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Besessen
"So, die Sonne ist längst untergegangen, ich geh besser nach unten und verdiene mein Brot. Kommst du heute Nacht arbeiten? Es sind neue Bücher gekommen, die aufgenommen werden müssen."
"So verführerisch es klingt, nein." Ich hatte in Nathans Esoterik-Buchladen schon genug unbezahlte Stunden abgedient, um mehrere Leben damit zu füllen. Ich konnte gut darauf verzichten, schon wieder das neueste Buch der Schatten oder irgendwelche Kräuterbündel einzusortieren. Ich deutete auf den Computer. "Ich muss das fertig machen, bevor es mich in den Wahnsinn treibt."
"Und mich erst." Nathan zog eine Grimasse. "Wenn du mal wieder verrückte Experimente machen willst, such dir jemand anderen als Laborratte."
Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, als er ging. Gewöhnlich schloss er ab, aber ich hörte kein Schlüsselgeräusch.
Vampire nehmen das Band zwischen dem Schöpfer und seinem Zögling genauso ernst wie Menschen das Verhältnis zwischen Eltern und ihrem Kind. Nathan war normalerweise ängstlich und übervorsichtig um meinen Schutz besorgt. Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, dass etwas nicht stimmte. Solche Gedanken sind wie Spinnenbisse: Hast du erst einmal gekratzt, infiziert sich die Stelle und die Vergiftung breitet sich aus. Ich brauchte keine Nacht auf heißen Nadeln, in der ich beim kleinsten Geräusch immer wieder aufsprang.
Ich knipste den Monitor an und hoffte, die medizinische Fachsprache würde mich auf andere Gedanken bringen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Mein Unbehagen wuchs, meine Handflächen wurden feucht und ich spürte ein Kribbeln in meinem Magen. Ich hakte die Symptome im Kopf ab und erkannte erst dann die körperlichen Anzeichen des Flight-or-Fight-Syndroms.
Kämpfe oder flieh.
Diese uralte Reaktion auf Angst hatte sich langsam in mir aufgebaut, aber ich war nicht in unmittelbarer Gefahr. Mein Herz hämmerte panisch in meiner Brust, während ich in mein Spiegelbild hinter den Worten auf dem Bildschirm starrte. Meine Pupillen waren erweitert. Mein Gesicht fing an, sich zur Monsterfratze zu verziehen. Ich stand auf und zwang mich zur Ruhe. Es gab keinen Grund, sich so zu fühlen.
Es sei denn, die Ursache war das Blutsband.
Nathan.
Wie von der Tarantel gestochen, rannte ich aus dem Zimmer und riss dabei den Bürostuhl um. Unsere Wohnung lag im obersten Stock von Nathans Haus. Der Buchladen befand sich im Keller. Ich raste die Stufen hinab, so schnell ich konnte, fing mich am Geländer, als meine Füße sich verhedderten. Die Tür im Parterre schien Lichtjahre entfernt. Ich stürzte hindurch und auf die Straße. Die kühle Luft der Frühlingsnacht verschlug mir den Atem.
Dann kam der Schmerz, und ich vergaß das Atmen.
Das Blutsband war verschwunden. Es war nicht so, als ob Nathan seine Gedanken vor mir abschirmte. Das hatte sich immer wie eine Mauer angefühlt. Doch dies hier war
absolute Leere. Normalerweise war das Blutsband wie eine straff gespannte Leine zwischen uns gespannt, doch jetzt hing ein Ende einfach schlaff herab.
Nathan war tot.
Ich packte das schmiedeeiserne Geländer und bewegte mich langsam auf das obere Ende der Treppe zu, die vom Bürgersteig hinab in den Laden führte. Mondlicht beschien zersplittertes Glas am Boden. Was immer Nathan erwischt hatte, es war durch ein zerbrochenes Fenster hineingekommen.
Besorg dir eine Waffe. Hol Hilfe. Doch mein Herz war stärker als mein Verstand. Ich musste zu meinem Schöpfer.
Außer mir vor Angst stürzte ich hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal. Im hinteren Bereich des Ladens flackerte noch ein Licht wie im Todeskampf. Fluoreszierende Reste der pulverisierten Leuchtröhren waren über den Boden verteilt. Hier und da sprühten aus durchgebrannten Kabeln Funken von der Decke wie Schneeflocken.
Die Tische, auf denen normalerweise stilvoll Kristalle, Tarotkarten und ähnlicher New-Age-Kram präsentiert wurden, waren völlig zerstört. Zersplittert lagen sie am Boden und begruben die Waren, die sie getragen hatten. Rechts von mir war die Vitrine im Tresen eingeschlagen. Ich wusste, dass Nathan im Regal dahinter eine Axt aufbewahrte. So leise wie möglich bewegte ich mich in diese Richtung, aber all das Glas knirschte unter meinen Schuhen. Im Labyrinth der Bücherregale hinter mir scharrte etwas.
Das Geräusch ließ mich für einen Moment erstarren. Ich wog die Entfernung zur Tür gegen meine Chancen, mich erfolgreich mit einer Axt zu verteidigen. Dann ließ ich jeden Gedanken an Flucht fahren. Ich konnte Nathan nicht im Stich lassen, nicht, wenn es auch nur die leiseste Hoffnung gab, ihn zu retten.
