachel. Sie sehen, äh, gut aus.
Höflich ignorierte sie Dales Zögern. Tony hatte sehr deutlich gemacht, wie sie aussah. Was haben wir denn da?
Dale reichte ihr ein Klemmbrett mit mehreren Blättern. Schusswunde. Als wir ihn vom Tatort wegbrachten, glaubte ich einen Moment, noch einen Herzschlag zu hören, aber vielleicht hab ich mich auch geirrt. Für die Akten ist er unterwegs gestorben. Doc Westin hat ihn für tot erklärt, als wir hier eintrafen, und uns gebeten, ihn hierherzubringen. Sie werden eine Autopsie wollen, die Kugel und so weiter.
Hmm. Rachel blätterte kurz die Formulare auf dem Klemmbrett durch, dann ging sie zum Ende des Raums, um eine der besonderen Bahren aus rostfreiem Edelstahl zu holen, die sie bei Autopsien benutzten. Sie rollte sie zu den Sanitätern. Könnt ihr ihn hierhin legen, während ich unterschreibe?
Klar.
Danke. Sie ließ die beiden arbeiten und ging selbst zu dem Schreibtisch in der Ecke, um einen Stift zu suchen. Nachdem sie die notwendigen Formulare unterschrieben hatte, kehrte sie zu den Sanitätern zurück, die inzwischen die Leiche bewegt hatten. Das Laken, das den Toten auf dem Weg durchs Krankenhaus bedeckt hatte, fehlte jetzt. Rachel blieb stehen und starrte die Leiche an.
Der Neuzugang im Leichenschauhaus war ein gut aussehender dunkelblonder Mann, nicht älter als dreißig. Rachel betrachtete sein blasses, gemeißeltes Gesicht und wünschte sich, sie hätte ihn gesehen, als er noch lebte, und würde wissen, wie er mit offenen Augen ausgesehen hatte. Der Gedanke, dass die Objekte ihrer Arbeit einmal lebendig gewesen waren, kam ihr nur selten. Es machte ihren Job unmöglich, wenn sie sich vor Augen rief, dass die Leichen, an denen sie arbeitete, Mütter waren, Brüder, Schwestern, Großväter
Aber diesen Mann konnte sie nicht ignorieren. Sie stellte sich vor, wie er lächelte und lachte, und in ihrer Vorstellung hatte er silberne Augen, wie Rachel sie in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte.
Rachel?
Sie blinzelte verwirrt und starrte Dale an. Die Tatsache, dass sie jetzt saß, erschreckte sie ein wenig. Die Männer hatten offenbar den Schreibtischstuhl herübergerollt und sie genötigt, sich hinzusetzen. Beide Sanitäter beugten sich besorgt über sie und betrachteten sie nervös.
Ich glaube, Sie wären beinahe ohnmächtig geworden, sagte Dale. Sie schwankten und waren ganz blass. Wie geht es Ihnen?
Oh. Sie lachte verlegen und machte eine beschwichtigende Geste. Mir geht es gut. Wirklich. Aber ich denke, ich brüte etwas aus. Schüttelfrost und Fieber. Sie zuckte die Achseln.
Dale drückte ihr den Handrücken an die Stirn und verzog das Gesicht. Vielleicht sollten Sie heimgehen. Sie glühen regelrecht.
Rachel befühlte ihr Gesicht und stellte erschrocken fest, dass er recht hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Tempo und die Intensität, mit der diese Grippe begann, kein Omen für ihren Verlauf darstellte. Und wenn es wirklich so schlimm werden sollte, konnte sie nur hoffen, sie würde ebenso schnell wieder gesund werden. Rachel konnte es nicht ausstehen, krank zu sein.
Rachel?
Hä? Sie sah die besorgten Gesichter der Sanitäter und zwang sich, aufrecht zu sitzen. Oh, tut mir leid. Ja, ich sollte lieber heimgehen, wenn Tony zurückkommt. Ich habe die Papiere für die Leiche unterzeichnet und alles. Sie holte das Klemmbrett und gab es ihnen mit einem Teil der Formulare zurück. Dale nahm es entgegen, dann warf er Fred einen unsicheren Blick zu. Beide machten den Eindruck, als wollten sie Rachel lieber nicht allein lassen.
Es geht mir gut, wirklich, versicherte sie ihnen. Und Tony ist nur kurz weg, um etwas zu trinken zu holen. Er wird bald wieder da sein. Gehen Sie schon.
Also gut. Dale klang immer noch widerstrebend. Tun Sie uns aber einen Gefallen und bleiben Sie auf diesem Stuhl sitzen, bis er wiederkommt. Wenn Sie ohnmächtig werden und sich den Kopf anschlagen
Rachel nickte. Sicher. Ich werde mich ausruhen, bis Tony zurückkommt.
Dale sah nicht aus, als glaubte er ihr, aber was konnte er schon machen? Er folgte Fred zur Tür. Also gut. Wir verschwinden.
Bis später, fügte Fred hinzu.
