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Die Verwandlung
Ich habe einmal einen Zeitungsartikel gelesen, in dem eine Umfrage über Ängste zitiert wurde. Diese besagte, dass die Amerikaner zwischen 18 und 65 Jahren am meisten Angst davor haben, in der Öffentlichkeit eine Rede zu halten. An zweiter Stelle stand die Angst vor Spinnen, an dritter Stelle mit großem Abstand der Tod. Ich habe vor allen diesen Dingen Angst. Aber am meisten fürchte ich mich davor, zu versagen.
Ich bin kein Feigling. Das will ich auf jeden Fall klarstellen. Aber mein Leben hat sich in wenigen Tagen von eigentlich ziemlich perfekt in einen Horrorfilm verwandelt, und daher hat das Gefühl von Angst für mich eine ganz neue Bedeutung gewonnen.
Meinen Plan, was ich alles im Leben erreichen wollte, habe ich zielstrebig und fast bis ins Detail verfolgt und nur einige kleine Umwege zugelassen. Ich bin von der kleinen Ms. Carrie Ames zu Ms. Doktor Ames aufgestiegen, das war nur acht Monate vor dieser Nacht, die ich jetzt als Die große Veränderung bezeichne. Ich bin aus dem verschlafenen Städtchen an der Ostküste, in dem ich aufgewachsen bin, ausgebrochen, um mich schließlich in einer verschlafenen Stadt mitten in Michigan wiederzufinden. Dort hatte ich eine Planstelle in der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses. Die Stadt an sich und die umliegenden Dörfer boten mehr als genug Gelegenheiten, Verletzungen, die von urbanem Kriegsgeschehen oder tückischen Landmaschinen herrührten, kennenzulernen und zu behandeln. Da ich tat, was ich mir immer erträumt hatte, war ich mir nie so sicher wie damals, dass ich erfolgreich war und mein Schicksal fest im Griff hatte, was mir in meinen wilden College-Jahren nie gelungen war. Aber natürlich werden auch Städte mitten in Michigan irgendwann langweilig, besonders in den kalten Winternächten, wenn es so frostig ist, dass sich noch nicht einmal der Schnee vor die Tür trauen würde. Und in genau solch einer Nacht, in der ich nach einer grauenhaften Zwölf-Stunden-Schicht nur für knapp vier Stunden nach Hause gefahren war, stand ich schon wieder im Krankenhaus, um mitzuhelfen, einem Strom neuer Patienten Herr zu werden. Die Notaufnahme war für so einen eiskalten Abend erstaunlich voll, aber die drohenden Feiertage schienen alle Menschen, die noch einen Pulsschlag hatten, hinauszulocken. Wie immer hatte ich es meinem verdammten Schicksal zu verdanken, dass ich es in dieser Nacht nur mit den schwersten Fällen zu tun bekam, mit Patienten, die schwere Verletzungen hatten oder unter Krankheiten litten, die sie in unmittelbare Lebensgefahr brachten. Oder, um präziser zu sein, mit Unmengen konsumwütiger Besucher von Einkaufszentren, die in ihren Einzelteilen eingeliefert wurden, nachdem sie auf der 131 nach Süden in vereisten Kurven von der Fahrbahn abgekommen waren.
Nachdem ich drei Patienten aufgenommen hatte, stellte ich fest, dass ich dringend Nikotin brauchte. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, meinen Kollegen noch mehr Einlieferungen aufzubürden, schlich ich mich hinaus, um mir eine kurze Zigarettenpause zu gönnen.
Ich ging in Richtung Rampe für die Krankenwagen, als John Doe eingeliefert wurde.
Dr. Fuller, der diensthabende und dienstälteste Arzt des Krankenhauses, lief neben einer Krankentrage her und bellte Befehle. Dabei fragte er die Rettungssanitäter in seinem breiten texanischen Slang aus.
Abgelenkt von der Tatsache, dass sich Dr. Fullers sanfter Südstaaten-Tonfall in ein hohes abgehacktes Stakkato verwandelt hatte, beachtete ich den Patienten auf der Liege nicht. Noch nie zuvor hatte ich meinen Vorgesetzten dabei erlebt, wie er seine Gelassenheit verlor. Ich war erschrocken.