Die letzten paar Schritte sprintete ich zum Regal und schnappte mir die Axt, packte sie fest am Stiel und versuchte Mut in meine steifen Finger zu pumpen. Was immer hier eingebrochen war, es war noch im Laden.
Meine Nackenhaare richteten sich auf. Das Ding, das sich im Schatten verbarg, knurrte.
Die Uhr hinter dem Ladentisch schlug. Ich fuhr zusammen. Die Kreatur stürzte sich auf mich.
Mein Kopf schlug hart auf den Boden, als das Ding mich niederwarf und ein Feuerwerk aus Schmerz in meinem Bewusstsein explodierte. Der Geruch von Nathans Blut, sonst ein willkommener, vertrauter Duft, füllte meine Nase mit saurem Dunst, und ich würgte. Mit zusammengekniffenen Augen spannte ich alle meine Muskeln an und versuchte, mich nicht zu übergeben.
Das Gewicht des Dings, das mich niederdrückte, verschwand. Ich machte die Augen auf und sah es gerade noch über den Tresen springen. Sein rasselnder Atem übertönte beinah die immer noch schlagende Uhr.
"Nathan?", kreischte ich und erkannte meine Stimme in ihrer Panik kaum wieder. Erneut schrie ich seinen Namen und bekam keine Antwort.
Mit glasklarer Bestürzung erkannte ich, dass Nathan mir nicht zu Hilfe kommen konnte. Ich war allein mit dieser Kreatur und elendig schlecht für meine Verteidigung ausgerüstet.
Ein lautes Fauchen war hinter dem Tresen zu hören, und in nacktem Entsetzen schleuderte ich die Axt danach. Sie traf die Registrierkasse, fiel zu Boden und lag nun außerhalb meiner Reichweite.
Ich war allein. Unbewaffnet. Und dann auch noch unverzeihlich dumm.
Mir blieb keine Zeit für Selbstvorwürfe. Die Kreatur sprang mich über die Tresenplatte an. Mein Atem entwich mit lautem Zischen, und durch einen Schleier aus Schmerz sah ich über mir das Ding, das mich niederdrückte.
Ein Mann. Ein nackter, blutender Mann.
Die Kreatur hatte Nathan nicht umgebracht. Die Kreatur war Nathan.
Sein Gesicht hatte sich zur Raubtierfratze verzerrt. Seine Augen waren kalt, und er erkannte mich nicht. Mit einer Faust umklammerte er eine bluttriefende Glasscherbe. Blutige Symbole verunstalteten seine Arme und seine Brust, und mir wurde aufs Neue übel, als ich begriff, dass er sie sich selbst ins Fleisch geschnitten hatte.
Er neigte den Kopf in meine Richtung, und ich wandte mich ab. Er beugte sich herunter, bis sein Atem die Haare an meiner Schläfe bewegte, und schnupperte an mir. Mit deutlichem Knurren hob er die Scherbe hoch über seinen Kopf.
"Nathan, bitte nicht", flüsterte ich, aber ich wusste, er konnte mich nicht hören. Dieses Ding war nicht Nathan. Es war ein Monster mit dem Gesicht meines Schöpfers.
Die Scherbe stieß herab, und ich zuckte zusammen, als sie auf dem Boden neben meinem Kopf zersprang. Aus seiner zerschnittenen Handfläche sprühte warmes, frisches Blut über mein Gesicht. Er ergriff mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Dann krächzte er etwas in einer Sprache, die sich gefährlich anhörte, doch ich verstand kein Wort. Abrupt stand er auf und bewegte sich von mir weg.
Obwohl ich mich in Sekundenschnelle aufsetzte, war er verschwunden, bevor ich ihn hinausgehen sah. Der einzige Beweis für seine Anwesenheit waren die blutigen Fußabdrücke auf der Treppe zur Straße.
Zitternd hob ich eine Hand, als wollte ich nach ihm greifen. Sie war nass von seinem verunreinigten Blut. Normalerweise tröstete mich der Geruch von Nathans Blut. Jetzt aber war es von irgendetwas verdorben, und mir wurde schlecht von dem Gestank. Ich zog mir das T-Shirt über die Nase und kroch zur Tür. Glasscherben stachen in meine Arme, doch ich fühlte sie kaum.
Wie ein Zombie stolperte ich die Treppen zur Wohnung hinauf. Das Blut, das aus meinen zerschnittenen Händen tropfte, nahm ich kaum wahr. Meine Geistesgegenwart kehrte so weit zurück, dass ich die Tür aufschließen konnte und den Riegel hinter mir vorlegte. Dann ging ich in Nathans Zimmer, setzte mich auf die Bettkante und packte das schnurlose Telefon. Ich wählte mechanisch und fixierte eine Teppichfalte nahe der Kante des Läufers.
"Harrison." Max am anderen Ende der Leitung klang unbeschwert. Ich wollte sein, wo er war, und nichts von dem wissen, was ich eben gesehen hatte.
"Hier ist Carrie." Ich schluckte, die Zunge in meinem Mund fühlte sich geschwollen an. "Ich brauche dich."
Copyright: 2007 by Jennifer Armintrout, für die deutsche Übersetzung: 2008 by Cora Verlags GmbH & Co KG, Übersetzung: Lisa Kuppler
© http://www.andrae-martyna.de
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