Rachel sah ihnen hinterher, dann blieb sie einen Moment still sitzen, wie sie es versprochen hatte. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie ungeduldig wurde. Sie war nicht daran gewöhnt, nichts zu tun. Ihr Blick glitt zu der Leiche auf der fahrbaren Bahre. Eine Schusswunde. Das war selten. Es bedeutete, dass irgendwo in Toronto ein Heckenschütze herumlief. Es bedeutete auch, dass dieser Mann jetzt ihre erste Priorität war. Die Polizei würde die Kugel haben wollen, um Tests damit durchzuführen, was bedeutete, dass sie nicht nach Hause gehen konnte, auch nicht, wenn Tony wieder da war. Zumindest nicht, bevor sie die Kugel herausgeholt hatte. Die offizielle Autopsie würde erst am Morgen stattfinden, aber die Kugel herauszuholen war ihr Job. Als Leichenbeschauerin der Nachtschicht lag das in ihrer Verantwortung.
Sie reckte die Schultern, stand auf und ging zum Tisch. Mit einem Blick auf ihren neuesten Kunden sagte sie: Du hast dir wirklich eine tolle Nacht ausgesucht, um dich erschießen zu lassen, mein Freund.
Sie betrachtete sein Gesicht. Er hatte wirklich gut ausgesehen. Eine echte Schande, dass er tot war aber es war immer eine Schande, wenn Leute starben. Rachel schob diese Gedanken weg, griff nach dem Tisch mit den Instrumenten und rollte ihn zu der Bahre. Sie sah sich die Leiche noch einmal an, bevor sie sich an die Arbeit machte.
Die Sanitäter hatten ihm das Hemd aufgerissen und es dann wieder zusammengeschoben. Er war immer noch vollständig bekleidet und trug einen ziemlich schicken Designeranzug, dessen Preis sie lieber gar nicht wissen wollte. Schöner Anzug. Offenbar ein Mann von Geschmack und Mitteln, stellte sie fest und bewunderte den Schnitt des Anzugs und den Körper darunter. Leider muss ich den Anzug zerschneiden.
Sie griff nach der Schere, die auf ihrem Instrumententablett lag, und schnitt rasch und geschickt die Anzugjacke und das Hemd weg. Rachel hielt inne und betrachtete bewundernd, was sich darunter befand. Normalerweise hätte sie auch Hose und Unterwäsche der Leiche entfernt, aber das Fieber schwächte sie. Ihre Arme fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, ihre Finger waren schlaff und ungeschickt. Sie kam zu dem Schluss, dass es nichts ausmachen würde, wenn sie ihre Routine ein wenig abwandelte. Sie würde mit den Befunden am Oberkörper anfangen, bevor sie die Kleidung von seinem Unterkörper schnitt. Bis dahin würde Tony hoffentlich zurück sein, um ihr zu helfen.
Sie legte die Schere beiseite und griff nach oben, um die Deckenlampe und das Mikrofon so heranzuziehen, dass sie direkt über seiner Brust hingen. Dann schaltete sie das Mikrofon ein.
Der Verstorbene ist
Oh, verdammt! Rachel schaltete das Mikrofon wieder ab. Rasch holte sie die Formulare, die Dale und Fred zurückgelassen hatten, und suchte dort nach einem Namen. Sie verzog missbilligend das Gesicht. Es gab keinen. Er war ein John Doe. Gut gekleidet, aber ohne Papiere. Sie fragte sich, ob das mit dem Verbrechen zusammenhing. Vielleicht hatte man ihn erschossen und ihm die Brieftasche abgenommen. Wieder sah sie den Mann an. Es war wirklich eine Schande, dass er wegen ein paar Dollar tot sein sollte. Was für eine verrückte Welt!
Rachel legte die Formulare wieder hin und schaltete das Mikrofon erneut an. Dr. Garrett bei der Untersuchung des erschossenen John Doe. John Doe ist Weißer, männlich, etwa sechs Fuß vier Zoll groß, schätzte sie jemand würde später genau nachmessen. Er ist ein sehr gesundes Exemplar.
Sie schaltete das Mikrofon wieder ab und ließ sich Zeit, ihn anzusehen. Sehr gesund war eine Untertreibung. John Doe war gebaut wie ein Sportler. Er hatte einen flachen Bauch, eine breite Brust und muskulöse Arme, die zu seinem hübschen Gesicht passten. Rachel hob erst einen seiner Arme hoch, dann den anderen, um sich die Unterseiten anzusehen, dann trat sie mit leichtem Stirnrunzeln zurück. Er hatte nicht ein einziges unveränderliches Kennzeichen. Keine Narben, keine Muttermale. Es gab nichts an dem Mann, was helfen würde herauszufinden, wer er war. Bis auf die Schusswunde über seinem Herzen war er vollkommen makellos. Selbst seine Finger waren perfekt.