Carrie, hilfst du uns jetzt oder bist du auf dem Weg ins Marlboro-Land?, schrie er mich an und erschreckte mich damit noch mehr. Als ich einen Satz zur Seite machte, zerbrach die Zigarette zwischen meinen Fingern so, dass der trockene Tabak auf die Erde rieselte. Meine Pause war nun offiziell für beendet erklärt.
Ich wischte mir die Hände an meinem Kittel ab und lief neben der Trage her. Erst dann sah ich, in welchem Zustand sich der Patient befand.
Sein Anblick versetzte mich in noch größeren Schrecken, während wir den Vorraum erreichten und die Rettungssanitäter hinausgingen, um den Intensivschwestern Platz zu machen.
Okay, meine Damen, ich hätte gern Mundschutz, OP-Kittel, eine Schutzbrille die ganze Verkleidung. Und zwar schnell, bitte!, kommandierte Fuller, während er sich aus seinem blutverschmierten Kittel schälte.
Ich wusste, dass ich etwas tun musste, um ihn zu unterstützen, aber ich konnte mir nicht helfen, immerzu musste ich auf die Schweinerei vor mir auf der Trage schauen. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich mit medizinischer Hilfe hätte anfangen sollen.
Blut ist zum Beispiel etwas, vor dem ich keine Angst habe. Im Fall von John Doe war es nicht die Menge an Blut, die es unmöglich machte, ihn zu berühren geschweige denn, sich ihm zu nähern. Sondern die Tatsache, dass er aussah wie der Leichnam, den ich am letzten Tag meines Anatomie-Kurses an der Uni seziert hatte.
Seine Brust war mit Wunden durchlöchert. Einige waren klein, andere so groß, dass zwei Tennisbälle hineingepasst hätten.
Schusswunden? Womit wurde auf ihn geschossen, mit einer verdammten Kanone aus dem Museum?, murmelte Dr. Fuller, als er vorsichtig eine Wunde mit seinem behandschuhten Finger betastete.
Man brauchte keinen Doktortitel in forensischer Medizin, um sagen zu können, was die Wunden am Körper unseres John Doe verursacht hatte. Und dass es etwas anderes war als das, was für die Verletzungen in seinem Gesicht verantwortlich war. Sein Kiefer, beziehungsweise das, was davon noch übrig war, war von den oberen Schneidezähnen abgetrennt und die Haut hing schlaff herunter. Sein Kinn war aus dem Gelenk gerissen und klebte an der anderen Seite seines Kopfes. Über dem klaffenden Loch in seiner Wange war eine Augenhöhle eingequetscht und leer, das Auge sowie der Sehnerv fehlten vollständig.
Ich würde sagen, dass ihm jemand eine Axt über den Schädel gezogen hat, wenn ich glauben könnte, dass ein Mensch genug Kraft dazu hätte, sagte Dr. Fuller. So können wir ihn nicht intubieren, seine Trachea ist völlig zerstört.
Ich bekam keine Luft. John Does verbleibendes Auge, klar und hellblau, sah mich an, als sei er bei vollem Bewusstsein.
Es musste sich um eine optische Täuschung handeln. Niemand konnte diese Art von Verletzung erleiden und dabei bei Bewusstsein bleiben. Diese unglaublichen Verletzungen würde kein Mensch überleben. Er schrie nicht und wand sich nicht in Schmerzen. Sein Körper war schlaff und zeigte keinerlei Reaktion, als die Ärzte einen Luftröhrenschnitt vornahmen, um ihn zu intubieren.
Er sah mich immer noch an.
Wie kann er noch leben?, fragte ich mich. Das Konzept, dass ich mir mit großer Mühe über die drei Jahre meiner Ausbildungszeit ausgedacht hatte, wurde von einem auf den anderen Moment zerstört. Menschen können so etwas einfach nicht überleben. So ein Fall stand in keinem meiner Bücher. Aber dennoch lag dieser Mann hier und sah mich ruhig an, während um uns herum alle hektisch an ihm herumhantierten.
Für einen Moment, während dem sich fast mein Magen umdrehte, dachte ich, ich hätte gehört, wie er meinen Namen sagte.
Copyright: 2006 by Jennifer Armintrout, für die deutsche Übersetzung: 2007 by Cora Verlags GmbH & Co KG, Übersetzung: Martha Windgassen
© http://www.andrae-martyna.de
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