Seltsam, murmelte Rachel. Normalerweise gab es mindestens ein paar Narben eine Blinddarmnarbe, kleine Narben an den Händen von alten Verletzungen oder irgendetwas anderes. Aber dieser Mann war vollkommen makellos. Seine Hände und Finger hatten nicht einmal Schwielen. Reich und untätig?, fragte sie sich und sah sich noch einmal sein Gesicht an. Auf klassische Art gut aussehend. Aber keine sonderlich gebräunte Haut. Die Schönen und Reichen waren normalerweise braun von den sonnigen Orten, an denen sie Urlaub machten, oder vom Sonnenstudio.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie mit solchen Spekulationen nur Zeit verschwendete, schüttelte den Kopf und schaltete das Mikrofon wieder ein. John Doe hat keine Narben oder andere Merkmale am vorderen Oberkörper, mit Ausnahme der Schusswunde. Todesursache ist auf den ersten Blick Verbluten durch die erwähnte Wunde.
Sie ließ das Mikrofon eingeschaltet, als sie nach der Pinzette griff, um die Kugel herauszuholen. Das Aufzeichnungsgerät wurde von Stimmen aktiviert, also würde es nur aufnehmen, wenn sie irgendetwas sagte. Später würde sie dann das Band nutzen, um ihren Bericht zu schreiben, und notfalls irgendwelche gemurmelten Bemerkungen auslassen, die für den Fall irrelevant waren.
Rachel vermaß und beschrieb die Schusswunde und machte Angaben zu ihrer Platzierung am Körper, dann führte sie vorsichtig die Pinzette in das Loch ein und bewegte sie langsam und sorgfältig, um zu gewährleisten, dass sie auch dem Weg der Kugel folgte und nicht durch unbeschädigtes Gewebe stieß. Wenig später hatte sie das Geschoss erreicht, packte es und zog es vorsichtig heraus.
Mit einem triumphierenden Ah! richtete sie sich auf, die Kugel in der Pinzette. Sie wandte sich dem Tablett zu, hielt aber gereizt inne, als ihr klar wurde, dass sie keinen Behälter für das Geschoss hatte. Solche Dinge wurden normalerweise nicht gebraucht, und sie hatte nicht daran gedacht, eine Schale bereitzustellen. Leise vor sich hin murmelnd ging sie vom Tisch zu einer Reihe von Schränken, um nach etwas Geeignetem zu suchen.
Dabei fragte sie sich, wo Tony wohl blieb. Er hatte offenbar seine Fünf-Minuten-Pause, um etwas zu trinken zu besorgen, spontan verlängert. Rachel nahm an, dass eine gewisse Krankenschwester, die im fünften Stock arbeitete und die ihren Kollegen in letzter Zeit häufiger aufhielt, ebenfalls beteiligt war. Tony war ziemlich verschossen in die junge Frau und kannte ihre Dienststunden genau. Normalerweise machte er Pause, wenn sie Pause hatte. Wenn sie jetzt in der Cafeteria gewesen war, konnte Rachel sich darauf verlassen, dass er seine volle Pause nahm. Nicht dass sie das störte. Wenn sie nach Hause ging, würde er den Rest der Nacht niemanden mehr haben, der ihn ablöste.
Schließlich fand Rachel einen Behälter, legte die Kugel hinein und trug ihn dann zu ihrem Schreibtisch, um einen Identifikationsaufkleber auszufüllen. Beweisstücke wie dieses Geschoss durften nicht verlegt werden oder in Behältern ohne Etikett herumliegen. Selbstverständlich konnte sie die Aufkleber nicht sofort finden und verschwendete diverse Minuten damit, nach ihnen zu suchen. Dann verdarb sie drei davon, bevor sie endlich einen richtig ausfüllte. All das war ein deutliches Zeichen dafür, dass es ihr heute Nacht wirklich nicht gut ging und dass es eine gute Idee wäre, nach Hause zu gehen. Sie war eine Perfektionistin, und solch kleine Fehler frustrierten sie.
Verärgert über sich selbst und ihren geschwächten Zustand drückte Rachel das Etikett auf den Behälter. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und drehte sich um. Sie vermutete, dass Tony zurückgekehrt war, aber der Raum war leer. Es gab nur sie selbst und John Doe auf der Bahre. Ihr fiebriger Kopf fing offenbar an, ihr Dinge vorzugaukeln.
Rachel streckte die Schultern und stand auf. Sie erschrak, als sie bemerkte, dass ihre Knie ein wenig zitterten. Ihr Fieber schien rasch anzusteigen. Es war, als hätte jemand einen Brennofen eingeschaltet, was sie innerhalb eines Herzschlags vom Schüttelfrost zum Glühen brachte.
Ein Rascheln lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bahre. Befand sich die rechte Hand des Toten noch dort, wo sie das letzte Mal gewesen war, als Rachel hingesehen hatte? Sie hätte schwören können, dass sie diese Hand auf der Suche nach Narben mit der Innenfläche nach unten hingelegt hatte, aber jetzt war sie nach oben gedreht, und die Finger wirkten entspannt.
Rachels Blick folgte dem Arm bis zum Gesicht, und sie zog die Brauen hoch, als sie den Ausdruck des Mannes sah. Er war mit einer starren, beinahe verblüfften Miene gestorben, die im Tod erhalten geblieben war. Aber jetzt wirkte er irgendwie gequält. Oder nicht? Vielleicht bildete sie sich das alles auch nur ein. Sie musste es sich einbilden. Der Mann war tot. Er hatte ganz bestimmt nicht die Hand bewegt oder den Gesichtsausdruck verändert.
Du hast zu viele Nachtschichten geschoben, murmelte Rachel. Langsam ging sie wieder zu der Bahre. Sie musste immer noch die restliche Kleidung der Leiche entfernen und den vorderen Unterkörper untersuchen.
Selbstverständlich würde sie Tonys Hilfe brauchen, um den Mann umzudrehen und sich die Rückseite genauer ansehen zu können. Doch Rachel beschloss weiterzuarbeiten, bis Tony wieder da war. Je eher sie Gelegenheit hatte, nach Hause und ins Bett zu gehen, desto besser. Es war klüger, so viel wie möglich zu erledigen, bevor ihr Assistent zurückkehrte. Was bedeutete, die Hose des Opfers aufzuschneiden. Zu diesem Zweck griff sie nach der Schere, doch dann fiel ihr ein, dass sie noch nicht nach Kopfwunden gesucht hatte.
Es war unwahrscheinlich, dass man ihm in den Kopf geschossen hatte. Zumindest hatte sie keine Anzeichen dafür gesehen. Fred und Dale hätten es ebenfalls erwähnt. Und obwohl sie geglaubt hatten, noch kurz einen Herzschlag wahrzunehmen, war der Mann sicher sofort tot gewesen, als die Kugel sein Herz traf. Dennoch, sie musste sich überzeugen.
Sie ließ die Schere, wo sie war, stellte sich ans obere Ende der Bahre und untersuchte rasch den Kopf des Opfers. Der Mann hatte schönes blondes Haar, so gesund, wie sie es noch nie gesehen hatte. Rachel wünschte sich, ihre eigenen roten Locken befänden sich in halb so gutem Zustand. Als sie nichts fand, nicht einmal die kleinste Schürfwunde, legte sie den Kopf sanft wieder hin und kehrte an die Seite der Bahre zurück.
Wieder griff sie nach der Schere und öffnete und schloss sie, während sie den Bund der Anzughose des Mannes betrachtete. Sie fing nicht sofort an zu schneiden -es war seltsam, aber irgendwie widerstrebte es ihr. Sie hatte seit dem Studium keine Probleme mehr damit gehabt, einem Toten die Hose aufzuschneiden, und konnte sich nicht so recht vorstellen, wieso das jetzt anders sein sollte.
Wieder fiel ihr Blick auf seine Brust. Er war wirklich gut gebaut. Seine Beine würden genauso muskulös sein, dachte Rachel, und bestürzt stellte sie fest, dass sie mehr als nur ein wenig neugierig war. Und genau darin, dachte sie, lag vermutlich den Grund für ihr Zögern. Sie war nicht daran gewöhnt, so etwas zu empfinden, wenn sie eine Leiche untersuchte, und es machte sie verlegen. Mann, dieses Fieber brachte sie wirklich völlig durcheinander!
Selbst blass und leblos war John Doe ein attraktiver Mann. Tatsächlich wirkte er nicht ganz so blass und leblos, wie ihre Kunden normalerweise aussahen. Er sah aus, als hielte er nur ein Schläfchen.
Wieder wanderte ihr Blick zu seinem Gesicht. Sie fand ihn sehr attraktiv, und das war erschreckend. Sich von einem Toten angezogen zu fühlen war ein bisschen krankhaft. Aber Rachel versicherte sich, dass es nur einen weiteren Beweis dafür darstellte, wie langweilig ihr Privatleben war. Ihre Arbeitszeiten machten es schwierig, jemanden kennenzulernen. Während die meisten Leute ausgingen und Spaß hatten, war sie im Krankenhaus. Ja, diese Nachtschichten hatten ihr Liebesleben wirklich ruiniert.
Nicht dass es jemals besonders aufregend gewesen wäre. Rachel war früh hoch aufgeschossen und während der gesamten High-School-Zeit größer gewesen als alle anderen Kids ihrer Altersgruppe. Das hatte sie schüchtern und ungelenk gemacht und dazu geführt, dass sie zu so etwas wie einem Mauerblümchen geworden war. Durch die Nachtschichten im Leichenschauhaus war es nicht einfacher geworden. Aber sie lieferten auch eine praktische Ausrede, wenn jemand nach ihrem nicht-existierenden Liebesleben fragte. Sie konnte leicht dem Job die Schuld geben.
Die Situation musste allerdings ziemlich übel sein, wenn sie sich jetzt schon zu Leichen hingezogen fühlte. Es war wirklich gut, dass sie versuchte, eine andere Schicht zu bekommen. Dieses viele Alleinsein konnte einfach nicht gut für sie sein.
Sie zwang sich, das allzu hübsche Gesicht der Leiche nicht mehr anzusehen, und ließ den Blick über ihre Instrumente schweifen, um wieder einmal zu staunen, dass sie sich ausgerechnet diesen Arbeitsbereich ausgesucht hatte. Sie hatte immer alles gehasst, was mit Ärzten und Arztbesuchen zu tun hatte. Nadeln waren für sie ein Alptraum, und sie war das größte Weichei auf dem Planeten, wenn es um Schmerzen ging. Also hatte sie selbstverständlich ausgerechnet einen Job im Krankenhaus angenommen, wo Spritzen und Schmerzen an der Tagesordnung waren. Rachel nahm an, es handelte sich um eine Art unterbewusster Rebellion, eine Weigerung, sich von ihren Ängsten beherrschen zu lassen.
Gegen ihren Willen schaute sie nun wieder auf John Does Brust. War die Schusswunde kleiner geworden? Sie starrte sie an, dann blinzelte sie, als es aussah, als höbe und senkte sich die Brust.
Halluzinationen, murmelte Rachel und zwang sich, den Blick abzuwenden. Sie hatte eine Kugel aus dem Herzen dieses Mannes gezogen. Er war eindeutig tot. Tote atmeten nicht. Entschlossen, es hinter sich zu bringen, damit sie die Leiche in die Kühlschublade schaffen und aufhören konnte, sich irgendetwas einzubilden, wandte sie sich wieder seiner Hose zu und schob eine Schneide der Schere unter den Stoff.
Tut mir leid. Ich möchte wirklich keine Hose ruinieren, die vollkommen in Ordnung ist, aber
Sie zuckte die Achseln und begann zu schneiden.
Aber was?
Rachel erstarrte, dann riss sie den Kopf hoch. Der Anblick der Augen des Mannes offen und auf sie gerichtet ließ sie aufschreien und nach hinten springen. Weil ihre Knie ohnehin zittrig waren, wäre sie beinahe hingefallen. Entsetzt schnappte sie nach Luft. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder, aber der Kerl lag immer noch da und sah sie an. Das ist nicht gut, sagte sie.
Was ist nicht gut?, fragte er interessiert.
Seine Stimme klang schwach. Aber, he, für einen Toten war selbst eine eher schwach klingende Stimme ein guter Trick. Rachel schüttelte ehrfürchtig den Kopf.
Was ist nicht gut?, fragte die Leiche abermals und hörte sich diesmal schon ein wenig kräftiger an.
Ich habe Halluzinationen, erklärte Rachel höflich, dann bemerkte sie die Augen des Fremden. Sie hielt inne und starrte sie an. Sie hatte noch nie so hinreißende Augen gesehen. Sie waren von einem exotischen Silberblau. Sie hatte noch nie Augen von dieser Farbe gesehen. Tatsächlich hätte sie, wenn man sie gefragt hätte, behauptet, so etwas gebe es gar nicht.
Rachel versuchte sich zu entspannen. Sie hatte sich vorgestellt, seine Augen seien silbern, und jetzt bildete sie sich offensichtlich ein, dass er sie weit geöffnet habe und sie die Farbe sehen könne. Plötzlich hatte sie keinen Zweifel mehr daran, dass sie halluzinierte, und zwar wegen ihrer hohen Temperatur. Oh Gott, das Fieber musste wirklich enorm gestiegen sein!
Die Leiche setzte sich hin und erregte damit erneut Rachels Aufmerksamkeit. Sie sagte sich noch einmal: Es ist eine Halluzination. Das Fieber.
John Doe kniff die Augen zusammen und sah sie an. Sie haben Fieber? Das erklärt es.
Erklärt was?, fragte Rachel, verzog aber sogleich das Gesicht, weil ihr klar wurde, dass sie mit ihrer Halluzination sprach. Was vermutlich nicht schlimmer war, als mit den Toten zu reden, was sie häufig tat. Außerdem hatte die Leiche wirklich eine angenehme Stimme, weich wie guter Whiskey. Sie hätte jetzt nichts gegen einen guten Whiskey. Tee, Zitrone, Honig und Whiskey. Ja, ein Toddy würde ihr wirklich helfen und diesen Halluzinationen ein Ende bereiten. Oder einfach dafür sorgen, dass sie ihr egal waren. Wie auch immer, es wäre eine gute Idee.
Warum kommen Sie nicht zu mir?
Rachel schaute wieder den toten Mann an. Er klang nicht besonders logisch, aber das konnte man von einer Halluzination wahrscheinlich auch nicht erwarten. Sie versuchte, sachlich mit ihm zu reden. Warum sollte ich zu Ihnen kommen? Sie sind nicht wirklich. In Wirklichkeit sitzen Sie nicht mal.
Nein?
Nein, das bilde ich mir nur ein. In Wirklichkeit liegen Sie immer noch da und sind tot. Ich bilde mir nur ein, dass Sie aufrecht sitzen und reden.
Hmm. Er grinste plötzlich. Es war ein nettes Grinsen. Woher wissen Sie das?
Weil Tote sich nicht aufsetzen und reden, erklärte sie geduldig. Bitte legen Sie sich wieder hin. Mein Kopf fängt an, sich zu drehen.
Aber was, wenn ich nicht tot bin?
Rachel stutzte einen Moment, doch dann erinnerte sie sich, dass sie Fieber hatte und er sich nicht wirklich aufgesetzt hatte. Um sich das zu beweisen, machte sie einen Schritt nach vorne und bewegte die Hand über der Bahre. Doch statt ungehindert durch die Luft zu fahren, schlug ihre Hand gegen ein festes Kinn. Die Leiche stieß einen leisen, überraschten Schrei aus, aber das bemerkte Rachel kaum, weil sie gleichzeitig kreischend zurückwich. Die Leiche saß tatsächlich aufrecht!
Der Raum drehte sich um sie, dann wurde es um sie herum immer dunkler. Verdammt, ich werde ohnmächtig, erkannte Rachel entsetzt. Beinahe schuldbewusst sagte sie zu der Leiche: Normalerweise werde ich nie ohnmächtig. Ehrlich.
Etienne sah zu, wie die große Rothaarige umfiel, dann rutschte er vorsichtig von dem kalten Metalltisch und schaute sich um. Er war in einem Leichenschauhaus. Kein Ort, an dem er sich jemals hatte wiederfinden wollen, nicht ein einziges Mal in dreihundert Jahren.
Er schauderte, dann kniete er sich hin, um die Frau genauer zu betrachten. Kaum hatte er ihre Stirn berührt, begann sich jedoch der Raum zu drehen. Das lag an seiner Schwäche. Er hatte viel zu viel Blut verloren erst aus der Brustwunde und dann, als er sich geheilt hatte. Er würde das Blut bald ersetzen müssen, aber nicht mit dem dieser Frau. Sie war offensichtlich krank, was bedeutete, dass ihr Blut ihm wenig helfen würde. Er würde eine andere Quelle finden müssen, und zwar bald. Aber im Augenblick sollte er sein Bedürfnis und seinen schwachen Zustand lieber so gut wie möglich ignorieren. Es gab andere Dinge, die er tun musste.
Etienne strich der Frau das Haar aus dem Gesicht und bemerkte, wie blass sie war. Ihr Kopf war mit hörbarem Krachen aufgeschlagen. Es überraschte ihn nicht, an ihrem Hinterkopf eine Beule und eine Schürfwunde zu finden. Sie würde schreckliche Kopfschmerzen haben, wenn sie aufwachte, aber ansonsten würde es ihr gut gehen. Dass sie relativ unverletzt war, beruhigte ihn ein wenig. Nun konzentrierte er sich darauf, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht an ihn erinnern würde ihre Erinnerung, verbunden mit seinem Verschwinden aus dem Leichenschauhaus, könnte alle möglichen Fragen aufwerfen, die er wirklich nicht gebrauchen konnte. Etienne suchte ihren Geist mit seinem, fand ihn aber seltsam flüchtig. Offenbar konnte er nicht in ihre Gedanken eindringen.
Er runzelte die Stirn über diese seltsame Entwicklung. Die meisten Gedanken fast aller Leute waren für ihn wie ein offenes Buch. Nie zuvor hatte er ein solches Problem gehabt. Mit einer Ausnahme, nämlich im Fall von Pudge, wie er mit einer Spur von Bedauern zugeben musste. Es war ihm nie gelungen, den Schmerz und die Verwirrung im Kopf des Mannes zu durchdringen, seine Gedanken zu erreichen und sein Wissen über die Besonderheiten von Etiennes Familie auszulöschen. Wäre Etienne dazu in der Lage gewesen, dann wäre es nie zu dieser Situation gekommen.
Er gab sich selbst die Schuld. Etienne betrachtete seine Unfähigkeit, den Schmerz und die Trauer in Pudges Kopf zu sortieren, als persönliches Versagen. Pudge hatte in den letzten sechs Monaten sehr gelitten: Er hatte Rebecca verloren, eine Frau, die er geliebt hatte und mit der er verlobt gewesen war. Etienne hatte sie gekannt. Sie war wirklich eine Frau von Format gewesen und so liebenswert wie ein sonniger Sommertag. Wirklich etwas Besonderes. Ihr Tod bei einem Autounfall war in der Tat tragisch gewesen. Er hatte Pudges gesamte Welt erschüttert. Der Tod seiner Mutter wenig später hatte den jungen Mann endgültig in eine Welt des Schmerzes gestoßen.
Etienne war einfach nicht stark genug, um mit dem Burschen zu leiden. Das einzige Mal, als er es versucht hatte, hatte die Trauer, die an Pudges Gedanken zerrte, ihn auf eine Weise berührt, die er sich nicht einmal selbst eingestehen wollte. Er wusste nicht, wie jemand ein solch wundes Herz wie das von Pudge ertragen konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Also hatte er diese Gefühle kaum angetastet und sich traurig und zutiefst deprimiert wieder zurückgezogen. Pudge war diesen Empfindungen jeden Tag vierundzwanzig Stunden ausgesetzt. Etienne hatte schließlich verstanden, wieso sich Pudge auf das Wissen über seinen eigenen übernatürlichen Zustand gestürzt und es benutzt hatte, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Es lieferte ihm so etwas wie einen Schild zwischen sich und seinem Verlust.
Etienne hatte so großes, von Schmerz erfülltes Mitleid für ihn verspürt, dass er sich geweigert hatte, Pudges Gedanken weiter zu durchsuchen und die gefährlicheren Erinnerungen auszulöschen. Aber das hatte ihn gegenüber Pudges Angriffen verwundbar gemacht - eine alles andere als ideale Situation, wie der Mordversuch der letzten Nacht wieder einmal bewies. Es war Zeit, eine andere Taktik anzuwenden. Das Problem bestand nur darin, dass Etienne nicht wusste, was er tun sollte. Pudge zu eliminieren wäre das einfachste gewesen, aber zu solchen Mitteln griffen er und seinesgleichen nur, wenn alle Stricke rissen. Außerdem konnte er nicht akzeptieren, dass er jemanden töten sollte, der so schrecklich litt. Das war, als würde man einen Hund treten, der bereits am Boden lag.
Er schob diese beunruhigenden Gedanken beiseite, betrachtete wieder die Rothaarige und fragte sich, wieso er nicht in ihren Kopf eindringen konnte. Er spürte bei ihre keine Trauer, keinen Schmerz und keinen sich entwickelnden Wahnsinn. Das Einzige, was er fand, war ein Gefühl von unendlicher Einsamkeit, etwas, das Etienne selbst oft verspürte.
Seine Schwierigkeiten mussten damit zusammenhängen, dass er so schwach war. Aber das Fieber der Frau, die Beule und die Wunde am Hinterkopf sollten ohnehin genügen, sie davon zu überzeugen, dass sie halluzinierte. Schon als sie noch bei Bewusstsein gewesen war, hatte sie behauptet, Etienne sei eine Halluzination, also würde das wahrscheinlich ausreichen.
Seine Finger waren blutig, als er ihren Kopf wieder auf den Boden legte. Nach kurzem Zögern hob er die Finger an die Nase und roch den süßen Duft, dann wagte er, an seinen Fingern zu lecken. Er runzelte die Stirn: Die arme Frau brauchte Vitamine oder so etwas; sie war beinahe anämisch. Vielleicht hatte das aber auch nur mit ihrer Grippe zu tun.
Gegen seinen Willen betrachtete er ihren Hals. Er hatte solchen Hunger. Aber er kämpfte gegen die Versuchung an, sie zu beißen, denn ihm wäre nicht damit geholfen, das Blut einer Kranken zu trinken. Und diese Frau war eindeutig krank. Ihre Haut brannte geradezu unter seiner kühlen Hand, und ihr Gesicht war nun rot angelaufen. Der Geruch des Bluts machte ihn dennoch beinahe wahnsinnig und bewirkte, dass sein Körper sich vor Hunger verkrampfte. Seinem Körper war es egal, ob sie krank war und ihm wenig nutzen würde, er roch Blut und wollte es haben.
Er kämpfte gegen seine Instinkte an und richtete sich auf, wobei er sich am Rand des Tischs festhielt, auf dem er gelegen hatte. Wieder begann sich der Raum zu drehen. Er wartete darauf, dass seine Beine kräftiger wurden, als hinter ihm plötzlich die Schwingtür aufging. Ein Mann war hereingekommen und direkt an der Tür wie angewurzelt stehen geblieben.
Wer Der Blick des Mannes wanderte von Etienne zu der Frau am Boden, dann wieder zu Etiennes nackter Brust mit den Blutflecken. Oh Mann!
Zu Etiennes großer Erheiterung sah sich der Mann wild um, dann streckte er den Kaffeebecher aus, als wäre das heiße Getränk etwas Abschreckendes. Was haben Sie mit Rach gemacht? Was wollen Sie hier?
Rach? Etienne warf einen Blick zu der Frau am Boden. Rach. Abkürzung für Rachel. Ein hübscher Name für eine hübsche Frau. Und eine ziemlich kranke Frau. Sie sollte zu Hause und im Bett sein. Er schaute den Mann an. Sind Sie auch krank?
Krank? Der Mann richtete sich ein wenig auf und wirkte nun vollkommen verblüfft. Offensichtlich war das die letzte Frage, die er erwartet hatte. Nein.
Etienne nickte. Gut. Kommen Sie her.
Ich Der Mund des Mannes erstarrte bei der Weigerung, die er hatte aussprechen wollen, dann senkte er die Hände und bewegte sich, als würde er dazu gezwungen. Was natürlich auch der Fall war. Mit dem Kaffeebecher in der einen und einem Becher Orangensaft in der anderen Hand, die er beide kraftlos nach unten hängen ließ, ging er auf Etienne zu, bis er vor ihm stand.
Ich brauche etwas von Ihrem Blut. Eigentlich brauche ich viel Blut, aber ich werde Ihnen nur ein wenig abnehmen, erklärte Etienne. Nicht dass das zählte oder er erwartete, eine Erlaubnis zu erhalten. Der Mann stand einfach schweigend da und glotzte ins Leere.
Etienne zögerte. Er hatte schon lange niemanden mehr gebissen. Seit es Blutbanken gab, war Beißen bei seinen Leuten verpönt. Dennoch, das hier war ein Notfall. Er hatte viel Blut verloren, was ihn sehr schwächte. Er musste etwas trinken, um kräftig genug zu werden, damit er nach Hause gehen konnte.
Er warf seinem Opfer einen entschuldigenden Blick zu, dann legte er ihm die Hand in den Nacken, um seinen Kopf ein wenig zu beugen und den Hals zu entblößen. Der Mann erstarrte und gab ein leises protestierendes Geräusch von sich, als Etienne die Zähne in seine Haut schob, doch dann entspannte er sich mit einem Stöhnen, als Etienne anfing zu trinken. Das Blut war warm, frisch und nahrhaft. Es schmeckte auch viel besser als das kalte Zeug aus Plastikbeuteln, an das er sich gewöhnt hatte. Es erinnerte Etienne an alte Zeiten, und er nahm sich ein bisschen mehr, als er vorgehabt hatte. Erst als sein Spender gegen ihn sackte, zwang er sich aufzuhören. Er setzte den Mann auf den Schreibtischstuhl neben der am Boden liegenden Frau, dann untersuchte er ihn, um sich zu überzeugen, dass er ihm keinen dauerhaften Schaden zugefügt hatte. Was zum Glück nicht der Fall war.
Erleichtert stellte er fest, dass das Herz des Mannes gleichmäßig und kräftig schlug. Er nahm sich die Zeit, die Erinnerungen des unfreiwilligen Spenders zu löschen, dann richtete er sich wieder auf und bemerkte einen Behälter auf dem Schreibtisch. Sofort erkannte er den Gegenstand darin als Kugel. Unwillkürlich legte er die Hand an die Brust und rieb sich über die immer noch heilende Wunde, dann griff er nach dem Behälter und sah sich das Etikett an.
Das hier war die Kugel, die sein Herz aufgehalten hatte. Dass die Frau sie aus seinem Körper geholt hatte, hatte seine Heilung ermöglicht. Ansonsten läge er immer noch auf dem Tisch. Diese Kugel war ein Beweis seiner Existenz, den er nicht zurücklassen durfte. Also steckte er sie ein und sah sich noch einmal um. Als er die Formulare fand, die die Sanitäter zurückgelassen hatten, wurde ihm klar, dass er auch diese Männer finden und das Ereignis aus ihrer Erinnerung löschen musste und außerdem ihre Kopien der Formulare brauchte. Wahrscheinlich gab es auch noch Polizeiberichte und andere Dinge, um die er sich kümmern musste. Das würde ein größeres Unterfangen sein, als ihm lieb war, und eines, bei dem er Hilfe bräuchte. Er verzog das Gesicht. Er würde Bastien um Hilfe bitten müssen, was bedeutete, dass die Familie es erfahren würde, aber das konnte er nicht vermeiden. Dieser Vorfall musste aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit entfernt werden.
Resigniert zuckte er die Schultern. Er nahm sein zerfetztes Hemd und die Anzugjacke und sah sich ein letztes Mal schnell um, um sich zu überzeugen, dass nichts von ihm zurückbleiben würde. Dann lieh er sich einen Laborkittel, der an einem Haken neben der Tür hing. Er zog ihn an, fand eine Plastiktüte für die Kugel und seine ruinierte Kleidung und verließ rasch das Leichenschauhaus.
Bastien würde ihm helfen müssen, alles zu bereinigen. Etienne hoffte nur, dass sein älterer Bruder ihrer Mutter nichts sagen würde. Marguerite würde durchdrehen, wenn sie erfuhr, was geschehen war. Sie hatte kurz nach Etiennes Versuch, Pudges Gedanken zu beeinflussen, eine gewisse Ahnung vom Leiden dieses jungen Mannes erhalten, und da sie eine sehr weichherzige Frau war, hatte sie zugestimmt, Pudge nicht zu töten. Aber sie hatte leider auch keine andere Lösung anbiete n können und sich darüber geärgert, dass Etienne ebenfalls nichts Brauchbares eingefallen war.
Mit unwilliger Miene verließ Etienne schließlich den Keller des Krankenhauses. Er hasste es, wenn er bei irgendetwas versagte.
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